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                                           von Sepp Graessner

 

 „Das Bewusstsein, das der Kranke von seiner Krankheit hat, ist absolut original. Sicher ist nichts so falsch wie der Mythus von der Krankheit, die nichts von selbst weiß; der Abstand zwischen dem Bewusstsein des Arztes und dem des Kranken ermisst sich nicht am Abstand zwischen Kenntnis und Unkenntnis der Krankheit. Es ist nicht so, als stünde der Arzt auf der Seite der Gesundheit, die alles Wissen über die Krankheit besitzt, und der Kranke auf der Seite der Krankheit, die nichts von sich selbst weiß, nicht einmal ihre Existenz. Der Kranke erkennt seine Anomalie und gibt ihr zumindest diese Bedeutung, dass er durch einen unaufhebbaren Unterschied vom Bewusstsein und von der Welt der anderen getrennt ist.“ ( Michel Foucault (1968) Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt/M. S. 74ff)

 

Zur Klärung: Posttraumatische Störungen sind keine „Geisteskrankheiten“, obwohl sie von Psychiatern, ihren diagnostischen Manualen und Lehrbüchern eingemeindet wurden. Ich sage aus Überzeugung dagegen, dass sich reale posttraumatische Störungen in das psychiatrische und psychologische Denken verirrt haben und zwar in derselben Weise wie heute Sexualität und manche ihrer normabweichenden Spielarten, die hinsichtlich ihrer Erforschung der Soziologie zugeordnet werden sollten. Normen sind keine Naturgesetze, werden leider oft in dieser Weise benutzt. Wo immer Normen im Spiel sind, sollten Entstehungsgeschichte, Gebrauchsverlauf, Zwecke und Interessen sowie die hinter ihnen stehende Philosophie berücksichtigt und befragt werden. Davon kann bei schablonenhafter Anwendung eines Konzepts, das Fast-Food-Psychologie repräsentiert, nicht die Rede sein.

 

 

 Eines der besten Beispiele bildet die neue Vorstellung von der Psychoedukation. Im Bereich der ökonomisch effektiven Behandlung oder Vorbehandlung in Gruppen, werden Personen, denen eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, über ihre Leiden aufgeklärt. Sie erfahren, dass ihre Sorge, sie könnten mental aus der Bahn geworfen  werden, absolut unbegründet sei. Die Kranken wissen nichts vom Ursache-Wirkungsmechanismus, so nehmen jedenfalls die Expertinnen und Experten an. Die Gequälten können sich ihre Beschwerden oder Schmerzen nicht erklären und herleiten. Sie müssen, vor allem wenn sie aus außereuropäischen ländlichen Kulturen stammen, über die Ursache und den Verlauf ihrer Symptomatik erst aufgeklärt werden, etwa so, wie man ihnen den Gebrauch der Untergrundbahn erklärt. Da es sich  überwiegend um kognitive Zugänge zum eigenen Leiden handelt, werden Zusammenhänge kausaler Art vor den Klienten ausgebreitet, und ihrer oft geäußerten Furcht, beim subjektiven Empfinden könne es sich um eine Geisteskrankheit handeln, wird vehement widersprochen, gleichwohl eine anschließende Therapie für sinnvoll, gar notwendig erklärt. Negative Kognitionen sollen durch positive ersetzt werden. Psychoedukation führt kenntnisreich aus der Nacht der Unwissenheit und spekuliert nicht etwa über das funktionale Befinden der Seele. Sie weiß sicher, wo es langgeht und wo Verirrungen lauern, die wir Krankheit nennen. Das bedeutet, die Vorstufe zu therapeutischen Maßnahmen, als die Psychoedukation ausgegeben wird, weiß schon alles über die Krankheit im Allgemeinen. Sie gibt ihr Wissen preis, und dies nicht nur aus Effektivitätsüberlegungen, um langwierige Behandlungen abzukürzen. Allerdings ist sie zur Diagnosestellung auf Narrative des Klienten angewiesen. Dabei muss sich ein identifizierbares Ereignis herausschälen, dem ein traumatisierender Charakter zugesprochen wird. (Aus den oft diffusen und kulturell gewichteten Symptomen allein ist eine Diagnose wegen der Unspezifität der Zeichen kaum zu folgern). Psychoedukative Maßnahmen erklären dann folglich, was der Klient zuvor erzählt hat. Also wer erzieht wen? Dabei können sie bei so genannten Traumaopfern zu einer Distanz zu erschreckenden Erlebnissen führen wie jede Kommunikation, die den Zweck hat, Leid mitzuteilen.

 

Das psychologische Denken borgt sich den Anschein naturwissenschaftlicher Strenge, weil es beim Thema: traumatische Erinnerung in einem Dilemma steckt. Es muss, wie Ludwik Fleck schon 1929 bemerkte, für eine angemessene Diagnose und Therapie so viele Faktoren berücksichtigen, die psychisch und physisch Pathogenität verursachen und den Verlauf einer Störung beeinflussen, innere und äußere Wirkungen bedenken, dass es einer extragroßen Portion Intuition bedarf, um nach einer Diagnose einen Ansatz für Therapie zu finden. Aus diesem Grunde vermitteln die Neurowissenschaften die Hoffnung auf eine Verminderung der Vielfalt von Einflussfaktoren. Die Illusion,  man werde die Vielfalt auf wenige Laborparameter reduzieren können, wird für ein soziales Produkt wie z.B. traumatisches Erleben und Nacherleben wohl nie Realität.

Das psychiatrische Denken muss im Bereich psychischer Störungen zugleich einräumen, dass jeder Fall posttraumatischer Symptomausprägung unterschiedlich gelagert ist, ja, dass zwischen Auslöser, Verlauf und Phänomenen der psychophysischen Reaktion keine lineare oder als kausal erfassbare Beziehung besteht. (Kausalität wird in der Diagnostik erst aus dem Nachher eingeführt. Ein erkennbarer Zweck der Kausalität ist kaum zu konstruieren, sieht man im sozialkommunikativen Bereich einmal von einem Appell zur Stützung und Hilfeleistung ab. Wenn man aber unter dieser Fragestellung ein psychisches Ich-Überleben annimmt, dann ist dieser Zweck ganz unspezifisch, weil er allgemein für Konflikte des Lebens insgesamt und nicht nur für extreme Traumata gilt. Machtpolitische oder rassistische Konflikte, die mit Gewalt verbunden sind, führen ein Eigenleben in den Seelen und Erinnerungen davon betroffener Personen, vermutlich aber nur dann, wenn der Konflikt unauflösbar ist und Feindseligkeit andauert.) Man kann durchaus sagen, dass unter den posttraumatischen Symptombildungen die jeweils individuelle Reaktion zum eindeutigen Kennzeichen von Individualität aus der Sozial- und Kommunikationsgeschichte wird. (Zu den personalen und reaktiven Symptomen zählt auch die Nichtausbildung längerfristiger Störungen. Diese Tatsache ist von Dauerausscheidern von z.B. Salmonellen bekannt, bei denen Keime nachgewiesen werden, ohne dass eine typische Symptomatik festgestellt wird. Bei Veränderungen der Immunlage kann eine Symptomatik ausbrechen.) Statistik und Typisierung durch Ärzte und Experten machen daraus aber einen Katalog der Mindestforderungen für die Diagnose einer posttraumatischen Störung, die eine ursprünglich vollkommen individuelle Reaktivität ins Verallgemeinerte und Statistische auflöst. Möglicherweise ist dies unter einem gewissen Zwang zur Systematik unvermeidlich. In meinen Beobachtungen von Folterüberlebenden habe ich so unterschiedliche Verläufe erlebt, dass es mir schwer fiele, eine Systematik der Reaktionen zu erstellen. Das gelingt nur einem Reduktionismus. Erst wenn ich eine Systematik voraussetze, beobachte ich durch die Brille, d.h. mit Hilfe von Vorkenntnissen einer zugrunde liegenden Systematik. Zwar kann ich beteiligte Systeme identifizieren, deren Wechselwirkungen entziehen sich jedoch einer präzisen Bewertung. In den benutzten Systematiken ist jeweils nur eine Teilsymptomatik enthalten, und eine andere Teilsymptomatik wird marginalisiert oder für unbeachtlich erklärt. Es werden durch die Statistik recht willkürlich aus gesellschaftlichem Antrieb kardinale und Nebenzeichen bestimmt, unabhängig davon, ob der jeweils individuelle Kranke Haupt- und Nebenkriterien in der gleichen Weise gewichtet, wobei sich kulturelle Einflüsse auf Erleben und Verarbeiten einem Verstehen zumeist entziehen (siehe das vorangestellte Motto). Jede Systematik der posttraumatischen Symptome engt nicht nur die Wahrnehmung der therapeutischen Person ein, sie entzieht dem betroffenen Subjekt zugleich seine individuellen Ausdrucksformen und formt, ja diktiert eine Selbstwahrnehmung nach einem vorausgesetzten Schema. Die Präzision physikalischer Gesetze gilt für psychische Prozesse nicht, zumal wenn solche Prozesse in diagnostischen Manualen zu Momentaufnahmen zerlegt werden. Der „Kranke“ ist schon deshalb krank, weil er sich in die Hände eines Arztes oder Psychologen begibt. Der weitere Verlauf spielt sich in der Vorstellungskraft sowie der Kombinations- und Interpretationsfähigkeit des Experten ab, die zirkulär jeweils von den Stichworten des Kranken abhängen.

 

In den Schriften Nietzsches und Heideggers finden sich Hinweise auf traumatische Erfahrungen. Das heißt, immer, wenn sich Umstände und existenzielle Bedingungen vom Leben abwenden oder es gefährden, können traumatische Folgen resultieren. Das ist sehr allgemein und lässt Raum für mannigfaltige Interpretationen, die in abschließender Eindeutigkeit weder von Juristen, Psychiatern oder Psychotherapeuten und Neurowissenschaftlern bewertet werden können.

 

Indem Psychologen und ihre Industrie (Berufsverbände, Fachzeitschriften, Pharmaforschung, dominante Schulmeinungen usw.) fordern, man müsse ihnen vertrauen, ja, sie hätten einen monopolistischen Anspruch auf Vertrauen, entmutigen sie näher liegende Vertrauensverhältnisse zu Familie, Verwandten und Freunden und entwerten solche Bezüge. Diese wären unter Umständen durchaus zu Mitgefühl und Schutz in der Lage, während Psychologen eine künstliche Empathie, die sich professionell nennt, zur Schau stellen, und im Allgemeinen keinen praktischen, sondern nur rhetorischen Schutz zur Verfügung stellen. (Ich habe das in der Vergangenheit den wöchentlichen 50-Minuten-Schutz genannt. Der Schutz richtete sich nicht auf die Person, sondern nur auf das von ihr Erzählte.) Daher müsse die Psychoindustrie in einzelnen Schritten das Grundvertrauen von nahen Personen abziehen und auf Experten übertragen. Schon Foucault polemisierte gegen die Forderung von Psychiatern, man solle ihnen alles erzählen, vom Ereignis bis zum begleitenden Gefühl, weil diese Forderung implizierte, sie seien die Einzigen, die totale Offenheit verdienen.