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Was also hat der Therapeut von Traumapatienten bereits verstanden, wenn er sich an die Auslegung macht?
Posttraumatische Zustände zeichnen sich dadurch aus, dass Menschen mit einer solchen Störung keine Aufklärung über die Ursache benötigen. Sie liegt gleichsam auf dem Tisch. Im Allgemeinen wird in abschwächender Weise die Bezeichnung „Krankheit“ vermieden. Der Begriff Störung suggeriert, dass ein normaler Ablauf von Motiven, Empfindungen und Handlungen nicht erfolgreich ist, und der Gestörte diffuse Kenntnis über die psychische Entwicklung der Symptome hat. Damit taucht die Symptomatik in den sozialen und kommunikativen Bereich ein, weil dort diejenigen Normen formuliert werden, die ein Mensch mit posttraumatischer Störung in seiner Selbstwahrnehmung verletzt (und die ihn verletzt).
„Wir anerkennen Kausalbeziehungen, aber die Folge ist nie proportional der Ursache, noch ist sie sogar stets die gleiche. Die Wirkung der pathogenen Ursache ist Resultante ihrer Stärke und Disposition, also schließen sich die Kausalzusammenhänge mit ihren inkommensurablen, prädisponierenden Faktoren an.“( Ludwik Fleck (1927) Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens. Frankfurt/M. Suhrkamp 1983. In L.F. Erfahrung und Tatsache, S 42.)
Erlebnissen durch Gewalt aus dem sozialen Raum sprechen wir die Kraft zu traumatischen, zu verletzenden Wirkungen zu.
Das Besondere an der posttraumatischen Belastungsstörung ist, dass sie ein Stadium durchläuft, in dem sie weder Gesundheit noch Krankheit ist, d.h. ein Stadium latenter Pathogenität, die sich prophylaktisch angreifen lässt, wenn das auslösende Moment bekannt und als reales Erlebnis erzählbar ist. Manche Infektionen verlaufen inapparent, weisen eine lange Latenz auf, bis sie erfahrbare Symptome hervorbringen wie z.B. Infektionen mit Mykobakterien oder Treponemen. Das traumatische Erlebnis verhält sich davon unterschieden. Es muss freilich als traumatisch nicht nur erlebt, sondern in diesem Charakter auch wahrgenommen werden. Es darf mithin nicht bagatellisiert, verleugnet oder rasch verdrängt werden. Es bedarf eines Narrativs, das der Umwelt anzeigt, hier sei eine Erschütterung eines durchschnittlichen Gemüts erfolgt. Die Parallelen zur bakteriellen oder viralen Infektion scheinen nahe zu liegen. Der Keim des traumatischen Erlebnisses läge danach in einer psychophysischen Gewalt aus der Umwelt, die zu einer Veränderung von zeitlichem Erleben und individueller Konstruktion von Wirklichkeit führt, weil diese mit Schmerzen und Demütigung verbunden sind. Freilich erklärt dieses Ursache-Wirkungsschema nicht die nachfolgenden Symptome. Sie müssen, obschon sie Ausdruck absoluter Individualität sind, gleichsam überindividuell schlicht hingenommen werden, weil sie statistisch in einer signifikanten Zahl von posttraumatischen Zuständen als gesammelte auftreten. Gesammelt bedeutet hier, dass eine Extrapolation von Symptomen als typisch vorgenommen wurde und eine Reihe weiterer Symptome als marginal oder nur selten auftretend ausgeschlossen wurden. Zumindest aus den Fragebögen und screening-Verfahren. Die Einengung der schematischen Diagnosestellung beschränkt daher auch die Interpretation des individuellen Verlaufs einer erlebnisbedingten Symptomatik.
Nach dem traumatischen Erlebnis finden wir also nicht nur einen Schwebezustand zwischen Gesundheit und Krankheit, der traumatische Charakter des Erlebnisses muss auch ins Bewusstsein dringen, damit ein Narrativ resultiert. Dieses Bewusstsein existiert heute als allgegenwärtiges Dispositiv, das in öffentlichen Beschreibungen, kausalen Kurzschlüssen und parallelisierten Beispielen in Presse, Funk und Fernsehen als benutzbare Matrix in jedem Haushalt bekannt ist, zumal die rechtlichen Konsequenzen aus gewaltbedingten Verletzungen eine traumatisierte Person geradezu dazu zwingen, eine möglicherweise latente Symptomatik in eine aktuelle zu verwandeln und als solche zu berichten. Kaum ein fremdsprachiger Begriff hat eine derartige Karriere ins Populäre gestartet wie der Begriff Trauma. Bei solchen Karrieren fragen wir uns nach den Interessenten und Nutznießern. Ohne große Umschweife landen wir bei der Psychoindustrie. Dies schließt die Pharmaindustrie ein.
Eine alte, immer wieder gestellte Frage ist die nach der Zwangsläufigkeit von Symptombildungen sowie nach Dispositionen für Verletzlichkeit und dauerhafte Verletzung nach traumatischem Erleben. Ferner ließe sich die Frage nachschieben: Wie intensiv muss das Erlebnis ausgefallen sein, um eine Kette von Symptomen auszulösen, die das individuelle Bearbeitungsvermögen überfordern? Ist es vorstellbar, dass wiederholte Foltererlebnisse mit Todesdrohung die gleiche Symptomatik und in gleicher Hartnäckigkeit hervorbringen wie ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung?
Zu Beginn der Diagnostik posttraumatischer Zustände und Prozesse haben Experten noch getröstet, die posttraumatische Reaktion sei eine durchaus normale Reaktion auf ein plötzlich hereinbrechendes Ereignis. Hiervon ging man aber in dem Maße ab, in dem kategorisierte Symptombeschreibungen Zeitgrenzen bestimmten, nach denen von einer Krankheit auszugehen sei. Zu lange Trauer sei ebenso pathologisch wie monatelange Flashbacks oder Vermeidungsverhalten. Die ursprünglich normale Reaktion auf ein ungewöhnliches Ereignis wurde zu einem Unsicherheitsfaktor erklärt und damit eine Trennung von „normal“ und „anormal“ unsicher gemacht, d.h. aus dem Versuch einer präzisen Bestimmung verbannt.
Im weiteren wurde mit verblüffender Energie nicht mehr das ungewöhnliche, willkürliche Gewaltereignis fokussiert, sondern allein die Folgephänomene im psychosozialen Leben eines betroffenen Individuums in den Mittelpunkt der diagnostischen und dann therapeutischen Betrachtung gerückt. Mit der ethischen Begründung, dass das Leiden an der Symptomatik gelindert werden müsse. Auch die zahlreichen posttraumatischen Einwirkungen aus der Umwelt auf den Prozess der Symptombildung gerieten aus dem Blickfeld, wenn mit schematischen Methoden eine Diagnose gesucht wurde. Es war unbestreitbar, so die landläufige Auffassung, dass allein das traumatische Erlebnis für die individuelle Symptomausprägung verantwortlich war. Nach den Untersuchungen von Keilson hätte man eigentlich eine solche Auffassung nicht mit Ausschließlichkeit äußern können. Vermutlich haben gesellschaftliche Scham und Schuld den Prozess der Symptombildung in die individuelle Psyche verlagert, in zumeist unbewusster, aber bereitwilliger und selbst schützender Haltung. Diese geschilderte historische Entwicklung ist vielen Diagnostikern geläufig. Sie teilen im Gespräch die skeptischen Einwände. In der Praxis findet sich dann nichts mehr von kritischer Distanz, weil sich die Forderung zu handeln zu einer Pragmatik verkürzt. Das ist deshalb bedauerlich, weil in der Praxis zahlreiche Beobachtungen gemacht werden, die sich der Schematisierung entziehen oder ihr gar widersprechen.
Ein bedeutsames Problem stellt der Übergang von der akuten Belastungsstörung zur chronischen Belastungsstörung dar. Auch so genannte kleinere Traumata als Kränkungen oder verbale Demütigungen (in der militärischen Ausbildung sehr häufig!) können nach allgemeiner Vorstellung und Erfahrung eine längere innere Beschäftigung mit dem Auslöserereignis zur Folge haben. Nach den gebräuchlichen Vorstellungen sollte nach etwa sechs Wochen diese innere Auseinandersetzung mit einem Ereignis, das akute wühlende Prozesse in Gang gesetzt hatte, abgeschlossen sein, bevor man als chronisch posttraumatisch belastungsgestört eingestuft werden kann. Diese Setzung erfolgt willkürlich. Man weiß allgemein, dass Menschen, denen man ein Elefantengedächtnis zuspricht oder die man als nachtragend bezeichnet, frühere Kränkungen nicht vergessen können. Darf man ihnen eine posttraumatische Belastungsstörung attestieren?
Die gebräuchlichen Definitionen sehen für die Vergabe der Diagnose einige Bedingungen vor. Das Ereignis ist so beschaffen, dass es bei nahezu jedem Menschen eine Überwältigung, eine Panik oder Schrecken zur Folge hat. Jedoch nur ein Teil der Betroffenen bildet posttraumatisch unterschiedliche Symptome aus. Wie kommt das?
Wenn, wie einige Definitionsversuche herausstellen, peritraumatische Reaktionen angemessen, physiologisch, d.h. „normal“ sind, bedeutet dies mit anderen Worten, heftige Reaktionen auf Gewaltereignisse der Realität haben keinen primärpathogenen Charakter, obwohl sie physiologische Stofftransporte und Stoffwirkungen gehörig aktivieren und durcheinander bringen. Sie fallen zwar unterschiedlich aus, bleiben aber im Rahmen physiologischer Reaktionen auf bedrohliche Erlebnisse. Für die unterschiedliche Heftigkeit der Reaktionen (und der Folgewirkungen) mögen Dispositionen verantwortlich sein, der wahrnehmende Anteil jedoch, der auf Realität antwortet und Verarbeitung einleitet, ist wie bei einer Depression angemessen, individuell und von Dispositionen gesteuert. Wenn die Realität einen beschissenen Status offenbart, dann ist eine emotionale Depression angemessen. Da mögen noch so viele Leute sagen, das Leben sei schön. Da ist was dran, die komplexe Realität ist es nicht. Eine schöne Realität gibt es für das soziale Wesen Mensch nur unter Aufbietung aller Abwehr, Verleugnung und Verdrängung. Wer sich in einem solchen wahrnehmungsgestörten Leben einrichtet, wer sich Realität schön filtert, muss schon sehr ängstlich geworden sein und tief enttäuschende Erlebnisse hinter sich haben.
Erst wenn die Erinnerung an erlittene Grausamkeit eine Sinnstiftung eingeklagt, kann posttraumatisch in dieses Vakuum Sinn gefüllt werden, der aus sozialer Kommunikation und Interdependenz sich herleitet. Erinnerung, die in Individuen eingeschlossen bleibt, fordert nicht Sinngebung. Sie führt zu unverständlichen Handlungen, die gleichsam unterhalb der Großhirnschwelle generiert werden. Sie muss folglich durch das Stadium der sprachlichen Erzählung gehen, wenn sie im gesellschaftlichen Leben kompetente und akzeptierte Handlungen hervorbringen soll. Man kann daran erkennen, dass Sinn aus dem sozialen Rahmen gebildet wird. Der Sinn traumatischer Erlebnisse wird in unserem Kulturkreis zu einem Zwangsmuster, das seine Energie aus dem christlichen Leidensverständnis herleitet.
Aber ist es denn so, dass die Erinnerung an erlebte Lebensbedrohung und erlittene Grausamkeiten einen Sinn fordert? An wen richtet sich die Forderung, wenn nicht an das Unbewusste, das gesellschaftlich unbewusst Gemachte, die Negation der Erinnerung? Das Unbewusste repräsentiert gleichsam den Gerichtshof über den Sinn traumatischer Erinnerungen. Vermutlich, wenn auch in geringerem Maße, richtet sich die Forderung nach Sinnstiftung für erlebte Traumata auch an die soziale Umwelt, wenn Erinnerungen aussprechbar sind. Ist Ziel und Zweck der Erinnerung eine Sinnstiftung? Soll das betroffene Subjekt zur Selbsterhaltung lernen? Oder schaffen die entstehenden Bahnungen und Verknüpfungen neue Motive für Handlungen, die wir Interessen, Strategien, Taktiken und Machtgewinn nennen und die den primär vegetativen oder instinktiven Rahmen gesellschaftlich aufwerten? Möchte die evolutionäre Entwicklung ein dem Menschen und nur ihm unmissverständlichen Sinn generieren? Und hat die traumatische Erinnerung ein Privileg vor anderen Erinnerungen, eine wiederkäuende Priorität der neuronalen Speicherung? Wenn man die Summe der unverständlichen oder nicht nachvollziehbaren Handlungen in jeder Sekunde der Welt in Rechnung stellt, kann man dann vom Sinn der Erinnerung sprechen? Erinnerung trägt Schuld ab. Sie verkleinert das Schuldkonto durch Entschuld(ig)ung. Wenn Selbstbehauptung in Frage gestellt oder gewaltsam verhindert wird, taucht augenblicklich Schuld auf. Die Selbstbeschuldigung wird durch Sprechen geboren, wenn Sinngebung zur Norm erhoben wird. Dafür wird Schweigen und scheinbar unmotiviertes Handeln an die Stelle von Sprechen gesetzt und entfaltet Wirkungen über Generationen hinweg, weil es die Selbstbeschuldigung verzögert oder abschwächt. Das anekdotenhafte Geplapper unserer Eltern nach dem NS war stets frei von Empathie, denn die sprechende Empathie mit den Zugrundegegangenen hätte das Schuldkonto erhöht.
Ich bin der Überzeugung, dass die Zeit, die vergeht, in nahezu jedem Fall zu einer Abschwächung von Intrusionen führt. Intrusionen können dann erneut nach längerer Latenz schlagartig auftreten, auch heftige Gestalt annehmen. Insgesamt aber treten sie, auch wenn sie konstant (z.B. durch Psychotherapie) reanimiert werden, allmählich in den Hintergrund. Die Reanimationen traumatischer Erinnerungen erscheinen aus der realen Welt, meist sogar ohne Vorsatz, durch therapeutischen Impetus oder durch zufällige Trigger. Hat eine traumatisierte Person Geborgenheit und Wohlwollen gefunden, macht sie posttraumatisch positive Wahrnehmungen, die den wiederkehrenden Bedrohungsszenarien entgegengestellt werden. Braucht es dazu professionelle Experten?