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Analogie zur Infektionslehre?
In der Gegenwart der Psychotraumatologie blieb weiterhin unentschieden, ob man auf das Psychotrauma eine Analogie zur Infektiologie anwenden dürfe. War es in den späten 1970er Jahren Taktik, als die Psychologie (in den USA) unter den Schutzschirm der Medizin schlüpfte, weil ihr Ruf durch therapeutische Beliebigkeiten ramponiert erschien oder lag es im Denken von der Seele begründet, dass eine medizinische Terminologie historisch die einzig zur Verfügung stehende Sprache war? Jedenfalls findet in dieser Zeit eine Wandlung statt: Probleme werden zu Psychopathologie, Schwierigkeiten des Lebens werden zu Störungen oder Syndromen, Epidemien (z.B. von Depressionen) treten auf, Individuen werden wieder zu Patienten und Einschätzungen werden zu Diagnosen (Dineen, 1999).
Dazu drängt der Pharmakomplex Psychiatrie und Psychotherapeuten zur Medikalisierung, d.h. Verabreichung von Medikamenten. Das Bündnis aus Psychotherapie, Psychiatrie, Pharmakomplex, Versicherungswirtschaft und Militärkomplex gibt dann nach heftigen Geburtswehen 1980 das DSM-III heraus, in dem wir die neuen Wandlungen nachschlagen und unser Denken neu justieren können.
So gäbe es wohl einige Indizien, auch außerhalb taktischer Spielchen von Berufsverbänden, die dem psychosozialen Trauma einen infektiösen Charakter zusprächen, aber damit hätte das Psychotrauma seinen besonderen und immer wieder beanspruchten Entstehungs- und Wirkungsmechanismus eingebüßt. Und das hätte die Sonderstellung des psychosozialen Traumas als seelischem Prozess in cartesianischer Herkunft und Prägung durch Materialisierung in Frage gestellt. Daher durfte man wohl in Bildern von Infektion denken, jedoch sich in der Öffentlichkeit stets mit dem Zusatz äußern, ein Trauma verliefe nicht nach den Regeln der Infektionslehre. Psychotrauma sei, wegen seiner existenziellen Dimensionen etwas grundlegend anderes als z. B. eine Erkältung. Selbst eine Tetanusinfektion erreiche nicht die Bedeutung einer individuellen Welterschütterung durch schmerzhafte Gewaltauslöser. Man könne das Psychotrauma wegen der zu beobachtenden Latenz und der sekundären Somatisierung mit der Syphilis vergleichen, aber den Verlauf nicht gleichsetzen.
Selbstverständlich liegt dem Psychotrauma eine äußere Einwirkung aus dem sozialen Raum zugrunde, zumeist eine Maßnahme der Willkür und Gewalt, mit einem Wort: der Dummheit. Intendierte wie nicht intendierte Willkürmaßnahmen können ähnliche Folgen haben. Der Vorsatz einer Gewalthandlung mag für die Intensität der ausgebildeten Symptome eine Rolle spielen. Es ist jedoch unklar, ob nicht intendierte Gewalt oder Demütigung zu Symptomatiken geringerer Eindringtiefe führt. Der Double-bind (gegensätzliche Empfindungen kommunikativ auslösend) in der Entwicklung eines Menschen nimmt hier eine Sonderstellung ein, weil er mit langen Latenzen verbunden sein kann. Posttraumatische Befindlichkeiten sowie unverarbeitete Folgephänomene können nach der Vorstellung der (impliziten) Weitergabe (als Hypothese) auf die nächste, ja übernächste Generation übertragen werden. Dies geschehe zwar nicht in gleicher Weise, jedoch wird dem Kommunikationsstil eine pathogene Wirkung zugeschrieben. Dabei kann es sogar zu Symptomähnlichkeiten kommen oder zu Beschränkungen der Entwicklung der folgenden Generation durch posttraumatische (nicht selten aggressiv-gehemmte) Impulse. Bestimmte massive „extreme“ Erlebnisse generieren ein Verhalten, das Auswirkungen auf Stil und Inhalte von Erziehung entfaltet, oftmals ohne von einem Bewusstsein begleitet zu sein.
Selbstverständlich ist der individuelle Körper der Ort, in dem sich traumatische Erlebnisse einnisten und ihr Wesen treiben.
Keine Infektionserkrankung mit einem Erreger nimmt denselben Verlauf wie eine andere mit dem gleichen Auslöser. Zwar mögen Fieber und Abgeschlagenheit Hauptzeichen sein, in der Auswirkung dieser Hauptzeichen auf den Gesamtorganismus unterscheiden sich die individuellen Fälle zum Teil beträchtlich.
Ein lebendiger Organismus steht immer in Wechselwirkung zu äußeren Wirkkräften. Dabei kommt es nicht nur zu Veränderungen des Organismus, auch die aktiven und pathogenen Agentien, seien sie chemischer oder organischer Natur, verändern ihre Form, Struktur und ihre weitere Existenz. Etwas, das Wirkung in einem Organismus entfaltet, bleibt nicht im selben Status wie vor der Wirkungsentfaltung. Das erscheint banal, ist aber die Voraussetzung für das Verständnis traumatischer Erlebnisse und vor allem des Prozesses der Verarbeitung und Integration traumatischer Erlebnisse in bewusste, d.h. aussprechbare Erfahrung.
Die Infektiologie hat mehrere Phänomene der Immunologie definierend hervorgebracht. Es handelt sich dabei um Abwehrmechanismen, die abhängig sind von einer primären Begegnung oder einem primären Kontakt mit einem Stoff oder einem Erlebnis. Sie können je nach individueller körperlicher Lage zu heftigen Reaktionen führen, die bis zum Schock reichen. Sie können ein Allergen aber auch adäquat entschärfen. Dabei bewirken „Fresszellen“ eine Ent-Schädigung, die dem Betroffenen unbewusst bleibt, d.h. der beginnende infektiöse Prozess wird nicht oder kaum wahrgenommen. Dieser Vorgang gelingt mit spezifischen und unspezifischen Abwehrmechanismen täglich mehrmals und ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Das bedeutet, auf die Ebene der Erlebnisse übertragen, dass ein Großteil verletzender Erlebnisse nicht das Bewusstsein erreicht (oder nur kurz streift), sondern unbewusst entsorgt wird. Da wir noch nicht wissen, welche Erlebnisse zu welchen stofflichen Kaskaden bei unterschiedlichen Individuen führen, können wir das Infektionsmodell nicht eindeutig ausschließen und müssen uns derzeitig mit Analogien behelfen.
Ob Bakterien, Viren oder Bedrohungsszenarien als Erreger auftreten, die Abwehrreaktion erscheint verwandt, wenn man die unmittelbare vegetative Reaktionskette in den Blick nimmt, die heute unter Stressantwort zusammengefasst wird. Blutdrucksteigerung, Schwitzen, Erhöhung des Hautwiderstands, Herzfrequenzerhöhung, Temperatursteigerung, trockene Schleimhäute und der Unfähigkeit zu bewusstem Handeln treten sowohl bei Stress als auch bei bakteriellen, fieberhaften Infekten auf. Die primäre Reaktion zeigt ähnliche Muster. Ist das Primärstadium überwunden, wird das posttraumatische Stadium vom Gehirn. d.h. dem Gedächtnis beherrscht. Ein bedeutsamer Unterschied, der die Rolle der Psyche rettet, ist die Beobachtung, dass nach „Erlebnisinfektionen“ offenbar keine Immunität gegen erneute Erlebnisse derselben Art resultiert, wie sie bei Virusinfektionen festgestellt werden kann. (Das ist vermutlich falsch: Richtig erscheint vielmehr, dass erneute Traumata zu einer Kumulation der Ausprägung der Symptome führen können wie auch zu einer Entschärfung der posttraumatischen Symptome, indem sich über Ressourcen, antitraumatische Abwehr und sichere posttraumatische Szenarien eine relative Stabilität gegen wiederholte Traumata gebildet hat oder in Bildung begriffen ist.)
Eine unspezifische und eine spezifische Antwort des Körpers, der einem Trauma ausgesetzt ist, ist derzeit noch außerhalb gesicherter Erkenntnisse. Als Tatsache mag gelten, dass die posttraumatische Umgebungsreaktion einen bedeutsamen Einfluss auf den Verlauf der Integration nimmt. Ressourcen und Sicherung des Ich-Kerns sind zwar derzeit noch bloße Metaphern einer unspezifischen Reaktion auf traumatisierende Wahrnehmungen. Sie betonen aber die sozialen Komponenten einer gelingenden Bearbeitung traumatischer Erlebnisse. Hormonelle und andere stoffliche Kaskaden oder enzymatische Prozesse, über die intensiv geforscht wird, haben zurzeit noch den Rang von Bausteinen.
Vielfach suchen die Kulturwissenschaften nach Sinnfragmenten, die als spezifische Abwehr gedeutet werden könnten, wenn sie als gesellschaftliche Komponenten von Individuen inkorporiert werden (wie etwa Religion, ethische Regeln, Männer/Frauenbild u.a.) und somit zumindest einen ersten Wall gegen traumatische Angriffe darstellen. Freilich endet hier eine Analogisierung zum Infektionsmodell, denn noch niemand hat nach dem Sinn einer Infektion gefragt.
Die Sensibilisierung durch traumatische Erlebnisse führt zumeist eher zu größerer Heftigkeit der Reaktionen. Gegen existenziell bedrohlichen Stress gibt es keine Immunität. Die Spezifität der Antikörperbildung gibt es für erlebnisbedingten Stress nicht, soweit heute bekannt ist, obwohl auch für wiederholte traumatische Erlebnisse zentrale Eiweiße und Hormone, qualitativ und quantitativ, umgebaut werden, die einer Anpassung im Sinne von Antikörpern entsprechen könnten. Wenn diese Umwandlungen einmal erforscht sind, dann mögen sie eine relative Spezifität für Aspekte eines wiederholten Traumas einnehmen. Ich vermute, dass die pharmakologische und sicher auch militärische Forschung sich auf diese Prozesse fokussiert, die dann auch therapeutische Konsequenzen haben könnten.
Wenn man manche Analogien zu psychischen Traumata zu weit treibt, dann landet man leicht bei einer Analogie zur Sepsis, als die eine überwältigte Abwehr im psychischen Bereich immer noch gedeutet wird. (In einem solchen Fall bildet der Therapeut die Analogie zum Penicillin.) Das traumatisierte Individuum habe nicht die Mittel einer adäquaten Abwehr, es werde durch Wahrnehmungen von Willkür und Gewalt überfordert, es könne nur noch vegetativ reagieren. Zugleich – und das gibt zu denken – sei die Überwältigung der Abwehr eine zutiefst menschliche Reaktionsweise auf einen plötzlichen, unerwarteten und heftigen Stimulus. Die wesentliche Frage ist hier nun, wer für die Rehabilitation durch Traumata beschädigter Menschen zuständig ist, wenn die schädlichen Erlebnisse aus der Gesellschaft stammen. Sind es Experten, Freunde und Verwandte? Und welche Forderungen sind an sie zu richten, damit Besänftigung eintreten kann?
Verantwortung
„The psychological pathology of the individual, the microcosmos, has a mirror image in the moral pathology of the collectivity, the social macrocosmos. The collective secret is a willful ignorance of traumatic acts and a denial of posttraumatic suffering. Patients are victims twice over: victims of the original perpetrators and victims of an indifferent society. The therapeutic act of bringing the secret into full awareness is now inextricably linked to a political act. Vietnam War veterans are the first traumatic victims to demand collective recognition, and they are followed by victims of other suppressed traumas, such as childhood incest and domestic rape.“ (Allan Young (1995) Harmony of Illusions- Inventing Post-Traumatic Stress Disorder. Princeton University Press, Princeton, New Jersey. S. 142)
Dieses Zitat aus der Karrieregeschichte des Trauma- und Opferbegriffs macht deutlich, dass Young eine enge Verknüpfung zwischen individueller Psychopathologie und moralischer Pathologie der Gesellschaft herstellt. Über diesen Zusammenhang haben schon viele Männer und Frauen nachgedacht. Und in der Tat muss man sich fragen: Wo bleibt bei der Reaktion auf bedrohliche Gewalt und der nachfolgenden manifesten Symptombildung der das Individuum prägende und beeinflussende soziale und kommunikative Rahmen, der nach Young ein Spiegelbild moralischer Orientierung ist und zugleich die (Makrokosmos) pathologischen Züge annehmen kann, die ein (Mikrokosmos) Individuum aufweist? (Hierbei handelt es sich um ein Konstrukt, das nur durch interpretierende Verknüpfung zu erfassen ist.) Haben derContainment und Sicherheit versprechende soziale Rahmen ausgedient und ihre Untauglichkeit bewiesen, wenn ein Mensch unter oder nach Gewalt nur noch Individuum in einem mechanischen Sinne und seine psychosoziale Reagibilität in Einzelaspekte zerlegbar ist? Hat folglich ein Mensch seine individuelle Existenz nur in Verbindung mit überwältigenden Ereignissen, weil er gezwungen ist, diese allein zu integrieren, während er Freude, Glück und Partylaune mit anderen teilt? Solche Haltung erinnert mich an den verbreiteten stumpfen Optimismus in westlichen Gesellschaften. Ist der Geschädigte, den die prägende Gesellschaft allein lässt und nicht zu integrieren in der Lage erscheint, weil sie sich nicht mit ihm befassen möchte oder kann, in seiner Individualität nicht eine Abkehr von einer Imagination von Gesellschaft? Welche Bedeutung und Verantwortung übernimmt Gesellschaft, wenn sie in diesem entscheidenden Feld sich zurückzieht? Je mehr über Trauma und Diagnosen geschrieben und gesprochen wird, umso drängender werden diese Themen an „Experten“ delegiert, die dadurch Funktionen von Gesellschaft übernehmen. In der Pädagogik, im Berufsleben, im Geschlechterverhältnis usw.? Hier lag und liegt der Ansatz für eine Psychologieindustrie, die mit denselben Kriterien operiert wie die Makroökonomie, wie Tana Dineen als „Häretikerin und Renegatin“ schon 1996 diagnostizierte (Diversifikation, Wachstum, Effektivität und Rationalisierung). Wir ziehen den (vorläufigen) Schluss, dass es sich um politische Begründungen handelt, welche die Unbewusstmachung, Leugnung, Relativierung, Ignoranz des gesellschaftlichen Anteils an der Entstehung individueller Pathologie bewirken, soweit wir von Menschen verursachte Gewalt und Bedrohung ins Spiel bringen. Wir gehen hinsichtlich eines kognitiven Ansatzes soweit zu behaupten, dass Folgesymptome nach Gewalt wesentlich durch den Widerspruch zustande kommen, der darin liegt, dass moralische Werte einer Gesellschaft, die prägend für die Einzelnen sind, von eben dieser Gesellschaft aufgehoben, geleugnet oder in Ausnahmezuständen beseitigt, zugleich in kollektiven Ritualen pathetisch beschworen werden. Der Widerspruch (oder die Zwickmühle) besteht auf der kognitiven Ebene folglich darin, dass eine Gesellschaft in der individuellen Betrachtung von Abweichungen die eigenen Werte pathologisiert und vom Individuum fordert, es solle sich an moralisch pathogenen Werten orientieren. Da es sich hierbei um unsichtbare Machtpolitik handelt, werden die Individuen zum Kampfgebiet dieses Widerspruchs. Da es zudem subjektiv kaum ein Entweichen aus dieser Zwickmühle gibt, wird die subjektive Unentrinnbarkeit als Zwang erlebt und produziert die diversen Symptome, soweit Soldaten (Vietnam- oder Afghanistanveteranen) betroffen sind.
An den Veteranen des Vietnamkrieges lässt sich dieser Widerspruch exemplifizieren. Sie wurden nicht auf diese Art, Krieg zu führen, vorbereitet: Zivilisten zu töten, zu vergiften und zu verbrennen, Gefangene zu misshandeln, Tote z. B. durch Salven zu verstümmeln, durch „friendly fire“ eigene Kameraden zu verwunden und zu töten. Sie konnten auch nicht darauf vorbereitet werden, weil sie in einen Konflikt mit ihrem Selbstverständnis und ihren Motiven geraten wären. Sie konnten erst nach dem Kriege (Entlassung) feststellen, dass sie ursprünglich einer anderen Moral anhingen, als sie im Kriege zu praktizieren gezwungen waren. Nun aber wurden alle anderen Menschen als potenzielle Feinde betrachtet. In ihrer Wahrnehmung hatte die politische Führung (mit teilgesellschaftlicher Billigung) sie in die moralische Zwickmühle getrieben. Da von der politischen Führung keine Klärung dieses Widerspruchs zu erhalten war, musste zwangsläufig der gesundheitliche Reparaturbetrieb in die Bresche springen, indem er die moralische Pathologie der Gesellschaft in eine individuelle Pathologie umformte. Das gilt ja in vielen Bereichen, indem Psychologen und Psychiater gezwungen sind, eine widersprüchliche Moral aufrechtzuerhalten und den unbewusst gemachten Anteil von Moral zu verteidigen, unbewusst zu lassen oder schönzureden. Die Veteranen bildeten ihre Symptomatik nicht aus, weil sie belogen worden waren, sondern weil niemand die Verantwortung für die moralische Zwickmühle übernahm, in der sie Scham und Schuld anhäuften. Umschriebene moralische Grundsätze der US-Gesellschaft werden inkorporiert, bilden Identität und Motivation. Jahrelanger Verstoß gegen konstituierende Elemente habitueller Identität ist außer Stande, integriert zu werden. Dies gilt für Soldaten überall, die vorbereitend zum Verstoß gegen ein Tötungstabu gedrillt werden.
Wir sind nach der Beobachtung von und dem Gespräch mit rund 800 extrem Traumatisierten und der Kenntnis der Reaktionsmuster von Angehörigen der Auffassung, dass es sich, verkürzend gesagt, um Angststörungen auf Seiten des Individuums und der Gesellschaft handelt. Da, wie Lévinas betont, die Angst vor etwas zugleich die Angst um etwas sei, haben wir uns zu fragen, was denn dieses „etwas“ sei. Bei Traumata, die ein Individuum in die unmittelbare Nähe der Lebensbedrohung und des eigenen Todes führen, liegt dieses „Etwas“ in der Erkenntnis der Endlichkeit des Subjekts. Menschen haben Angst vor einer (strafenden oder quälenden) Gewalt und zugleich um die Unerbittlichkeit der eigenen Endlichkeit. Im Katalog der Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung ist auch der Anblick des Todes eines Anderen (oder einer nahestehenden Person) als auslösendes Moment für posttraumatische Symptombildung genannt. Auch der Tod eines Anderen führt zum Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und, wie Lévinas sagt, zur Verantwortung für den Tod des Anderen.
Bei Gesellschaft ist dies wohl nicht anders. Auch sie kann
kollektive Angst empfinden vor Gewalt und um ihren Bestand fürchten. Um den Bestand einer Gesellschaft und ihrer Sozialität zu sichern, verfällt Gesellschaft auf besondere argumentative Muster: Gesellschaft erfreut sich eines höheren Werts der eigenen Existenz gegenüber dem Individuum. Oder dekretiert mit Hilfe der größeren Zahl und Majorität. Oder sie operiert mit der spontanen Unbewusstmachung ihrer unterlassenen Hilfeleistung und ausgrenzenden Untätigkeit. Solche Strategien sind mit Scham und Schuldgefühlen verbunden, die nachhaltig an die Ängste erinnern helfen und somit einen festen Verschluss an der Kiste des unbewusst Gemachten bilden. Dadurch kann Gesellschaft Handlungsfähigkeit gegenüber traumatisierten Individuen einbüßen, wie auch in einem intrapsychischen Prozess das traumatisierte Individuum seine Handlungsoptionen (z. B. durch Vermeidung) verlieren kann. Das Resultat, das zwei reduzierte Handlungsfähigkeiten hervorbringen, wird zum Eintrittsbillett von Wissenschaft und Expertentum.
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