Sepp Graessner

 

Einwürfe sollen einen Ball wieder ins Spiel bringen, der zuvor die definierte Spielfläche seitlich verlassen hat. Einwürfe als Texte und Gedanken wollen gleichfalls ins Spiel einbezogen werden, nachdem sie ins Aus gefallen sind. Wer zuletzt den Ball, den Gedanken oder die Reflexion absichtsvoll oder versehentlich nur berührte, sieht sich einem Einwurf gegenüber.

Unter den politischen Rahmenbedingungen für die Erfindung der Kategorie Psychotrauma und der psychiatrischen Diagnose PTBS mit detailliertem Symptomkatalog durch die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) sollte nicht übersehen werden, dass die Vorarbeiten und die forcierte Aufnahme der Diagnose in das diagnostische und statistische Manual mentaler Störungen (DSM) nicht nur mit der Endphase des Vietnamkrieges zusammenfielen und massive Auswirkungen auf die Betrachtung psychosozialer Probleme von Veteranen hatten.

Auch in der Konfrontationsphase des  „Kalten Krieges“ traten unterschiedliche Grundansichten über das Wesen des Menschen zu Tage, über moralische Haltungen und die Einflüsse der Politik auf psychische Prozesse. Wir meinen eine Periode, die hinsichtlich der Verhältnisse der Psychiatrie in der Sowjetunion einen Widerwillen, Empörung, ja Ekel bei westlichen Psychiatern erzeugten, die sich überwiegend auf Gerüchte, selten auf exaktes Wissen stützten. Propaganda und Gegenpropaganda sollten den jeweiligen Gegner als inhuman zeigen. In der Sowjetunion hatte die Psychiatrie – vor allem in Kliniken – die Aufgabe, abweichendes Verhalten medikamentös oder durch Wegsperren zu korrigieren oder zu verunmöglichen. Indem auch abweichende Meinungen und Äußerungen gegen die offizielle Linie in psychiatrische Kategorien gefasst wurden, entstand ein Schrecken erzeugendes Strafsystem. Zu den Details erreichten den Westen immer mehr Informationen, sodass sich Initiativen bildeten, die den Missbrauch der Psychiatrie durch den Sowjetstaat anklagend in die Öffentlichkeit trugen. Selbst wenn nicht explizit eine Praxis in Abgrenzung zur sowjetischen Psychiatrie entwickelt werden sollte, so bildeten die Ereignisse, die von Dissidenten berichtet wurden, eine hintergründige Konstellation, die als Motive für die Einführung von PTBS gedeutet werden können. Systemkonkurrenz war dem amerikanischen Kapitalismus ja nicht fremd. „Kommunisten“ waren überall und offiziell präsent, 15 Jahre nach McCarthys Verschwörungstheorien. Real aber waren die Sorgen, die durch die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979 ausgelöst wurden.

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Sepp Graessner

 

 

Prekäre Lebensverhältnisse, Deklassierung, extreme Armut, Obdachlosigkeit, wegelagerndes Betteln als permanente Demütigung können sehr wohl als Folge von traumatischen Erlebnissen in sequentieller Weise verstanden werden, vor allem, wenn die Konfrontation mit Lebensbedrohung als soziale Existenz- und Freiheitsbeschränkung sowie als soziale Vernichtungsandrohung verstanden wird.

Landläufig werden die Folgen zu einer Schuldfrage umgewertet, bei der klar sei, dass die Betroffenen die Schuld tragen, weil sie nicht in der Lage waren, die Ursachen in bürgerlichen Normen zu meistern, sondern durch unerforschte Umstände den Ursachen für die Folgephänomene erlegen sind, ohne sich heroisch dagegen zu stemmen, wie es ihre gesellschaftlich definierte Pflicht gewesen wäre.

Besonders die SPD hat in jüngster Vergangenheit Beispiele dafür geliefert, dass die „Verweigerung“ oder „Vorenthaltung“ von gesellschaftlich „wertvoller Leistung“ prekäre Verhältnisse bewirkt hätte, während die Linke allein mit staatlicher Umverteilung Probleme sozialer Ungleichheiten lösen wolle, die doch, so die allgemeine Ansicht, in der schwachen Persönlichkeit der deklassierten Person liegen. Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor: der Willen zur Leistung, ein Aufstieg zur Arbeiteraristokratie (heute: Mittelschicht), Kampf den Leistungsunwilligen, Bestrafung des „Schmarotzertums“, Kostenrechnungen über Sozialleistungen im Schulalltag usw. Das war die Rhetorik der Ultrarechten am Ende der Weimarer Republik.

         Ich behaupte, dass die Narrative, die zu Deklassierung und extremer Armut vorgetragen werden, sehr viele Schnittpunkte zu willkürlichen Handlungen aufweisen, die in vergleichbarer Weise von traumatisierten Personen angeklagt werden. Die Verbindungslinie dieser zwei Narrative führt auf Erlebnisse mit ungezügelter Macht zu, in Disziplinierungsinstanzen, in staatlichen Institutionen, in der Familie, in bewaffneten Kriegen und wissenschaftlichen Kämpfen.

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                                         Erster Einwurf

 

Wer einmal beobachtet hat, mit welch ungläubigem und misstrauischem Ausdruck Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten auf Fragen nach ihrem psychischen, emotionalen Befinden reagiert haben (besonders wenn sie fest religiös verankert sind), der kann nicht umhin, dieses kommunikativ-invasive Muster in der Begegnung mit Flüchtlingen zu befragen. Wir gehen ja leichtfertig davon aus, dass Flüchtlinge, wenn sie eine Unterstützungsinstanz aufsuchen, aufgrund der wohlwollenden und erkennbar gemachten Motive der Helfer überzeugt werden, dass sie alles erzählen können, was ihnen vor und während der Flucht widerfahren ist, aber dass sie auch zu allen Details ihrer Erlebnisse befragt werden können. Wir gehen auch davon aus, dass sie alles erzählen wollen, weil und wenn sie feststellen, dass ihnen Schutz, Mitgefühl und soziale Kompetenz im Zielland entgegengebracht wird. Dies gilt für normale Kommunikation; Traumatisierten kostet die Vertrauensbildung eine große Anstrengung. Flüchtlinge mit unterschiedlichen Traumata wünschen die Anerkennung ihrer traumatischen Erlebnisse in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld. Dazu müssen sie einen Deal eingehen: Verfolgungs- und Leidensgeschichte gegen das Versprechen einer Linderung sowie Unterstützung im unbekannten Dickicht der Bürokratie.

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Variationen einer Kritik am Konzept der PTBS.

 

 

 

Die Literatur zur posttraumatischen Belastungsstörung ist in ihrer Vielfalt inzwischen unübersehbar geworden. Über 95 % der Publikationen zeigen einen affirmativen Charakter – sie stammen vor allem aus der „westlich geprägten Kultur“ - , 4 % wählen eine angenäherte Position an die Grundannahmen von PTSD und behalten sich skeptische Einwände vor. Lediglich rund 1% der Veröffentlichungen hat eine dezidiert ablehnende Haltung zur diagnostischen Kategorie der posttraumatischen Belastungsstörung und untermauert dies mit Zweifeln und Argumenten. Unter den ablehnenden Stimmen sind Soziologen, Ethnologen, Kulturwissenschaftler und vor allem Pioniere und Praktiker in durch Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Menschen-Landschaften, die vergleichende Feldforschung betreiben und ihre Instrumentarien auf ihre Wirksamkeit und Zuverlässigkeit in anderen Kulturen überprüfen. Man findet kaum Kliniker im euro-amerikanischen Raum, die sich dem mainstream der Eingemeindung in den klinischen und psychiatrischen Korpus widersetzen.

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Die folgenden Textstellen, Exzerpte und Zitate zu Fragen der interkulturellen Wahrnehmung von Trauma und den kulturell bedingten Differenzen wurden von Dr. Angelika Birck, wissenschaftliche Mitarbeiterin am bzfo, zusammengestellt, bevor sie unerwartet in jungem Alter verstarb. Die Fragmente aus Artikeln und Büchern sollten den Grundstein für eine große Studie zur Interkulturalität im Traumafeld bilden. Sie werden hier aufgeführt, da es sich um einen Werkzeugkasten zur Bearbeitung von Themen handelt, die aus ihrer Tätigkeit resultierten. In ähnlicher Weise wie in den aufgeführten Essays können sie als Anregung für weitere Bearbeitungen dienen.

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