Sepp Graessner

 

 

Prekäre Lebensverhältnisse, Deklassierung, extreme Armut, Obdachlosigkeit, wegelagerndes Betteln als permanente Demütigung können sehr wohl als Folge von traumatischen Erlebnissen in sequentieller Weise verstanden werden, vor allem, wenn die Konfrontation mit Lebensbedrohung als soziale Existenz- und Freiheitsbeschränkung sowie als soziale Vernichtungsandrohung verstanden wird.

Landläufig werden die Folgen zu einer Schuldfrage umgewertet, bei der klar sei, dass die Betroffenen die Schuld tragen, weil sie nicht in der Lage waren, die Ursachen in bürgerlichen Normen zu meistern, sondern durch unerforschte Umstände den Ursachen für die Folgephänomene erlegen sind, ohne sich heroisch dagegen zu stemmen, wie es ihre gesellschaftlich definierte Pflicht gewesen wäre.

Besonders die SPD hat in jüngster Vergangenheit Beispiele dafür geliefert, dass die „Verweigerung“ oder „Vorenthaltung“ von gesellschaftlich „wertvoller Leistung“ prekäre Verhältnisse bewirkt hätte, während die Linke allein mit staatlicher Umverteilung Probleme sozialer Ungleichheiten lösen wolle, die doch, so die allgemeine Ansicht, in der schwachen Persönlichkeit der deklassierten Person liegen. Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor: der Willen zur Leistung, ein Aufstieg zur Arbeiteraristokratie (heute: Mittelschicht), Kampf den Leistungsunwilligen, Bestrafung des „Schmarotzertums“, Kostenrechnungen über Sozialleistungen im Schulalltag usw. Das war die Rhetorik der Ultrarechten am Ende der Weimarer Republik.

         Ich behaupte, dass die Narrative, die zu Deklassierung und extremer Armut vorgetragen werden, sehr viele Schnittpunkte zu willkürlichen Handlungen aufweisen, die in vergleichbarer Weise von traumatisierten Personen angeklagt werden. Die Verbindungslinie dieser zwei Narrative führt auf Erlebnisse mit ungezügelter Macht zu, in Disziplinierungsinstanzen, in staatlichen Institutionen, in der Familie, in bewaffneten Kriegen und wissenschaftlichen Kämpfen.

Umso erstaunlicher erscheint die Klinifizierung bestimmter Traumata, d.h. die Auftrennung normaler und pathologischer Befindlichkeiten, während andere Zusammenstöße mit Willkür unberücksichtigt bleiben, weil sie sich auf Gesetze stützen. Definierte Psychotraumata erhalten ihre Überzeugungskraft aus Verletzungen von Menschenrechten, während das „Recht“ auf Obdachlosigkeit und Armut mit keinem Menschenrecht kollidiert. Unser Menschenbild ist von Ambivalenzen bestimmt. Wir haben uns darin eingerichtet, und unsere jeweilige Perspektive lässt uns unterschiedliche Emotionen hervorbringen.

Es lassen sich Geschichten erfahren, die sogar einen Wechsel von einer Kategorie zur anderen belegen: Die traumatisierte Person nach den normierenden Kategorien fällt, z.B. nach Flucht, in die Deklassierung und Armut – und z.B. Obdachlose werden Misshandlungen ausgesetzt, die in den Folgeerscheinungen den Katalogen des Psychotraumas entsprechen. Der Leiter der Berliner Bahnhofsmission sagt, dass viele der Obdachlosen und Deklassierten traumatisiert seien. Groß ist dann die gesellschaftliche Empörung, die gesellschaftliche Verantwortung zieht sich ins Mikroskopische zurück.

Nun sagt man eilfertig, hier werden moralische Hintergründe ins Spiel gebracht, die bei der Beurteilung von prekären Lebensverhältnissen nichts zu suchen hätten. Tatsache ist jedoch, dass auch die Verurteilung der Handlungen, die zum Psychotrauma führen, von moralischen Kategorien durchwirkt ist. Es gibt viele Spielarten von Moral. Sie sind nicht Konstanten, vielmehr unterliegen sie Zeitströmungen und Moden. Sie sind nicht Gesetz, aber in allen Gesetzen enthalten. Moral ist immer das gewünschte Gesetz, das dem geschriebenen Gesetz mehr oder weniger erkennbar unterlegt sein sollte, aber durch die Wirkungen der gesellschaftlichen Vernunft oft auf der Strecke bleibt. Wir tragen immer noch ein wesentliches Dilemma in uns: Die Rationalität der Aufklärung versus die Verklärung der Romantik, die beide keine Erklärung liefern.

     Es entstünde ein definitorisches Chaos, wenn soziale Deklassierungen, die mit subjektiven Demütigungen verbunden sind, zu den behandlungsbedürftigen Traumata gerechnet würden, vor allem wenn sie ein zentrales Attribut des Menschen verletzen, das der Zugehörigkeit. Nur schäbige Reste von Zugehörigkeit und Widerstand gegen Nichtzugehörigkeit verstecken sich in der Dunkelheit und im verstohlenen Durchstöbern von Abfalleimern, im Schlangestehen bei der „Tafel“ und karitativen Lebensmittelausgabe.

Selbstverständlich sind auch die meisten psychischen Traumata aus sozialen Konflikten entstanden, aus Begegnungen mit Macht und Gewalt und Überlegenheitsphantasien und anderen miesen Impulsen. Ziel dieser Macht- und Gewaltäußerungen ist oftmals die erzwungene Herbeiführung von Homogenität oder von Unterordnung unter unbefragte, quasi ewige Standards oder immer dann, wenn Subjekte zu Objekten durch Bewertungen und zuordnenden Klassifikationen gemacht werden sollen. Solche Begegnungen mit illegitimer Macht und Gewalt können Folgephänomene hervorbringen, die in sozialer Kommunikation aufgelöst werden sollen, wenn sie Leiden verursachen. Die Leiden der Deklassierten und Gedemütigten gehören nicht in die allgemeine Aufmerksamkeit, eben weil sie als Subjekte nicht dazugehören, trotz der Arbeit unterschiedlicher Organisationen der Nächstenfürsorge.

Der entscheidende Mangel allerdings, so sagt man leichtfertig, befindet sich auf der Seite der betroffenen Deklassierten. Sie haben im gesellschaftlichen Maßstab  nicht nur keine Lobby und Vermittler, die sich für sie einsetzen. Sie sind selbst auch kaum in der Lage, ihre Lage öffentlich zu beklagen und Forderungen zu stellen, die sich von ihren psychosoziale Befindlichkeiten ableiten lassen. Sie wünschen Waschgelegenheiten, Schlafplätze, Kleiderkammern, vereinzelt auch Wohnräume und Arbeit, Schutz vor Frost. Sie spiegeln zurück, was sie von der Gesellschaft erfahren. Sie wollen in Ruhe gelassen werden, nicht dazugehören, vor allem nicht zum polizeilichen Kontrollsystem. Sie können die bürgerliche Welt nicht anerkennen, die sie mit ihren Standards und Durchsetzungsinstrumenten zu dem gemacht hat, was sie sind. Sie versammeln sich in den Großstädten, haben sich in der Mehrzahl von Prinzipien gelöst und finden hier günstigere Konstellationen als in Kleinstädten, wo die soziale Kontrolle sie zur Flucht drängt. Sie schweben in völliger Abhängigkeit, können benutzt und ausgenutzt werden. Zusammen mit den in prekären Verhältnissen Lebenden füllen sie in Berlin zwei Olympiastadien. Ein drittes Olympiastadium bleibt für die Traumatisierten, d.h. Menschen, die durch Stress beschädigt wurden, reserviert.

Natürlich ist die Beschäftigung mit Deklassierten nicht so eindimensional anzugehen, wie hier geschehen. Die Rolle und die Position von gedemütigten Deklassierten in unserer Gesellschaft kann aber ein Schlaglicht auf den Umgang mit Traumatisierten werfen, die durch Klassifikation, Evidenzen, Bewertungen und Urteile eine exponierte Stellung in Wissenschaft, Medien und Alltagswissen erhalten, die den meisten Deklassierten vorenthalten wird, die, wie ihre Bezeichnung sagt, nicht einmal zur „Klassifikation“ geeignet erscheinen. Ihre Zahl kann man nur schätzen. Sie verzichten auf bürgerliche Partizipation, verfügen nicht über alle Rechte, nehmen die verbliebenen allerdings auch nicht offensiv wahr.

Betreuung und Therapie können versicherte Traumatisierte in Anspruch nehmen, wenn ihre Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt wiederhergestellt wird. Dies ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den Deklassierten, wodurch belegt erscheint, dass der aktive Zugriff des Arbeitsmarktes Priorität bei der zugewandten, wohlwollenden Aufmerksamkeit erhält und damit „volkwirtschaftliche“ Kategorien. Wer nicht mehr verwertbar ist oder nicht mehr sein will, fällt ins Bodenlose, schließlich haben wir einen Staat für Arbeiter und Bauern.

Wir können uns vielleicht darauf einigen: die Kategorien für psychische Entgleisungen, ob sie nun plötzlich und unerwartet eintreten oder sich allmählich entwickeln, werden gesellschaftlich festgelegt, einschließlich der Gruppen, für die diese Kategorien relevant werden können. Da denkt man doch sofort an bestimmte Zwecke, die als Impulsgeber für diese Kategorien dienen. Immer wenn Kategorien nicht für alle gelten, führen Zwecke unmittelbar in die Ausgrenzung. Sie dienen der Selektion.

Zumeist besteht der Irrglaube, nur direkte Erlebnisse könnten Einfluss auf das nehmen, was wir Psyche nennen. Das hat die Psychotraumatologie so bestimmt und dabei außer acht gelassen oder nicht wahrhaben wollen, dass auch die Bedingungen des sozialen Lebens in positiver oder negativer Weise Einfluss nehmen. Das heißt, auch strukturelle Kräfte können zu traumatischen Resultaten führen, die den Betroffenen jedoch wegen ihrer Komplexität unbewusst bleiben können. Aus diesem Grunde ist die Hineinverlagerung traumatischer Phänomene in ein Subjekt ungenügend, da ein wesentlicher Teil der strukturellen Gewalt nicht nur von draußen auftritt wie auf einer Theaterbühne, sondern sich bereits in der betroffenen Person befindet, als gelernter Text und in der Bereitschaft mitzuspielen. Dieses Dilemma will jedoch die Therapie gern ausklammern.