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                                           von Sepp Graessner

 

 „Das Bewusstsein, das der Kranke von seiner Krankheit hat, ist absolut original. Sicher ist nichts so falsch wie der Mythus von der Krankheit, die nichts von selbst weiß; der Abstand zwischen dem Bewusstsein des Arztes und dem des Kranken ermisst sich nicht am Abstand zwischen Kenntnis und Unkenntnis der Krankheit. Es ist nicht so, als stünde der Arzt auf der Seite der Gesundheit, die alles Wissen über die Krankheit besitzt, und der Kranke auf der Seite der Krankheit, die nichts von sich selbst weiß, nicht einmal ihre Existenz. Der Kranke erkennt seine Anomalie und gibt ihr zumindest diese Bedeutung, dass er durch einen unaufhebbaren Unterschied vom Bewusstsein und von der Welt der anderen getrennt ist.“ ( Michel Foucault (1968) Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt/M. S. 74ff)

 

Zur Klärung: Posttraumatische Störungen sind keine „Geisteskrankheiten“, obwohl sie von Psychiatern, ihren diagnostischen Manualen und Lehrbüchern eingemeindet wurden. Ich sage aus Überzeugung dagegen, dass sich reale posttraumatische Störungen in das psychiatrische und psychologische Denken verirrt haben und zwar in derselben Weise wie heute Sexualität und manche ihrer normabweichenden Spielarten, die hinsichtlich ihrer Erforschung der Soziologie zugeordnet werden sollten. Normen sind keine Naturgesetze, werden leider oft in dieser Weise benutzt. Wo immer Normen im Spiel sind, sollten Entstehungsgeschichte, Gebrauchsverlauf, Zwecke und Interessen sowie die hinter ihnen stehende Philosophie berücksichtigt und befragt werden. Davon kann bei schablonenhafter Anwendung eines Konzepts, das Fast-Food-Psychologie repräsentiert, nicht die Rede sein.

 

 

 Eines der besten Beispiele bildet die neue Vorstellung von der Psychoedukation. Im Bereich der ökonomisch effektiven Behandlung oder Vorbehandlung in Gruppen, werden Personen, denen eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, über ihre Leiden aufgeklärt. Sie erfahren, dass ihre Sorge, sie könnten mental aus der Bahn geworfen  werden, absolut unbegründet sei. Die Kranken wissen nichts vom Ursache-Wirkungsmechanismus, so nehmen jedenfalls die Expertinnen und Experten an. Die Gequälten können sich ihre Beschwerden oder Schmerzen nicht erklären und herleiten. Sie müssen, vor allem wenn sie aus außereuropäischen ländlichen Kulturen stammen, über die Ursache und den Verlauf ihrer Symptomatik erst aufgeklärt werden, etwa so, wie man ihnen den Gebrauch der Untergrundbahn erklärt. Da es sich  überwiegend um kognitive Zugänge zum eigenen Leiden handelt, werden Zusammenhänge kausaler Art vor den Klienten ausgebreitet, und ihrer oft geäußerten Furcht, beim subjektiven Empfinden könne es sich um eine Geisteskrankheit handeln, wird vehement widersprochen, gleichwohl eine anschließende Therapie für sinnvoll, gar notwendig erklärt. Negative Kognitionen sollen durch positive ersetzt werden. Psychoedukation führt kenntnisreich aus der Nacht der Unwissenheit und spekuliert nicht etwa über das funktionale Befinden der Seele. Sie weiß sicher, wo es langgeht und wo Verirrungen lauern, die wir Krankheit nennen. Das bedeutet, die Vorstufe zu therapeutischen Maßnahmen, als die Psychoedukation ausgegeben wird, weiß schon alles über die Krankheit im Allgemeinen. Sie gibt ihr Wissen preis, und dies nicht nur aus Effektivitätsüberlegungen, um langwierige Behandlungen abzukürzen. Allerdings ist sie zur Diagnosestellung auf Narrative des Klienten angewiesen. Dabei muss sich ein identifizierbares Ereignis herausschälen, dem ein traumatisierender Charakter zugesprochen wird. (Aus den oft diffusen und kulturell gewichteten Symptomen allein ist eine Diagnose wegen der Unspezifität der Zeichen kaum zu folgern). Psychoedukative Maßnahmen erklären dann folglich, was der Klient zuvor erzählt hat. Also wer erzieht wen? Dabei können sie bei so genannten Traumaopfern zu einer Distanz zu erschreckenden Erlebnissen führen wie jede Kommunikation, die den Zweck hat, Leid mitzuteilen.

 

Das psychologische Denken borgt sich den Anschein naturwissenschaftlicher Strenge, weil es beim Thema: traumatische Erinnerung in einem Dilemma steckt. Es muss, wie Ludwik Fleck schon 1929 bemerkte, für eine angemessene Diagnose und Therapie so viele Faktoren berücksichtigen, die psychisch und physisch Pathogenität verursachen und den Verlauf einer Störung beeinflussen, innere und äußere Wirkungen bedenken, dass es einer extragroßen Portion Intuition bedarf, um nach einer Diagnose einen Ansatz für Therapie zu finden. Aus diesem Grunde vermitteln die Neurowissenschaften die Hoffnung auf eine Verminderung der Vielfalt von Einflussfaktoren. Die Illusion,  man werde die Vielfalt auf wenige Laborparameter reduzieren können, wird für ein soziales Produkt wie z.B. traumatisches Erleben und Nacherleben wohl nie Realität.

Das psychiatrische Denken muss im Bereich psychischer Störungen zugleich einräumen, dass jeder Fall posttraumatischer Symptomausprägung unterschiedlich gelagert ist, ja, dass zwischen Auslöser, Verlauf und Phänomenen der psychophysischen Reaktion keine lineare oder als kausal erfassbare Beziehung besteht. (Kausalität wird in der Diagnostik erst aus dem Nachher eingeführt. Ein erkennbarer Zweck der Kausalität ist kaum zu konstruieren, sieht man im sozialkommunikativen Bereich einmal von einem Appell zur Stützung und Hilfeleistung ab. Wenn man aber unter dieser Fragestellung ein psychisches Ich-Überleben annimmt, dann ist dieser Zweck ganz unspezifisch, weil er allgemein für Konflikte des Lebens insgesamt und nicht nur für extreme Traumata gilt. Machtpolitische oder rassistische Konflikte, die mit Gewalt verbunden sind, führen ein Eigenleben in den Seelen und Erinnerungen davon betroffener Personen, vermutlich aber nur dann, wenn der Konflikt unauflösbar ist und Feindseligkeit andauert.) Man kann durchaus sagen, dass unter den posttraumatischen Symptombildungen die jeweils individuelle Reaktion zum eindeutigen Kennzeichen von Individualität aus der Sozial- und Kommunikationsgeschichte wird. (Zu den personalen und reaktiven Symptomen zählt auch die Nichtausbildung längerfristiger Störungen. Diese Tatsache ist von Dauerausscheidern von z.B. Salmonellen bekannt, bei denen Keime nachgewiesen werden, ohne dass eine typische Symptomatik festgestellt wird. Bei Veränderungen der Immunlage kann eine Symptomatik ausbrechen.) Statistik und Typisierung durch Ärzte und Experten machen daraus aber einen Katalog der Mindestforderungen für die Diagnose einer posttraumatischen Störung, die eine ursprünglich vollkommen individuelle Reaktivität ins Verallgemeinerte und Statistische auflöst. Möglicherweise ist dies unter einem gewissen Zwang zur Systematik unvermeidlich. In meinen Beobachtungen von Folterüberlebenden habe ich so unterschiedliche Verläufe erlebt, dass es mir schwer fiele, eine Systematik der Reaktionen zu erstellen. Das gelingt nur einem Reduktionismus. Erst wenn ich eine Systematik voraussetze, beobachte ich durch die Brille, d.h. mit Hilfe von Vorkenntnissen einer zugrunde liegenden Systematik. Zwar kann ich beteiligte Systeme identifizieren, deren Wechselwirkungen entziehen sich jedoch einer präzisen Bewertung. In den benutzten Systematiken ist jeweils nur eine Teilsymptomatik enthalten, und eine andere Teilsymptomatik wird marginalisiert oder für unbeachtlich erklärt. Es werden durch die Statistik recht willkürlich aus gesellschaftlichem Antrieb kardinale und Nebenzeichen bestimmt, unabhängig davon, ob der jeweils individuelle Kranke Haupt- und Nebenkriterien in der gleichen Weise gewichtet, wobei sich kulturelle Einflüsse auf Erleben und Verarbeiten einem Verstehen zumeist entziehen (siehe das vorangestellte Motto). Jede Systematik der posttraumatischen Symptome engt nicht nur die Wahrnehmung der therapeutischen Person ein, sie entzieht dem betroffenen Subjekt zugleich seine individuellen Ausdrucksformen und formt, ja diktiert eine Selbstwahrnehmung nach einem vorausgesetzten Schema. Die Präzision physikalischer Gesetze gilt für psychische Prozesse nicht, zumal wenn solche Prozesse in diagnostischen Manualen zu Momentaufnahmen zerlegt werden. Der „Kranke“ ist schon deshalb krank, weil er sich in die Hände eines Arztes oder Psychologen begibt. Der weitere Verlauf spielt sich in der Vorstellungskraft sowie der Kombinations- und Interpretationsfähigkeit des Experten ab, die zirkulär jeweils von den Stichworten des Kranken abhängen.

 

In den Schriften Nietzsches und Heideggers finden sich Hinweise auf traumatische Erfahrungen. Das heißt, immer, wenn sich Umstände und existenzielle Bedingungen vom Leben abwenden oder es gefährden, können traumatische Folgen resultieren. Das ist sehr allgemein und lässt Raum für mannigfaltige Interpretationen, die in abschließender Eindeutigkeit weder von Juristen, Psychiatern oder Psychotherapeuten und Neurowissenschaftlern bewertet werden können.

 

Indem Psychologen und ihre Industrie (Berufsverbände, Fachzeitschriften, Pharmaforschung, dominante Schulmeinungen usw.) fordern, man müsse ihnen vertrauen, ja, sie hätten einen monopolistischen Anspruch auf Vertrauen, entmutigen sie näher liegende Vertrauensverhältnisse zu Familie, Verwandten und Freunden und entwerten solche Bezüge. Diese wären unter Umständen durchaus zu Mitgefühl und Schutz in der Lage, während Psychologen eine künstliche Empathie, die sich professionell nennt, zur Schau stellen, und im Allgemeinen keinen praktischen, sondern nur rhetorischen Schutz zur Verfügung stellen. (Ich habe das in der Vergangenheit den wöchentlichen 50-Minuten-Schutz genannt. Der Schutz richtete sich nicht auf die Person, sondern nur auf das von ihr Erzählte.) Daher müsse die Psychoindustrie in einzelnen Schritten das Grundvertrauen von nahen Personen abziehen und auf Experten übertragen. Schon Foucault polemisierte gegen die Forderung von Psychiatern, man solle ihnen alles erzählen, vom Ereignis bis zum begleitenden Gefühl, weil diese Forderung implizierte, sie seien die Einzigen, die totale Offenheit verdienen.


 

Analogie zur Infektionslehre?

 

In der Gegenwart der Psychotraumatologie blieb weiterhin unentschieden, ob man auf das Psychotrauma eine Analogie zur Infektiologie anwenden dürfe. War es in den späten 1970er Jahren Taktik, als die Psychologie (in den USA) unter den Schutzschirm der Medizin schlüpfte, weil ihr Ruf durch therapeutische Beliebigkeiten ramponiert erschien oder lag es im Denken von der Seele begründet, dass eine medizinische Terminologie historisch die einzig zur Verfügung stehende Sprache war? Jedenfalls findet in dieser Zeit eine Wandlung statt: Probleme werden zu Psychopathologie, Schwierigkeiten des Lebens werden zu Störungen oder Syndromen, Epidemien (z.B. von Depressionen) treten auf, Individuen werden wieder zu Patienten und Einschätzungen werden zu Diagnosen (Dineen, 1999).

Dazu drängt der Pharmakomplex Psychiatrie und Psychotherapeuten zur Medikalisierung, d.h. Verabreichung von Medikamenten. Das Bündnis aus Psychotherapie, Psychiatrie, Pharmakomplex, Versicherungswirtschaft und Militärkomplex gibt dann nach heftigen Geburtswehen 1980 das DSM-III heraus, in dem wir die neuen Wandlungen nachschlagen und unser Denken neu justieren können.

 

So gäbe es wohl einige Indizien, auch außerhalb taktischer Spielchen von Berufsverbänden, die dem psychosozialen Trauma einen infektiösen Charakter zusprächen, aber damit hätte das Psychotrauma seinen besonderen und immer wieder beanspruchten Entstehungs- und Wirkungsmechanismus eingebüßt. Und das hätte die Sonderstellung des psychosozialen Traumas als seelischem Prozess in cartesianischer Herkunft und Prägung durch Materialisierung in Frage gestellt. Daher durfte man wohl in Bildern von Infektion denken, jedoch sich in der Öffentlichkeit stets mit dem Zusatz äußern, ein Trauma verliefe nicht nach den Regeln der Infektionslehre. Psychotrauma sei, wegen seiner existenziellen Dimensionen etwas grundlegend anderes als z. B. eine Erkältung. Selbst eine Tetanusinfektion erreiche nicht die Bedeutung einer individuellen Welterschütterung durch schmerzhafte Gewaltauslöser. Man könne das Psychotrauma wegen der zu beobachtenden Latenz und der sekundären Somatisierung mit der Syphilis vergleichen, aber den Verlauf nicht gleichsetzen.

Selbstverständlich liegt dem Psychotrauma eine äußere Einwirkung aus dem sozialen Raum zugrunde, zumeist eine Maßnahme der Willkür und Gewalt, mit einem Wort: der Dummheit. Intendierte wie nicht intendierte Willkürmaßnahmen können ähnliche Folgen haben. Der Vorsatz einer Gewalthandlung mag für die Intensität der ausgebildeten Symptome eine Rolle spielen. Es ist jedoch unklar, ob nicht intendierte Gewalt oder Demütigung zu Symptomatiken geringerer Eindringtiefe führt. Der Double-bind (gegensätzliche Empfindungen kommunikativ auslösend) in der Entwicklung eines Menschen nimmt hier eine Sonderstellung ein, weil er mit langen Latenzen verbunden sein kann. Posttraumatische Befindlichkeiten sowie unverarbeitete Folgephänomene können nach der Vorstellung der (impliziten) Weitergabe (als Hypothese) auf die nächste, ja übernächste Generation übertragen werden. Dies geschehe zwar nicht in gleicher Weise, jedoch wird dem Kommunikationsstil eine pathogene Wirkung zugeschrieben. Dabei kann es sogar zu Symptomähnlichkeiten kommen oder zu Beschränkungen der Entwicklung der folgenden Generation durch posttraumatische (nicht selten aggressiv-gehemmte) Impulse. Bestimmte massive „extreme“ Erlebnisse generieren ein Verhalten, das Auswirkungen auf Stil und Inhalte von Erziehung entfaltet, oftmals ohne von einem Bewusstsein begleitet zu sein.

Selbstverständlich ist der individuelle Körper der Ort, in dem sich traumatische Erlebnisse einnisten und ihr Wesen treiben.

Keine Infektionserkrankung mit einem Erreger nimmt denselben Verlauf wie eine andere mit dem gleichen Auslöser. Zwar mögen Fieber und Abgeschlagenheit Hauptzeichen sein, in der Auswirkung dieser Hauptzeichen auf den Gesamtorganismus unterscheiden sich die individuellen Fälle zum Teil beträchtlich.

Ein lebendiger Organismus steht immer in Wechselwirkung zu äußeren Wirkkräften. Dabei kommt es nicht nur zu Veränderungen des Organismus, auch die aktiven und pathogenen Agentien, seien sie chemischer oder organischer Natur, verändern ihre Form, Struktur und ihre weitere Existenz. Etwas, das Wirkung in einem Organismus entfaltet, bleibt nicht im selben Status wie vor der Wirkungsentfaltung. Das erscheint banal, ist aber die Voraussetzung für das Verständnis traumatischer Erlebnisse und vor allem des Prozesses der Verarbeitung und Integration traumatischer Erlebnisse in bewusste, d.h. aussprechbare Erfahrung.

Die Infektiologie hat mehrere Phänomene der Immunologie definierend hervorgebracht. Es handelt sich dabei um Abwehrmechanismen, die abhängig sind von einer primären Begegnung oder einem primären Kontakt mit einem Stoff oder einem Erlebnis. Sie können je nach individueller körperlicher Lage zu heftigen Reaktionen führen, die bis zum Schock reichen. Sie können ein Allergen aber auch adäquat entschärfen. Dabei bewirken „Fresszellen“ eine Ent-Schädigung, die dem Betroffenen unbewusst bleibt, d.h. der beginnende infektiöse Prozess wird nicht oder kaum wahrgenommen. Dieser Vorgang gelingt mit spezifischen und unspezifischen Abwehrmechanismen täglich mehrmals und ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Das bedeutet, auf die Ebene der Erlebnisse übertragen, dass ein Großteil verletzender Erlebnisse nicht das Bewusstsein erreicht (oder nur kurz streift), sondern unbewusst entsorgt wird. Da wir noch nicht wissen, welche Erlebnisse zu welchen stofflichen Kaskaden bei unterschiedlichen Individuen führen, können wir das Infektionsmodell nicht eindeutig ausschließen und müssen uns derzeitig mit Analogien behelfen.

Ob Bakterien, Viren oder Bedrohungsszenarien als Erreger auftreten, die Abwehrreaktion erscheint verwandt, wenn man die unmittelbare vegetative Reaktionskette in den Blick nimmt, die heute unter Stressantwort zusammengefasst wird. Blutdrucksteigerung, Schwitzen, Erhöhung des Hautwiderstands, Herzfrequenzerhöhung, Temperatursteigerung, trockene Schleimhäute und der Unfähigkeit zu bewusstem Handeln treten sowohl bei Stress als auch bei bakteriellen, fieberhaften Infekten auf. Die primäre Reaktion zeigt ähnliche Muster. Ist das Primärstadium überwunden, wird das posttraumatische Stadium vom Gehirn. d.h. dem Gedächtnis beherrscht. Ein bedeutsamer Unterschied, der die Rolle der Psyche rettet, ist die Beobachtung, dass nach „Erlebnisinfektionen“ offenbar keine Immunität gegen erneute Erlebnisse derselben Art resultiert, wie sie bei Virusinfektionen festgestellt werden kann. (Das ist vermutlich falsch: Richtig erscheint vielmehr, dass erneute Traumata zu einer Kumulation der Ausprägung der Symptome führen können wie auch zu einer Entschärfung der posttraumatischen Symptome, indem sich über Ressourcen, antitraumatische Abwehr und sichere posttraumatische Szenarien eine relative Stabilität gegen wiederholte Traumata gebildet hat oder in Bildung begriffen ist.)

 Eine unspezifische und eine spezifische Antwort des Körpers, der einem Trauma ausgesetzt ist, ist derzeit noch außerhalb gesicherter Erkenntnisse. Als Tatsache mag gelten, dass die posttraumatische Umgebungsreaktion einen bedeutsamen Einfluss auf den Verlauf der Integration nimmt. Ressourcen und Sicherung des Ich-Kerns sind zwar derzeit noch bloße Metaphern einer unspezifischen Reaktion auf traumatisierende Wahrnehmungen. Sie betonen aber die sozialen Komponenten einer gelingenden Bearbeitung traumatischer Erlebnisse. Hormonelle und andere stoffliche Kaskaden oder enzymatische Prozesse, über die intensiv geforscht wird, haben zurzeit noch den Rang von Bausteinen.

Vielfach suchen die Kulturwissenschaften nach Sinnfragmenten, die als spezifische Abwehr gedeutet werden könnten, wenn sie als gesellschaftliche Komponenten von Individuen inkorporiert werden (wie etwa Religion, ethische Regeln, Männer/Frauenbild u.a.) und somit zumindest einen ersten Wall gegen traumatische Angriffe darstellen. Freilich endet hier eine Analogisierung zum Infektionsmodell, denn noch niemand hat nach dem Sinn einer Infektion gefragt.

Die Sensibilisierung durch traumatische Erlebnisse führt zumeist eher zu größerer Heftigkeit der Reaktionen. Gegen existenziell bedrohlichen Stress gibt es keine Immunität. Die Spezifität der Antikörperbildung gibt es für erlebnisbedingten Stress nicht, soweit heute bekannt ist, obwohl auch für wiederholte traumatische Erlebnisse zentrale Eiweiße und Hormone, qualitativ und quantitativ, umgebaut werden, die einer Anpassung im Sinne von Antikörpern entsprechen könnten. Wenn diese Umwandlungen einmal erforscht sind, dann mögen sie eine relative Spezifität für Aspekte eines wiederholten Traumas einnehmen. Ich vermute, dass die pharmakologische und sicher auch militärische Forschung sich auf diese Prozesse fokussiert, die dann auch therapeutische Konsequenzen haben könnten.

Wenn man manche Analogien zu psychischen Traumata zu weit treibt, dann landet man leicht bei einer Analogie zur Sepsis, als die eine überwältigte Abwehr im psychischen Bereich immer noch gedeutet wird. (In einem solchen Fall bildet der Therapeut die Analogie zum Penicillin.) Das traumatisierte Individuum habe nicht die Mittel einer adäquaten Abwehr, es werde durch Wahrnehmungen von Willkür und Gewalt überfordert, es könne nur noch vegetativ reagieren. Zugleich – und das gibt zu denken – sei die Überwältigung der Abwehr eine zutiefst menschliche Reaktionsweise auf einen plötzlichen, unerwarteten und heftigen Stimulus. Die wesentliche Frage ist hier nun, wer für die Rehabilitation durch Traumata beschädigter Menschen zuständig ist, wenn die schädlichen Erlebnisse aus der Gesellschaft stammen. Sind es Experten, Freunde und Verwandte? Und welche Forderungen sind an sie zu richten, damit Besänftigung eintreten kann?

 

Verantwortung

 

„The psychological pathology of the individual, the microcosmos, has a mirror image in the moral pathology of the collectivity, the social macrocosmos. The collective secret is a willful ignorance of traumatic acts and a denial of posttraumatic suffering. Patients are victims twice over: victims of the original perpetrators and victims of an indifferent society. The therapeutic act of bringing the secret into full awareness is now inextricably linked to a political act. Vietnam War veterans are the first traumatic victims to demand collective recognition, and they are followed by victims of other suppressed traumas, such as childhood incest and domestic rape.“ (Allan Young (1995) Harmony of Illusions- Inventing Post-Traumatic Stress Disorder. Princeton University Press, Princeton, New Jersey. S. 142)

 

Dieses Zitat aus der Karrieregeschichte des Trauma- und Opferbegriffs macht deutlich, dass Young eine enge Verknüpfung zwischen individueller Psychopathologie und moralischer Pathologie der Gesellschaft herstellt. Über diesen Zusammenhang haben schon viele Männer und Frauen nachgedacht. Und in der Tat muss man sich fragen: Wo bleibt bei der Reaktion auf bedrohliche Gewalt und der nachfolgenden manifesten Symptombildung der das Individuum prägende und beeinflussende soziale und kommunikative Rahmen, der nach Young ein Spiegelbild moralischer Orientierung ist und zugleich die (Makrokosmos) pathologischen Züge annehmen kann, die ein (Mikrokosmos) Individuum aufweist? (Hierbei handelt es sich um ein Konstrukt, das nur durch interpretierende Verknüpfung zu erfassen ist.) Haben derContainment und Sicherheit versprechende soziale Rahmen ausgedient und ihre Untauglichkeit bewiesen, wenn ein Mensch unter oder nach Gewalt nur noch Individuum in einem mechanischen Sinne und seine psychosoziale Reagibilität in Einzelaspekte zerlegbar ist? Hat folglich ein Mensch seine individuelle Existenz nur in Verbindung mit überwältigenden Ereignissen, weil er gezwungen ist, diese allein zu integrieren, während er Freude, Glück und Partylaune mit anderen teilt? Solche Haltung erinnert mich an den verbreiteten stumpfen Optimismus in westlichen Gesellschaften. Ist der Geschädigte, den die prägende Gesellschaft allein lässt und nicht zu integrieren in der Lage erscheint, weil sie sich nicht mit ihm befassen möchte oder kann, in seiner Individualität nicht eine Abkehr von einer Imagination von Gesellschaft? Welche Bedeutung und Verantwortung übernimmt Gesellschaft, wenn sie in diesem entscheidenden Feld sich zurückzieht? Je mehr über Trauma und Diagnosen geschrieben und gesprochen wird, umso drängender werden diese Themen an „Experten“ delegiert, die dadurch Funktionen von Gesellschaft übernehmen. In der Pädagogik, im Berufsleben, im Geschlechterverhältnis usw.? Hier lag und liegt der Ansatz für eine Psychologieindustrie, die mit denselben Kriterien operiert wie die Makroökonomie, wie Tana Dineen als „Häretikerin und Renegatin“ schon 1996 diagnostizierte (Diversifikation, Wachstum, Effektivität und Rationalisierung). Wir ziehen den (vorläufigen) Schluss, dass es sich um politische Begründungen handelt, welche die Unbewusstmachung, Leugnung, Relativierung, Ignoranz des gesellschaftlichen Anteils an der Entstehung individueller Pathologie bewirken, soweit wir von Menschen verursachte Gewalt und Bedrohung ins Spiel bringen. Wir gehen hinsichtlich eines kognitiven Ansatzes soweit zu behaupten, dass Folgesymptome nach Gewalt wesentlich durch den Widerspruch zustande kommen, der darin liegt, dass moralische Werte einer Gesellschaft, die prägend für die Einzelnen sind, von eben dieser Gesellschaft aufgehoben, geleugnet oder in Ausnahmezuständen beseitigt, zugleich in kollektiven Ritualen pathetisch beschworen werden. Der Widerspruch (oder die Zwickmühle) besteht auf der kognitiven Ebene folglich darin, dass eine Gesellschaft in der individuellen Betrachtung von Abweichungen die eigenen Werte pathologisiert und vom Individuum fordert, es solle sich an moralisch pathogenen Werten orientieren. Da es sich hierbei um unsichtbare Machtpolitik handelt, werden die Individuen zum Kampfgebiet dieses Widerspruchs. Da es zudem subjektiv kaum ein Entweichen aus dieser Zwickmühle gibt, wird die subjektive Unentrinnbarkeit als Zwang erlebt und produziert die diversen Symptome, soweit Soldaten (Vietnam- oder Afghanistanveteranen) betroffen sind.

An den Veteranen des Vietnamkrieges lässt sich dieser Widerspruch exemplifizieren. Sie wurden nicht auf diese Art, Krieg zu führen, vorbereitet: Zivilisten zu töten, zu vergiften und zu verbrennen, Gefangene zu misshandeln, Tote z. B. durch Salven zu verstümmeln, durch „friendly fire“ eigene Kameraden zu verwunden und zu töten. Sie konnten auch nicht darauf vorbereitet werden, weil sie in einen Konflikt mit ihrem Selbstverständnis und ihren Motiven geraten wären. Sie konnten erst nach dem Kriege (Entlassung) feststellen, dass sie ursprünglich einer anderen Moral anhingen, als sie im Kriege zu praktizieren gezwungen waren. Nun aber wurden alle anderen Menschen als potenzielle Feinde betrachtet. In ihrer Wahrnehmung hatte die politische Führung (mit teilgesellschaftlicher Billigung) sie in die moralische Zwickmühle getrieben. Da von der politischen Führung keine Klärung dieses Widerspruchs zu erhalten war, musste zwangsläufig der gesundheitliche Reparaturbetrieb in die Bresche springen, indem er die moralische Pathologie der Gesellschaft in eine individuelle Pathologie umformte. Das gilt ja in vielen Bereichen, indem Psychologen und Psychiater gezwungen sind, eine widersprüchliche Moral aufrechtzuerhalten und den unbewusst gemachten Anteil von Moral zu verteidigen, unbewusst zu lassen oder schönzureden. Die Veteranen bildeten ihre Symptomatik nicht aus, weil sie belogen worden waren, sondern weil niemand die Verantwortung für die moralische Zwickmühle übernahm, in der sie Scham und Schuld anhäuften. Umschriebene moralische Grundsätze der US-Gesellschaft werden inkorporiert, bilden Identität und Motivation. Jahrelanger Verstoß gegen konstituierende Elemente habitueller Identität ist außer Stande, integriert zu werden. Dies gilt für Soldaten überall, die vorbereitend zum Verstoß gegen ein Tötungstabu gedrillt werden.

 

Wir sind nach der Beobachtung von und dem Gespräch mit rund 800 extrem Traumatisierten und der Kenntnis der Reaktionsmuster von Angehörigen der Auffassung, dass es sich, verkürzend gesagt, um Angststörungen auf Seiten des Individuums und der Gesellschaft handelt. Da, wie Lévinas betont, die Angst vor etwas zugleich die Angst um etwas sei, haben wir uns zu fragen, was denn dieses „etwas“ sei. Bei Traumata, die ein Individuum in die unmittelbare Nähe der Lebensbedrohung und des eigenen Todes führen, liegt dieses „Etwas“ in der Erkenntnis der Endlichkeit des Subjekts. Menschen haben Angst vor einer (strafenden oder quälenden) Gewalt und zugleich um die Unerbittlichkeit der eigenen Endlichkeit. Im Katalog der Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung ist auch der Anblick des Todes eines Anderen (oder einer nahestehenden Person) als auslösendes Moment für posttraumatische Symptombildung genannt. Auch der Tod eines Anderen führt zum Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und, wie Lévinas sagt, zur Verantwortung für den Tod des Anderen.

Bei Gesellschaft ist dies wohl nicht anders. Auch sie kann

kollektive Angst empfinden vor Gewalt und um ihren Bestand fürchten. Um den Bestand einer Gesellschaft und ihrer Sozialität zu sichern, verfällt Gesellschaft auf besondere argumentative Muster: Gesellschaft erfreut sich eines höheren Werts der eigenen Existenz gegenüber dem Individuum. Oder dekretiert mit Hilfe der größeren Zahl und Majorität. Oder sie operiert mit der spontanen Unbewusstmachung ihrer unterlassenen Hilfeleistung und ausgrenzenden Untätigkeit. Solche Strategien sind mit Scham und Schuldgefühlen verbunden, die nachhaltig an die Ängste erinnern helfen und somit einen festen Verschluss an der Kiste des unbewusst Gemachten bilden. Dadurch kann Gesellschaft Handlungsfähigkeit gegenüber traumatisierten Individuen einbüßen, wie auch in einem intrapsychischen Prozess das traumatisierte Individuum seine Handlungsoptionen (z. B. durch Vermeidung)  verlieren kann. Das Resultat, das zwei reduzierte Handlungsfähigkeiten hervorbringen, wird zum Eintrittsbillett von Wissenschaft und Expertentum.

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Gesellschaftliche Unbewusstmachung von Verantwortung

 

Es stellt sich aus unserer Perspektive also wiederholt die Frage, ob es das als traumatisch bezeichnete Ereignis ist, das den Komplex von unterschiedlichen Symptomtypen hervorbringt oder erst die verleugnende oder relativierende Reaktion der Mitwelt. In der Antwort, die wir in täglicher Praxis stotternd zu formulieren suchen, sehen wir Implikationen für Unterstützung, „Therapie,“  gemeinschaftliche Hilfe, Erweiterung eines Unterstützungskonzepts.

Wir wissen, dass wir hier ein Minenfeld betreten, war es doch bislang allgemeine Auffassung, dass nur das traumatische Ereignis in Verbindung mit einer individuellen Reaktion eine posttraumatische Störung mit charakteristischen Symptomen hervorrufen könne, eben weil die Symptome nun mal an das Individuum gebunden sind. Der Einfluss einer umgebenden Gesellschaft wurde vernachlässigt, und gar eine direkte Beteiligung der menschlichen Gesellschaft an der Ausformung von Symptomen wird nach wie vor vehement abgewehrt.

Selbstverständlich geschieht dies nicht oder nur selten in vorsätzlicher Weise. In unbewusster Art setzt eine Gesellschaft zahlreiche Instrumente der kollektiven Abwehr gegenüber einer traumatisierten Person ein, nachdem diese eine lebensgefährdende Situation überlebt hat. An der Verbannung von gesellschaftlicher Verantwortung ins Unbewusste sind stets Akteure mit bestimmten Interessen beteiligt, die Deutungen von Realität und ihren krank machenden Wirkungen akzentuieren, verbreiten und im öffentlichen Diskurs durchsetzen

 

 

Man wird nun folglich davon ausgehen müssen, dass die Vorannahmen und Meinungen über die Welt nicht nur im betroffenen Individuum erschüttert werden, sondern zugleich das kommunikative System, das in der Erziehung und individueller Entwicklung wirksam wird, betroffen ist. Die Zusammensetzung und die Inhalte dieses Systems sind jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer begleitenden Diagnostik, einer klinischen Bewertung oder korrigierenden Behandlung. Sie tauchen in keiner Klassifikation von Symptombildungen auf. Sie werden nicht auf die Anklagebank gesetzt, und sie müssen nicht zur Verantwortung, die sie haben, gezogen werden. Sie enthalten bereits jene Strategien, die Verantwortung leugnet. Daher regt sich der Verdacht, dass eine gesellschaftliche Verantwortung und Beteiligung an den posttraumatischen Irritationen unbewusst gemacht wird, indem eine auf das Individuum zielende Diagnostik als Praxis durchgesetzt wird.

Wir fragen uns daher, ob nicht eben diese Leugnung einer Verantwortung für den Mitmenschen zu einer Symptombildung führt. Die Leugnung von Verantwortung geht ja stets mit der Verweigerung der Anerkennung des verletzenden Charakters eines Ereignisses einher. Nach den gängigen klinischen Kategorien beginnt die Ausbildung einer klinisch relevanten Symptomatik rund vier Wochen nach einem traumatischen Ereignis. Sie kann mit erheblicher Latenz auch viel später erscheinen.

Sowohl in den vier oder sechs Wochen, die nach der unmittelbaren Entwicklung einer Antwort auf einen „extremen Stressor“ vergehen, als auch im weiteren, scheinbar symptomfreien Leben eines Traumatisierten hat der betroffene Mensch Kontakte zu Mitmenschen, Institutionen, in einem Wort: zu einem Echo auf seine Erlebnisse. Er soll berichten und in Worte fassen, was aus dem begrifflichen Fundus von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt  und in unterschiedlicher Tiefe gelernt wird. Er wird schweigen wollen, wenn die zur Verfügung  gestellten Begriffe nichts hergeben. Das traumatische Gedächtnis verfügt nur über ein geringes Potenzial sprachlicher Begriffe.

Für eine von uns vermutete Unbewusstmachung gesellschaftlicher Einflüsse, die prägend auf den Verlauf von  Persönlichkeit, Wahrnehmung und Integration post Trauma sich auswirken, spricht wohl auch die Verwissenschaftlichung dieses Komplexes, wobei die Akzente, die Wissenschaften setzen, von Interessen und eingeengten Grenzen der Methodik und Ethik geleitet sind. In einem naturwissenschaftlichen und psychomedizinischen Sinne wird nun in das betroffene Individuum „hineingeforscht.“ Wechselwirkungen zwischen Selbstverständnis von Individuen und prägenden gesellschaftlichen Faktoren lassen sich unseres Erachtens nicht in diesen Kategorien allein erfassen. Zwar spielen naturwissenschaftliche (neurophysiologische) und psychomedizinische Faktoren bei traumatischen Folgereaktionen eine Rolle, fraglich ist jedoch, wie sich Haupt- oder Nebenrolle verteilen. Unter kulturwissenschaftlichen, sozialanthopologischen Vorzeichen wohl eher eine Nebenrolle.

Wiederholt ist in Kriegszeiten die psychiatrische Aufmerksamkeit auf psychisch geschädigte Menschen, vor allem Soldaten, gerichtet worden. Im ersten und zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die ärztliche Fürsorge der Militärpsychiater auf die rasche Wiederherstellung der Kampffähigkeit. Psychiater wurden zu „Maschinengewehren hinter der Front“, wie es Freud nach dem Weltkrieg I einmal nannte.

Obschon es sich bei den Betroffenen um Reaktionen auf extreme Lebensbedrohung handelte, musste diese Ursache der Symptomatik unbewusst gemacht werden. Wenn Krieg Realität repräsentierte, war jede Form, dem Krieg zu entgehen, als mangelhafte Anpassung an die Realität zu klassifizieren. Perfide!

In der Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen als Folge einer traumatischen Situation liegen der Anlass und die Ursache für eine Verallgemeinerung, die Diagnosen ermöglichen soll. Die resultierende Klassifikation als Aneinanderreihung von Einzelphänomenen und die gleichzeitige Aussonderung von seltenen und unähnlichen Qualitäten haben unter anderem die Aufgabe, der Logik (und damit einer Wissenschaftlichkeit durch Experimente) den Weg in die Diagnostik menschlicher Verhaltensweisen – der Biowissenschaft -  zu bahnen, was nachvollziehbar zu großen Problemen führen muss, weil der Gegenstand der Beobachtung und Beschreibung sich in konstanter Veränderung befindet, wann immer er in Interaktion mit Umwelt, mit therapeutischen Personen, mit Verwandten und Ideen tritt. Beschrieben werden kann nur in einer Momentaufnahme ein gleichsam in alle Richtungen bewegliches Ziel, wenn als Eingriff in die Naturgesetze die Zeit angehalten wird, während das beschriebene Phänomen sowohl in der Zeit als auch durch soziale und andere Sinneseindrücke fortgeschritten ist. Mit anderen Worten: Prozesse lassen sich nicht in Momentaufnahmen einfangen.

Kann man nun dynamische Prozesse einer Beschreibung öffnen, in der berücksichtigt wird, dass die klassifizierten Qualitäten menschlichen Verhaltens einem fortwährenden Wandel unterliegen? Psychische oder psychosoziale Symptome, die sich zur Beschreibung eignen, sind folglich nicht stationär wie eine Nase oder ein Finger. Was Symptome nach traumatischen Erlebnissen einer wissenschaftlichen Erforschung zugänglich macht, mag vor allem ihre Funktion sein, die von Interaktionen und Sinneswahrnehmungen relativ unberührt erscheint, jedoch eine menschliche Definition voraussetzt. Die Funktion der posttraumatischen Symptome ist der Hinweis auf ein Trauma. Jeder Mensch weiß, dass posttraumatische Symptome irgendwann in jedem Leben (zeitweilig) auftauchen. Unspezifische Funktionen erinnern an Paradoxien, denn wenn Menschen Funktionen bestimmen und in Kategorien anordnen, dann definieren sie im Allgemeinen spezifische vernünftige Funktionen (das Auto hat die Funktion der Fortbewegung, es hat nicht die Funktion zu töten). Nun verhalten sich Symptome empirisch nicht wie „rote Ampeln,“ die ihre Funktion deutlich zu erkennen geben. Vielmehr zeigen posttraumatische Symptome ihre Funktion überhaupt nicht gezielt an, sondern offenbaren sie erst in einem interpretierenden und differentialdiagnostischen Akt. Die Funktion der Symptome, die eine Klassifikation erlaubt, erscheint verborgen. Sie werden erst zu Indizien auf ein Trauma, wenn bestimmte Phänomene durch Experten in einer Klassifikation einem Trauma als spezifisch zugeschrieben werden. Dadurch wird behauptet, dass eine Summe bestimmter Symptome (nach Isolierung vom ganzen Leben) sich verhält wie die Summe bestimmbarer Mineralien, die in einem Granitstein enthalten sind und für ihn spezifisch gelten. (Über die quantitative Zusammensetzung sagt dies nichts aus: für eine klinische Manifestation muss man zwangsläufig einen Schwellenwert denken, jenseits dessen die Symptome erst zu einem Krankheitswert werden. Aber was geschieht diesseits? Sensibilisierung? Desensibilisierung? Akkumulation von Kränkungseinheiten?)

Hier nun wird die posttraumatische Symptomatik völlig von der Logik in Stich gelassen, da Symptome eine umfassende lebensgeschichtliche Realität repräsentieren, die zur Persönlichkeit gehört (Zizek) Damit wird das Bündel von Symptomen, das ein Mensch nach extremen Ereignissen zeigt, nicht mehr durch die Funktion charakterisiert, auf ein Trauma zu verweisen. Vielmehr verweist es auf die ganze Person, seine Lebensgeschichte und seine Unverwechselbarkeit mit zahllosen Variablen. Die Persönlichkeit mit samt ihren Symptomen enthüllt sich averbal durch Verhalten oder in Erzählungen. Wenn, haben wir uns gefragt, Symptome Teil der Persönlichkeit sind, sollte man sie dann überhaupt „wegtherapieren“? Wenn Symptome als Ausdruck lebensgeschichtlicher Realität verstanden werden, entziehen sie sich dann nicht „normalisierenden“ therapeutischen Schritten im Individuum?

Eine traumatisierte Person möchte von dem quälenden Charakter der posttraumatischen Symptome befreit werden, weil sie sich in hohem Maße gestört fühlt. Sie willigt im Allgemeinen in die Veränderung ihrer Persönlichkeit ein.

Das ist die Stunde der Experten.  Eine gewisse Willkür liegt darin, dass die Bildung von allgemeinen Begriffen und ihren vorgeschriebenen Bedeutungen in vergleichenden Prozessen hergestellt wird, in denen die Elemente ausgesondert werden, die vielen Fällen gemeinsam sind, und diejenigen Elemente ins Unbewusste fallen, durch die sie sich vom Verallgemeinerten unterscheiden (John Dewey).

 

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Der Begriff des Traumas in seiner Verwandlung von der Physiologie zur Psychologie hat eine längere Geschichte durchlaufen. Als der gewandelte Begriff für psychotherapeutische Exerzitien wieder entdeckt wird, gegen Ende der 1970er Jahre, beinhaltet er in erster Linie die Erfahrung von Lebensgefahr und Sterben bei Soldaten, die in den Vietnam-Krieg getrieben worden waren und nach ihrem Überleben unerwünschte Symptome im Fühlen, Handeln und ihrer Wahrnehmung von Realität zeigten, die von Aggressionen, Selbstbeschädigung, Ruhelosigkeit gekennzeichnet waren. Dies hatte zunächst prägenden Charakter, weil die Symptome der Veteranen in den diagnostischen Katalog eingingen. Zuvor war der Begriff des Traumas weit gehend für Verfolgte und Überlebende des nazistischen Holocaust reserviert geblieben. Die US-Psychiatrie, zwischen Pragmatismus und Oberflächlichkeit im theoretischen Bereich angesiedelt, beglückte die westliche Welt mit einem Syndrom posttraumatischer Störungen. Dabei wurde festgeschrieben, dass einer bestimmten vorgeschriebenen Zahl an Symptomen ein Krankheitswert zukommt, wenn ein traumatisches Ereignis vorausgegangen ist. Damit wird implizit anerkannt, dass die Realität, wie sie ist, zu seelischer Beschädigung führen kann. In einem Zirkelschluss wurde ferner bestimmt, dass die Chance, nach einem traumatischen Ereignis an einer multiplen Symptomatik zu erkranken sehr groß und bei keinem Menschen auszuschließen sei, dass ein traumatisches Erlebnis in die therapeutische Praxis führen werde. Dabei kann es sich um Traumata der fernen Vergangenheit handeln oder um kürzlich eingetretene. Sie mögen sich plastisch in der Erinnerung eingeschrieben haben oder sich durch einen Dissoziation genannten Prozess verborgen haben, aus dem sie sich durch weitere Symptome in verwandelter Form zeigen. Interpretation von Indizien und Bezügen ist in den Fällen angezeigt, in denen ein Narrativ keine lückenlose Erlebniskette erkennen lässt.

Die Psychoindustrie hat mit Einführung ihrer Erkenntnis, dass die Realität zu psychischen Störungen führen kann, einen unerschöpflichen Markt geschaffen, auf dem fortlaufend neue Störungsbilder konstruiert werden.

Nach einigen Jahren hektischer Suche nach dem Kern psychischer Reaktionen machte sich die Erkenntnis durch Erfahrung breit, dass ein traumatisches Erlebnis nicht zwangsläufig in eine posttraumatische Symptomatik führen müsse und dass die eintretenden (sie treten ätiologisch in der Tat von außen ein) Symptome zugleich Teil anderer psychiatrischer Diagnosen seien. Für diese Symptome wird allerdings eine Diagnose erforderlich und neu zusammengesetzt, wenn ein traumatisches Ereignis in der Vorgeschichte eines Menschen zu eruieren sei. Damit wurde – im Gegensatz zu den meisten psychiatrischen Diagnosen – ein äußerliches Gewaltereignis für eine psychische Störung verantwortlich gemacht.

Eigentlich eine unerhörte Neuigkeit, die zur Frage berechtigt, warum der medizinische Bereich für zuständig erklärt wurde! Jedem zu Empathie fähigen Menschen war diese Tatsache seit Jahrhunderten bekannt; genauso wie Prügelpädagogik nicht gerade zu einem glücklichen Leben verhilft, weil sie mit dem Gefühl der Demütigung verbunden ist. Allerdings eine Erkenntnis, die anfangs nur selektiv anerkannt wurde. In eine krankheitswertige Symptomatik nämlich könnten nur umschriebene Traumata führen, und weil die Psychiatrie sich zu Beginn der Neueinführung von Diagnostik auf Veteranen fokussierte, war das wesentliche Symptome auslösende Trauma die Lebensgefahr von Soldaten und der Anblick von Toten, die (zumeist) der eigenen Einheit angehörten. Erst allmählich wurde der Kreis traumatischer Erlebnisse, die in chronische posttraumatische Symptome münden könnten, konstant erweitert. Zur Absicherung der Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ wurden Komorbiditäten benannt, die Überschneidungen zur Symptomatik der posttraumatischen Störung aufwiesen, aber auch Dispositionen zu anderen Krankheitsbeschreibungen anzeigten. Die Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung rettete sich mit dem Konstrukt von Komorbiditäten aus einer Krise, die durch Reparationsansprüche einerseits und durch die beobachtbare Tatsache andererseits verursacht worden war, dass nämlich nicht jeder von Erlebnissen Überwältigte die spezifischen Symptome aufwies. Durch die Zuordnung von Komorbiditäten konnten Rentenansprüche von traumatisierten Personen abgewehrt werden. Später trat dann auch die „partielle Belastungsstörung“ hinzu, die ein weit gehend normales Alltagsleben führen ließ, jedoch bei Stichwörtern oder -situationen zu Schlüsselerlebnissen eine posttraumatische Symptomatik auslösen konnte. Im Bereich des Gutachterwesens verzweigten sich die denkbaren Interpretationen immer mehr, und nicht selten fand ein Gutachter eine Krankheitsbeschreibung, und ein anderer ein dieser widersprechendes Urteil. Dies wurde besonders deutlich, wenn zugleich die Glaubhaftigkeit des zugrunde liegenden Traumas in Frage gestellt wurde, wie dies bei Flüchtlingen oder Frauen, die sexualisierte Gewalt beklagten, oft der Fall war.

 

Während Vergangenheit und Gegenwart bei einer traumatisierten Person in einem konfliktreichen Verhältnis stehen, konstruiert die Psychologie ein System ohne Konflikte, womit die Systematik gemeint ist und nicht das therapeutische Ziel oder der therapeutische Weg. Die Systematik  beruht auf Verstehen, indem sie Vergangenes in einen Sinnzusammenhang mit der Gegenwart bringt. Auch in solchen Fällen, in denen es keinen offensichtlichen Sinn gibt; herrscht bei Therapeutinnen ein Zwang zur Sinngebung. Das war der Zweck  aller Religionen, die den letzten Sinn in Gott gefunden zu haben meinten. Was als Schrecken oder Unwissen von außen kam, wurde ursächlich nach ganz außen projiziert. Damit existierte zu allen Zeiten ein geschlossenes System, das Sinn suggerierte und den Ausgangspunkt von Verstehen bildete.

 Therapeuten von Traumapatienten haben es insofern einfach, als sie nicht zu deuten gezwungen sind, was als Ursache für eine umfangreiche, empirisch gefilterte Symptomatik in Betracht kommt. Die verursachenden Elemente liegen dann auf der Hand, wenn der Patient seine Sprache nicht verloren hat, wenn der Klient von sich aus redet und nicht aus Abwehr und Vermeidung den Therapeuten nötigt, die Trickkiste der landläufigen oder seiner speziellen Deutungen zu öffnen. Selbstverständlich bleibt immer noch genügend Material für Interpretationen, das sich auf die Entwicklung der posttraumatischen Symptomatik bezieht, die zu einem Alltagsleben „untauglich“ machen. Die Lebensgeschichte eines Menschen ist durch ein Ereignis  - zumeist ein plötzliches und unerwartetes Gewaltereignis - aus den Fugen geraten. Verstehen, d.h. Zusammenfügen und Interpretieren seitens des Therapeuten setzt folglich nach dem traumatischen Ereignis ein und betrifft eine manifeste oder drohende Symptomatik.

 

„Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muss schon das Auszulegende verstanden haben. (...) wissenschaftlicher Beweis darf nicht schon voraussetzen, was zu begründen seine Aufgabe ist. Wenn aber Auslegung sich je schon im Verstandenen bewegen und aus ihm her sich nähren muss, wie soll sie dann wissenschaftliche Resultate zeitigen, ohne sich in einem Zirkel zu bewegen (...)?“

(M. Heidegger (1931) Sein und Zeit, §32, S. 152f)


Was also hat der Therapeut von Traumapatienten bereits verstanden, wenn er sich an die Auslegung macht?

 

Posttraumatische Zustände zeichnen sich dadurch aus, dass Menschen mit einer solchen Störung keine Aufklärung über die Ursache benötigen. Sie liegt gleichsam auf dem Tisch. Im Allgemeinen wird in abschwächender Weise die Bezeichnung „Krankheit“ vermieden. Der Begriff Störung suggeriert, dass ein normaler Ablauf von Motiven, Empfindungen und Handlungen nicht erfolgreich ist, und der Gestörte diffuse Kenntnis über die psychische Entwicklung der Symptome hat. Damit taucht die Symptomatik in den sozialen und kommunikativen Bereich ein, weil dort diejenigen Normen formuliert werden, die ein Mensch mit posttraumatischer Störung in seiner Selbstwahrnehmung verletzt (und die ihn verletzt).

 

„Wir anerkennen Kausalbeziehungen, aber die Folge ist nie proportional der Ursache, noch ist sie sogar stets die gleiche. Die Wirkung der pathogenen Ursache ist Resultante ihrer Stärke und Disposition, also schließen sich die Kausalzusammenhänge mit ihren inkommensurablen, prädisponierenden Faktoren an.“( Ludwik Fleck (1927) Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens. Frankfurt/M. Suhrkamp 1983. In L.F. Erfahrung und Tatsache, S 42.)

 

 Erlebnissen durch Gewalt aus dem sozialen Raum sprechen wir die Kraft zu traumatischen, zu verletzenden Wirkungen zu.

Das Besondere an der posttraumatischen Belastungsstörung ist, dass sie ein Stadium durchläuft, in dem sie weder Gesundheit noch Krankheit ist, d.h. ein Stadium latenter Pathogenität, die sich prophylaktisch angreifen lässt, wenn das auslösende Moment bekannt  und als reales Erlebnis erzählbar ist. Manche Infektionen verlaufen inapparent, weisen eine lange Latenz auf, bis sie erfahrbare Symptome hervorbringen wie z.B. Infektionen mit Mykobakterien oder Treponemen. Das traumatische Erlebnis verhält sich davon unterschieden. Es muss freilich als traumatisch nicht nur erlebt, sondern in diesem Charakter auch wahrgenommen werden. Es darf mithin nicht bagatellisiert, verleugnet oder rasch verdrängt werden. Es bedarf eines Narrativs, das der Umwelt anzeigt, hier sei eine Erschütterung eines durchschnittlichen Gemüts erfolgt. Die Parallelen zur bakteriellen oder viralen Infektion scheinen nahe zu liegen. Der Keim des traumatischen Erlebnisses läge danach in einer psychophysischen Gewalt aus der Umwelt, die zu einer Veränderung von zeitlichem Erleben und individueller Konstruktion von Wirklichkeit führt, weil diese mit Schmerzen und Demütigung verbunden sind. Freilich erklärt dieses Ursache-Wirkungsschema nicht die nachfolgenden Symptome. Sie müssen, obschon sie Ausdruck absoluter Individualität sind, gleichsam überindividuell schlicht hingenommen werden, weil sie statistisch in einer signifikanten Zahl von posttraumatischen Zuständen als gesammelte auftreten. Gesammelt bedeutet hier, dass eine Extrapolation von Symptomen als typisch vorgenommen wurde und eine Reihe weiterer Symptome als marginal oder nur selten auftretend ausgeschlossen wurden. Zumindest aus den Fragebögen und screening-Verfahren. Die Einengung der schematischen Diagnosestellung beschränkt daher auch die Interpretation des individuellen Verlaufs einer erlebnisbedingten Symptomatik.

Nach dem traumatischen Erlebnis finden wir also nicht nur einen Schwebezustand zwischen Gesundheit und Krankheit, der traumatische Charakter des Erlebnisses muss auch ins Bewusstsein dringen, damit ein Narrativ resultiert. Dieses Bewusstsein existiert heute als allgegenwärtiges Dispositiv, das in öffentlichen Beschreibungen, kausalen Kurzschlüssen und parallelisierten Beispielen in Presse, Funk und Fernsehen als benutzbare Matrix in jedem Haushalt bekannt ist, zumal die rechtlichen Konsequenzen aus gewaltbedingten Verletzungen eine traumatisierte Person geradezu dazu zwingen, eine möglicherweise latente Symptomatik in eine aktuelle zu verwandeln und als solche zu berichten. Kaum ein fremdsprachiger Begriff hat eine derartige Karriere ins Populäre gestartet wie der Begriff Trauma. Bei solchen Karrieren fragen wir uns nach den Interessenten und Nutznießern. Ohne große Umschweife landen wir bei der Psychoindustrie. Dies schließt die Pharmaindustrie ein.

Eine alte, immer wieder gestellte Frage ist die nach der Zwangsläufigkeit von Symptombildungen sowie nach Dispositionen für Verletzlichkeit und dauerhafte Verletzung nach traumatischem Erleben. Ferner ließe sich die Frage nachschieben: Wie intensiv muss das Erlebnis ausgefallen sein, um eine Kette von Symptomen auszulösen, die das individuelle Bearbeitungsvermögen überfordern? Ist es vorstellbar, dass wiederholte Foltererlebnisse mit Todesdrohung die gleiche Symptomatik und in gleicher Hartnäckigkeit hervorbringen wie ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung?

 

Zu Beginn der Diagnostik posttraumatischer Zustände und Prozesse haben Experten noch getröstet, die posttraumatische Reaktion sei eine durchaus normale Reaktion auf ein plötzlich hereinbrechendes Ereignis. Hiervon ging man aber in dem Maße ab, in dem kategorisierte Symptombeschreibungen Zeitgrenzen bestimmten, nach denen von einer Krankheit auszugehen sei. Zu lange Trauer sei ebenso pathologisch wie monatelange Flashbacks oder Vermeidungsverhalten. Die ursprünglich normale Reaktion auf ein ungewöhnliches Ereignis wurde zu einem Unsicherheitsfaktor erklärt und damit eine Trennung von „normal“ und „anormal“ unsicher gemacht, d.h. aus dem Versuch einer präzisen Bestimmung verbannt.

Im weiteren wurde mit verblüffender Energie nicht mehr das ungewöhnliche, willkürliche Gewaltereignis fokussiert, sondern allein die Folgephänomene im psychosozialen Leben eines betroffenen Individuums in den Mittelpunkt der diagnostischen und dann therapeutischen Betrachtung gerückt. Mit der ethischen Begründung, dass das Leiden an der Symptomatik gelindert werden müsse. Auch die zahlreichen posttraumatischen Einwirkungen aus der Umwelt auf den Prozess der Symptombildung gerieten aus dem Blickfeld, wenn mit schematischen Methoden eine Diagnose gesucht wurde. Es war unbestreitbar, so die landläufige Auffassung, dass allein das traumatische Erlebnis für die individuelle Symptomausprägung verantwortlich war. Nach den Untersuchungen von Keilson hätte man eigentlich eine solche Auffassung nicht mit Ausschließlichkeit äußern können. Vermutlich haben gesellschaftliche Scham und Schuld den Prozess der Symptombildung in die individuelle Psyche verlagert, in zumeist unbewusster, aber bereitwilliger und selbst schützender Haltung. Diese geschilderte historische Entwicklung ist vielen Diagnostikern geläufig. Sie teilen im Gespräch die skeptischen Einwände. In der Praxis findet sich dann nichts mehr von kritischer Distanz, weil sich die Forderung zu handeln zu einer Pragmatik verkürzt. Das ist deshalb bedauerlich, weil in der Praxis zahlreiche Beobachtungen gemacht werden, die sich der Schematisierung entziehen oder ihr gar widersprechen.

 

Ein bedeutsames Problem stellt der Übergang von der akuten Belastungsstörung zur chronischen Belastungsstörung dar. Auch so genannte kleinere Traumata als Kränkungen oder verbale Demütigungen (in der militärischen Ausbildung sehr häufig!) können nach allgemeiner Vorstellung und Erfahrung eine längere innere Beschäftigung mit dem Auslöserereignis zur Folge haben. Nach den gebräuchlichen Vorstellungen sollte nach etwa sechs Wochen diese innere Auseinandersetzung mit einem Ereignis, das akute wühlende Prozesse in Gang gesetzt hatte, abgeschlossen sein, bevor man als chronisch posttraumatisch belastungsgestört eingestuft werden kann. Diese Setzung erfolgt willkürlich. Man weiß allgemein, dass Menschen, denen man ein Elefantengedächtnis zuspricht oder die man als nachtragend bezeichnet,  frühere Kränkungen nicht vergessen können. Darf man ihnen eine posttraumatische Belastungsstörung attestieren?

Die gebräuchlichen Definitionen sehen für die Vergabe der Diagnose einige Bedingungen vor. Das Ereignis ist so beschaffen, dass es bei nahezu jedem Menschen eine Überwältigung, eine Panik oder Schrecken zur Folge hat. Jedoch nur ein Teil der Betroffenen bildet posttraumatisch unterschiedliche Symptome aus. Wie kommt das?

 

Wenn, wie einige Definitionsversuche herausstellen, peritraumatische Reaktionen angemessen, physiologisch, d.h. „normal“ sind, bedeutet dies mit anderen Worten, heftige Reaktionen auf Gewaltereignisse der Realität haben keinen primärpathogenen Charakter, obwohl sie physiologische Stofftransporte und Stoffwirkungen gehörig aktivieren und durcheinander bringen. Sie fallen zwar unterschiedlich aus, bleiben aber im Rahmen physiologischer Reaktionen auf bedrohliche Erlebnisse. Für die unterschiedliche Heftigkeit der Reaktionen (und der Folgewirkungen) mögen Dispositionen verantwortlich sein, der  wahrnehmende Anteil jedoch, der auf Realität antwortet und Verarbeitung einleitet, ist wie bei einer Depression angemessen, individuell und von Dispositionen gesteuert. Wenn die Realität einen beschissenen Status offenbart, dann ist eine emotionale Depression angemessen. Da mögen noch so viele Leute sagen, das Leben sei schön. Da ist was dran, die komplexe Realität ist es nicht. Eine schöne Realität gibt es für das soziale Wesen Mensch nur unter Aufbietung aller Abwehr, Verleugnung und Verdrängung. Wer sich in einem solchen wahrnehmungsgestörten Leben einrichtet, wer sich Realität schön filtert, muss schon sehr ängstlich geworden sein und tief enttäuschende Erlebnisse hinter sich haben.

 

Erst wenn die Erinnerung an erlittene Grausamkeit eine Sinnstiftung eingeklagt, kann posttraumatisch in dieses Vakuum Sinn gefüllt werden, der aus sozialer Kommunikation und Interdependenz sich herleitet. Erinnerung, die in Individuen eingeschlossen bleibt, fordert nicht Sinngebung. Sie führt zu unverständlichen Handlungen, die gleichsam unterhalb der Großhirnschwelle generiert werden. Sie muss folglich durch das Stadium der sprachlichen Erzählung gehen, wenn sie im gesellschaftlichen Leben kompetente und akzeptierte Handlungen hervorbringen soll. Man kann daran erkennen, dass Sinn aus dem sozialen Rahmen gebildet wird. Der Sinn traumatischer Erlebnisse wird in unserem Kulturkreis zu einem Zwangsmuster, das seine Energie aus dem christlichen Leidensverständnis herleitet.

Aber ist es denn so, dass die Erinnerung an erlebte Lebensbedrohung und erlittene Grausamkeiten einen Sinn fordert? An wen richtet sich die Forderung, wenn nicht an das Unbewusste, das gesellschaftlich unbewusst Gemachte, die Negation der Erinnerung? Das Unbewusste repräsentiert gleichsam den Gerichtshof über den Sinn traumatischer Erinnerungen. Vermutlich, wenn auch in geringerem Maße, richtet sich die Forderung nach Sinnstiftung für erlebte Traumata auch an die soziale Umwelt, wenn Erinnerungen aussprechbar sind. Ist Ziel und Zweck der Erinnerung eine Sinnstiftung? Soll das betroffene Subjekt zur Selbsterhaltung lernen? Oder schaffen die entstehenden Bahnungen und Verknüpfungen neue Motive für Handlungen, die wir Interessen, Strategien, Taktiken und Machtgewinn nennen und die den primär vegetativen oder instinktiven Rahmen gesellschaftlich aufwerten? Möchte die evolutionäre Entwicklung ein dem Menschen und nur ihm unmissverständlichen Sinn generieren? Und hat die traumatische Erinnerung ein Privileg vor anderen Erinnerungen, eine wiederkäuende Priorität der neuronalen Speicherung? Wenn man die Summe der unverständlichen oder nicht nachvollziehbaren Handlungen in jeder Sekunde der Welt in Rechnung stellt, kann man dann vom Sinn der Erinnerung sprechen? Erinnerung trägt Schuld ab. Sie verkleinert das Schuldkonto durch Entschuld(ig)ung. Wenn Selbstbehauptung in Frage gestellt oder gewaltsam verhindert wird, taucht augenblicklich Schuld auf. Die Selbstbeschuldigung wird durch Sprechen geboren, wenn Sinngebung zur Norm erhoben wird. Dafür wird Schweigen und scheinbar unmotiviertes Handeln an die Stelle von Sprechen gesetzt und entfaltet Wirkungen über Generationen hinweg, weil es die Selbstbeschuldigung verzögert oder abschwächt. Das anekdotenhafte Geplapper unserer Eltern nach dem NS war stets frei von Empathie, denn die sprechende Empathie mit den Zugrundegegangenen hätte das Schuldkonto erhöht.

 

Ich bin der Überzeugung, dass die Zeit, die vergeht, in nahezu jedem Fall zu einer Abschwächung von Intrusionen führt. Intrusionen können dann erneut nach längerer Latenz schlagartig auftreten, auch heftige Gestalt annehmen. Insgesamt aber treten sie, auch wenn sie konstant (z.B. durch Psychotherapie) reanimiert werden, allmählich in den Hintergrund. Die Reanimationen traumatischer Erinnerungen erscheinen aus der realen Welt, meist sogar ohne Vorsatz, durch therapeutischen Impetus oder durch zufällige Trigger. Hat eine traumatisierte Person Geborgenheit und Wohlwollen gefunden, macht sie posttraumatisch positive Wahrnehmungen, die den wiederkehrenden Bedrohungsszenarien entgegengestellt werden. Braucht es dazu professionelle Experten?


Bestimmte traumatische Erlebnisse und Erfahrungen von Grausamkeit sowie von unterbrochenen sozialen Kontinuitäten verändern die subjektive Einstellung zur Welt einer Persönlichkeit und bedeuten dadurch eine Entfernung von der Vorstellung eines guten und sicheren Lebens. Vielleicht findet aber lediglich eine weniger naive Haltung zur Realität statt.

In Lehrbüchern über die Veränderung kognitiver Schemata findet man Lehrsätze von Janoff-Bulman aus dem Jahr 1992, die kategorisch feststellen, dass durch ein traumatisches Erlebnis drei fundamentale Annahmen einer Person zerstört werden:

n  der Glaube in eine wohlwollende Welt,

n  der Glaube in ein bedeutungsvolles und kontrollierbares Leben und

n  der Glaube in ein wertvolles Selbst (Knaevelsrud, Liedl, Stammel 2012).

 

Die genannten Autorinnen zitieren Janoff-Bulman, wonach die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung erst dann wieder sich zurückbilden, wenn das traumatische Erlebnis so in das ursprüngliche Schema integriert werden kann, dass die Welt erneut als sicher erlebt wird, was natürlich nur möglich ist, wenn man den Traumaauslöser komplett vergisst. Hier scheint es sich um Voraus-setzungen zu handeln, die ein pathetisches, wenn nicht verlogenes Weltbild konstruieren helfen.

Vermutlich braucht es dazu einen Glauben! Quasireligiöse und transzendente Werturteile mischen sich unverfroren in eine Psychologie, die zu erklären sich bemüht, wie und in welchem Maße das Erleben von schrecklicher Realität sich in Wahrnehmung und Verarbeitung als Störung einschreibt. Die Glaubensliste von Janoff-Bulman kann man auch als Radikalpathos auffassen, das Hinweise eher auf falsche Weltbilder („think positive“, permanenter Optimismus) gibt als auf Realität. In zahlreichen Fachbüchern der Psychoindustrie tritt Janoff-Bulman als zitierenswert nicht mehr auf. Wer auf Janoff-Bulman zurückgreift, dem scheinen die Argumente ausgegangen zu sein. Die oft zitierten „shattered assumptions“ einer Bulman-Janoff spielen sich im doppelten Feld ab: durch die Erfahrung von Gewalt und Lebensbedrohung, die von der Gesellschaft ausgeht, und von der Brüchigkeit der Grundannahmen, welche die Gesellschaft als integrativen „Sinn“ bereitstellt. Wenn man jedoch das Opfer einer Gewalthandlung allein fokussiert, verliert man den Kontext, in dem sich Verletzung und Integration abspielen.

Betrachten wir die Aussagen eines anderen wissenschaftlichen Experten:

„Zentral für die Pathogenese (von PTSD, S.G.) ist die intrapsychische, interpersonelle und/oder transaktionale Desintegration, die ein Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein hervorruft mit dauerhafter Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bis zum Zusammenbruch wichtiger psychischer, kognitiver oder behaviouraler Funktionen.“ (G. Heuft)

Spontan fragen wir uns, welche wichtigen Funktionen wohl gemeint sind. Wir fragen uns auch, was denn dieser  pathetische, universellen Anspruch erhebende und niederschmetternde Unterton bewirken soll. Ferner fragen wir uns, ob das Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein linear zu einer multiplen Symptombildung und einem Funktionszusammenbruch fähig ist und wie der Pathomechanismus verläuft. Solche Aussagen erscheinen uns vielmehr als verschleiernde Setzungen, die sich um Antworten drücken. Es ist die Sprache der Psychoindustrie.

 

Das DSM-I wurde nach dem Weltkrieg II erstmals veröffentlicht und verdankt die resultierende Aufmerksamkeit dem emsigen Wirken eines sehr einflussreichen Psychiaters, der sowohl für die Industrie als auch für das Militär in führender Position tätig war: William C. Menninger. Das diagnostische und statistische Manual fokussierte mehr als die meisten Publikationen zuvor auf Neurosen und Verhaltensprobleme, die dem Militär und der Wirtschaft seit der Rationalisierungswelle der 1920er Jahre Probleme bereiteten. Waren noch 1962 im DSM-I 106 Kategorien unterscheidbarer psychischer „Krankheiten“ aufgeführt, so waren es im DSM-IV im Jahre 1994 bereits 350. Das sind deutliche Zuwachsraten, die mit den Börsennotierungen Schritt halten können. Durch die Einführung des DSM-I etablierte die Psychologieindustrie die darin ausgewiesenen Krankheiten und Störungen als ihr Territorium und sich selbst als angemessene Instanz für Urteile, die einer Überprüfung allerdings selten standhielten. Vor Gericht als Gutachter oder in der False-Memory-Kontroverse zeigten sich die engen Grenzen solcher Urteile. Diese Urteile setzen bereits kulturell geformte Maßstäbe moralischer Art voraus.

Offenbar hat der Druck, der von der US-Versicherungswirtschaft ausging und effektive, d.h. kürzere Therapien einforderte, dazu geführt, dass neue Ziele und Methoden in der Psychotherapie formuliert und in missionarischem Drang in die Welt getragen wurden. So war nicht mehr die Rede von Heilung durch Psychotherapie oder von der Kur, sondern von Wachstum. Und dafür brauchte es dann keine tiefenpsychologischen Techniken und Gedankengebäude, sondern coaching oder Psychoedukation. Zugleich entwickelten sich kulturelle Techniken des Alltags zu speziellen Therapieformen in den Händen von Experten: Tanz, Musik, bildende Kunst oder Schreiben von Texten. Rituelle therapeutische Maßnahmen hatten wegen ihrer archaischen Dimension zunehmenden Einfluss auf den Ablauf einer Therapie, die sich von den sprechenden Varianten abwenden konnte. Eine wissenschaftliche Evaluation, die diesen Namen verdient, hat es für die meisten Methoden der Psychotherapie nie gegeben. An die Stelle der Evaluation trat immer wieder eine Kasuistik, die durch plumpe Verallgemeinerung von Einzelfällen den Wert einer Behandlungsmethode meinte „nachweisen“ zu können. Wir können heute feststellen: Seit den 1960er Jahren sind Mengen an Therapeutinnen gewachsen, sodass man heute sich des Eindrucks nicht erwehren kann, immer mehr Menschen aus sozialen Berufen und Ausbildungen drängt es, eine Therapeutenstellung einzunehmen. In abgewandelter Form gilt das preußische Glaubensbekenntnis aus Zuckmeyers „Hauptmann von Köpenick“: Der Mensch fängt erst beim Therapeuten (Leutnant) an. Willkürlich verknüpfte Kenntnisse in Psychologie – und seien sie noch so abwegig – haben eine faszinierende Wirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Das liegt wohl an der Wirkmacht des nicht Offensichtlichen, an der Kraft des Geheimnisvollen, von der sich psychoindustriell Beschäftigte Macht entleihen und in ihrer Kommunikation einsetzen. Zumeist verbergen Psychologen aber den Aspekt der Macht im Umgang mit Patienten/Klienten. Und die Invasion ökonomischer Aspekte in die therapeutischen Angebote lässt sich oft abtun mit Hinweisen, hierzulande sei noch niemand mit Psychologie reich geworden. Ökonomie hat mit Reichtum direkt nichts zu tun, sondern mit basaler Macht. Die kommt erst durch gesellschaftliche Anerkennung und Bedeutungserhöhung zustande.

 

Die Entstehungsgeschichte des DSM-III, mit dem die posttraumatische Belastungsstörung aktenkundig und diagnostisch anwendbar wurde, war von heftigen Streitereien in der Taskforce-Kommission unter dem Vorsitz von Robert Spitzer begleitet. Spitzer verfolgte hartnäckig sein Ziel, so Lane und Dineen, „mentale Unpässlichkeiten seien echte medizinische Störungen“ zu verwandeln. Richard Schwartz opponierte gegen Spitzers Sichtweise, „abnormalities of thought, emotion and behaviour“ hätten als Krankheiten betrachtet zu werden. Dies aber gehöre nach Schwartz nicht zur Domäne der Psychiatrie, schließlich sei die APA der Verband der Psychiater.

Diese nun in der Psychiatrie auftretende Kontroverse konnte die landläufige Psychologie aufgreifen, die seit ihren verhaltenskorrigierenden Ansätzen und Versprechungen in einer Krise steckte, indem sie für ihre Disziplin die Diagnostik und Behandlung solcher neu definierter Störungen reklamierte. Schüchternheit wird pathologisiert, die Ausdrucksformen von Schüchternheit wie sozialer Rückzug, Vermeidungsverhalten, introvertierte Persönlichkeit wurden nun als soziale Angststörungen zusammengefasst und ihnen Krankheitswert zugesprochen. Dadurch konnte nahezu jeder Mensch irgendwann von dieser Krankheit betroffen sein. Schüchternheit sei gar, so Henderson und Zimbardo vom Shyness Institute in Palo Alto, eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und nehme epidemische Züge an. Beim Stichwort Epidemie ist dann sofort die Pharmaindustrie zur Stelle, und sie empfiehlt Antidepressiva.

Einige Autoren vertreten eine ähnliche Ansicht wie ich. So haben sie z.B. drei Faktoren identifiziert, die die Psychoindustrie veranlasst, neue Benennungen als Diagnosen einzuführen: moralische, die dem Zeitgeist ihre Existenz verdanken, theoretische, die zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nach Opportunität hin- und herpendeln, und drittens unternehmerische, die eine diffuse Psychoindustrie wirtschaftlich in Gang halten. Die Diagnosen der Psychoindustrie, häufig überarbeitet, sind eigentlich kulturell beeinflusst und stellen moralische Urteile dar, die das Verhalten einer Person in Pathologie verwandeln. Psychologen machen somit ihren Einfluss auf den Wandel gesellschaftlicher Werte geltend und treten als Verstärker gewandelter Werte auf. Darf man solchen Einfluss verführerische Macht nennen?

 

Die im Deutschen gebräuchliche Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) enthält mit Belastung ein Wort, das wohl eine Übersetzung von Stress sein soll. Stress als wissenschaftlicher Begriff aus der Physiologie ist umgangssprachlich mit weiten Bedeutungen versehen. Die Reaktionen auf Stress sind lang und breit beschrieben und unterschiedliche Stressoren benannt worden. Warum wird im Deutschen der gebräuchliche, medizinische Begriff Stress durch Belastung ersetzt? Wenn nun Stress zum Leben gehört und die Stressantwort physiologisch ausfällt, dann wird der weitere Verlauf posttraumatischer Befindlichkeiten nur dann pathologisch genannt werden können, wenn sich posttraumatisch pathogene Einflussfaktoren identifizieren lassen. Sind sie in psychischen Vorerkrankungen, in Dispositionen genetischer Natur, in spezifischer Vulnerabilität oder aber in der komplexen gesellschaftlichen Reaktion zu finden? Hier tut sich ein weites Feld ungeklärter Fragen auf.

 

Zum Abschluss dieser grundsätzlichen Überlegungen und historischen Ausflüge zum traumatischen Erleben will ich einen Toast ausbringen: die Einführung einer posttraumatischen Belastungsstörung (neben anderen Diagnosen) hat nachhaltig zum Ausdruck gebracht, dass psychisches Erleben in seinen vom Normalmaß abweichenden Formen auch ohne genetische Faktoren verursacht sein kann. Die Diagnose sagt nicht weniger, als dass das Erleben von Realität zum pathogenen Auslöser werden kann. Und dies ist für die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts eine Erkenntnis, die ihr zentrales ätiologisches Modell in Frage stellen muss. Das Modell eines hereditären Determinismus für zahlreiche psychische Verwirrungen hat mehr als nur einen Kratzer bekommen. Dafür können wir nur dankbar sein, weil wir nunmehr gefordert sind, die reale Welt genau zu beobachten, unsere Sinne zu schärfen und Diagnosen nach Katalogbeschreibungen zu vermeiden. Wir sind zudem aufgefordert, die pathogenen Faktoren der Realität zu verändern und nicht Individuen an eine pathogene Realität anzupassen. Insofern ist Paul Parin Recht zu geben: Mit dieser vorhandenen Realität ist keine Verständigung möglich. Wir sollten uns wehren, zuerst und vor allem gegen die großen traumatischen Erlebnisse: religiöse Hegemonie, Kolonialismus, Sklaverei, Imperialismus, Ungerechtigkeit, Rassismus, Gier und Dummheit sowie Hierarchie im Geschlechterverhältnis u.a. Alle diese traumatischen Auslöser waren und sind mit Billigung oder im Interesse von Politik in die Welt gekommen. Das ist im Kern die Bedeutung von Traumapolitik.

Mit diesen meinen vorerst letzten Überlegungen zu und Annäherungen an traumatisches Erleben und die in aller Welt stattfindenden therapeutischen Versuche habe ich gegen die anwendungsbereite Gemeinde der Psychoindustrie genug polemisiert. Es war, zugegeben, keine Zerstreuung der leichten Art.