Variationen einer Kritik am Konzept der PTBS.

 

 

 

Die Literatur zur posttraumatischen Belastungsstörung ist in ihrer Vielfalt inzwischen unübersehbar geworden. Über 95 % der Publikationen zeigen einen affirmativen Charakter – sie stammen vor allem aus der „westlich geprägten Kultur“ - , 4 % wählen eine angenäherte Position an die Grundannahmen von PTSD und behalten sich skeptische Einwände vor. Lediglich rund 1% der Veröffentlichungen hat eine dezidiert ablehnende Haltung zur diagnostischen Kategorie der posttraumatischen Belastungsstörung und untermauert dies mit Zweifeln und Argumenten. Unter den ablehnenden Stimmen sind Soziologen, Ethnologen, Kulturwissenschaftler und vor allem Pioniere und Praktiker in durch Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Menschen-Landschaften, die vergleichende Feldforschung betreiben und ihre Instrumentarien auf ihre Wirksamkeit und Zuverlässigkeit in anderen Kulturen überprüfen. Man findet kaum Kliniker im euro-amerikanischen Raum, die sich dem mainstream der Eingemeindung in den klinischen und psychiatrischen Korpus widersetzen.

Es kann sich allerdings heute kaum ein Kliniker – Psychiater, klinischer Psychologe oder Sozialarbeiter – mehr leisten, den als Wahrheit verpackten Grundannahmen der seelischen Verletzungen nach Gewalttrauma oder Konfrontation mit dem eigenen oder fremden Tod zu widersprechen, ohne als Rohling oder  als gefühlskalter Rationalist an den Pranger gestellt zu werden. Insofern haftet dem (Psycho-) Trauma als Denkfigur eine Dynamik an, der sich der einzelne wohlmeinende, nachdenkliche Therapeut nicht leicht entziehen kann. Die Kritiker des Auftauchens einer PTSD und seiner Entstehungsbedingungen im klinisch etablierten System einer Traumalehre und ihrer langfristigen Prozesse, Symptome und sozialen Einschränkungen beeilen sich daher stets zu versichern, dass sie die schrecklichen Erlebnisse von Gewalt betroffener Menschen gerne mitfühlend anerkennen, jedoch nicht in den bereit gestellten diagnostischen Kategorien. Dafür machen sie im Wesentlichen folgende Einwände geltend:

 

1)   Universelle Maßstäbe posttraumatischer Reaktionsmuster lassen eine kulturelle Konzeption von Verlusten, Trauer und Verstörung nicht zu. Universalität in den Reaktionen auf Gewalttraumata wird in Verbindung zu unteilbaren Menschenrechten konzipiert und bezieht von daher seine im Westen verbreitete Überzeugungskraft.

2)   Mit dem diagnostischen Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung haben sich von Anfang an industrielle und versicherungsrechtliche Interessen verknüpft.[1] . Ohne die Interessen der Pharmaindustrie an neuen Diagnosen und Märkten ist weder der Impetus der Forschung zu erklären noch gibt es ohne Zustimmung der Versicherungswirtschaft eine Entschädigung oder ärztliche/psychologische Leistungen oder definierte Störungsbilder als Folge lebensgeschichtlicher Ereignisse. Im Spannungsfeld von Versicherungswirtschaft und Pharmaindustrie/Lobbyismus gelingt es allmählich, das  traumatische Gedächtnis klassischer Prägung („Mir ist ein Leid geschehen, an das ich mich erinnere.“) in eine posttraumatische Belastungsstörung mit klinischen Dimensionen zu transformieren. (Das „Making-of“ dieser Transformation als gesellschaftlicher und historischer Kontext der „westlich inspirierten“ Psychiatrie wäre eine spezielle Untersuchung wert.)

3)   Kategorisierungen von emotionalen und sozialen Befindlichkeiten nach Gewalttrauma führen zu Homogenisierungen, die in Messbarkeit, Abfragbarkeit und Schablonen ihren Ausdruck finden [2]. Heterogene Verarbeitungsmuster erlebter Gewalt werden eingeebnet [3]. Der Fundus der Weltsprache Englisch stellt nur eine bescheidene Auswahl an Begriffen und Bedeutungen bereit. Denn es ist immer die Sprache, durch die Narrative, ihre Deutungen und Bedeutungen gebildet werden. Ohne Sprache wüssten wir nichts von den inneren Prozessen, die Gewalterlebnissen folgen.

4)   Neue Diskurse und Paradigmen können sich nur durchsetzten, wenn sie allgemeine Akzeptanz und Resonanz erfahren und über Propagandisten in den Medien (Fachzeitschriften, Talk-Shows, Spielfilme usw.) verfügen. Dazu benötigen sie fähige Akteure, Durchsetzungsinstanzen, Lehrmeinungen usw.

5)   Die klinisch relevanten Störungsbilder betreffen nur eine Minderheit wie bei zahlreichen anderen Krankheiten aus einer gleichen Ursache. Es wird jedoch eine Grauzone postuliert, die noch nicht das Vollbild der posttraumatischen Belastungsstörung offenbart oder nach einer mehr oder minder langen Latenz von einer Störung betroffen sein kann („Alles ist möglich. Wer heute noch nicht leidet, wird irgendwann Symptomträger sein, vielleicht nur in sehr versteckter Form.“ Dies war in verwandter Form die Funktion des Orakels.). Es ist die Funktion des Damoklesschwertes, dass es dauerhafte Unsicherheit produziert, weil Vergangenheit eben nie komplett vergangen ist. Es geht um Magie und Prognose. Und unter dem Schwert steht jeder, da jeder Mensch in seinem Leben Gewalterlebnissen mit posttraumatisch relevanter Wirkung ausgesetzt ist.

6)   Individuum und individuelle Fokussierung auf die Folgen von Gewalt enthüllen eine „westlich dominierte“ ethnopsychiatrische Sicht auf Gefühle, Biographien und Verläufe von subjektivem Befinden. In den spezifischen Narrativen von Opfern einer Kette von Gewalterfahrungen werden ein Sinn und eine Begrifflichkeit gesucht und zur Verfügung gestellt, die nur ungenügend das Eigentliche und das Eigene aufnehmen. Es erscheint unsinnig, „das Wesen“ posttraumatischer Befindlichkeiten zu postulieren und zu meinen, man habe es gefunden. Sinn und Bedeutung entspringen aus dem kulturellen Kontext von Kommunikation. Sie können nicht aus diesem Kontext isoliert werden: „The current discourse on trauma has systematically sidelined this social dimension of suffering; instead it promotes a strongly individualistic focus presenting trauma as something that happens inside individual minds.“ [4]

7)   PTSD als klinisch orientierende Kategorie ist lediglich ein Weg der Annäherung und des Verstehens von Folgezuständen nach extremen Traumata. Dieser Ansatz wird fortlaufenden Revisionen unterzogen. Er ist kein Dogma und wird sich einer Kritik der Praxis stellen müssen. Eine wohlmeinende und gute Absicht kann zum Anstoß und zur Grundlage von Wissenschaft gemacht werden, diese aber nicht ersetzen. Allerdings gibt es hinreichende Zeichen für eine Aufweichung des Wissenschaftsbegriffs in den interpretierenden Humanwissenschaften.

8)   Der therapeutische Diskurs, der sich aus der normativen Diagnostik herausschält, behauptet eine „ansteckende kulturelle Struktur, weil er dupliziert und  an Mitbetroffene, Enkelkinder und Ehepartner „vererbt“ werden kann. So haben zum Beispiel die Kinder der zweiten und dritten Generation von Holocaust-Opfern und Überlebenden ihre eigenen Selbsthilfegruppen allein aufgrund der Tatsache, dass ihre Großeltern Opfer des Holocaust waren. Das ist möglich, weil sie von einer symbolischen Struktur – einem Begriff von Geschichte und Identität -  zehren, die es ihnen ermöglicht, ihre Identität als die eines kranken, heilungsbedürftigen Subjekts zu konstituieren.“ [5]  Wir haben es mit einem traumatischen Gedächtnis zu tun, das infektiös wirkt und Kaskaden hormoneller und neuronaler Reaktionen oder psychische Veränderungen transgenerational in Gang setzt. Dies führt zu Erweiterungen des ursprünglichen Traumadiskurses oder zu Sinnentleerungen dessen, was eigentlich gemeint war, als ein unmittelbares Erlebnis von Lebensbedrohung den posttraumatischen Prozess in Gang setzen musste.

9)   Das Trauma, das als individueller Prozess konzipiert wird, wird von gesellschaftlichen Kontexten abgekoppelt. Eine gesellschaftliche Verantwortung für die von Teilen der Gesellschaft verursachte Gewalt wird unbewusst gemacht. Der Staat taucht in diesem Modell zuweilen als entschädigungspflichtige Instanz auf. Als Staat koppelt er die Schäden, die aus Willkür entstehen, an einen nachzuweisenden Anspruch und an die Präsenz von Symptomen. Er erlaubt dem Traumadiskurs den Einzug in die Gerichtssäle und  Feuilletons, Talk-Shows und Hörer-Telefone, wo er Akzeptanz auslotet und die normierenden Maßstäbe des therapeutischen Narrativs verfeinert.

 

In einem stupenden Artikel hat Patrick Bracken den Versuch unternommen, PTSD einer Dekonstruktion zu unterziehen. Das Projekt der Aufklärung in der Neuzeit sieht Bracken in einer Kontinuität zum Opferdiskurs, zum Traumadiskurs und zur Entwicklung der Psychiatrie. Alle therapeutischen Überlegungen, wenn sie denn überhaupt so genannt werden dürfen, denn sie setzen in unserem Wissenschaftsverständnis Klassifikationen und Nosologie voraus, haben im Feld einer von kollektiven Traumata heimgesuchten Gesellschaft folgendes zu berücksichtigen:

„Normalisation and recovery (..) touches all aspects of social and economic survival; for children, it involves the context in which development and learning takes place, and for all people, it involves notion of justice, reconciliation and breaking cycles of impunity.“[6]

Brackens Interesse, das er mit Derek Summerfield[7] teilt, richtet sich im Wesentlichen auf den Export der diagnostischen Kategorien (PTSD) in außereuropäische Kulturen, wie er durch Agenturen wie das IRCT mit hartnäckigem Lobbyismus betrieben wird. Bracken hält die Kontextualisierung von Gewalt in Geschichte, Tradition, Politik und sozialer Organisation für unabweisbar, weswegen für ihn eine lineare Transformation europäischer Ethnopsychiatrie in andere Kulturen überhaupt nicht in Betracht kommt.

Bracken orientiert sich an Foucault und Derrida. Er zeigt keine expliziten Bezüge zu Bourdieu. Das ist in diesem Falle bedauerlich, weil Bourdieu die Lage in Algerien in den 1950er Jahren analysiert hatte, bevor er sich den Entstehensbedingungen von Erkenntnis zugewandt hat.

Im deutschsprachigen Raum ist als Skeptiker des PTSD-Konzepts vor allem David Becker[8] zu nennen, der bereits in den 1990 er Jahren seine Distanz zum PTSD-Modell formulierte und mit seinen praktischen Erfahrungen in Chile und El Salvador untermauerte.

Die vorher genannten Autoren, die hier nur beispielhaft aufgeführt werden, treffen in affirmativen Publikationen auf eisiges Schweigen und den Austritt des Sehnervs aus dem Auge, wo man bekanntlich nichts sieht. Man sucht keine inhaltliche Auseinandersetzung. Die Stimme der Kritiker ist im Chor der mit Trauma Beschäftigten nicht zu vernehmen. Dies sind unübersehbare Signale, dass ein Kampf im wissenschaftlichen Feld entbrannt ist, der Glaubenskriegen in nichts nachsteht. Es geht um Definitions- und Deutungshoheiten im Feld der Diagnostik und anerkannten Therapien von seelischen Traumata, um Märkte für Therapien, Therapeuten und Pharmaka. Letztlich geht es um die ambivalente Bedeutung der Aufklärung. Diese ist durch Denkkategorien zur Verbesserung der Menschheit ebenso charakterisiert wie auch durch die unausgesprochene Logik von Verwertung und Kapitalismus. Und dies beschränkt ihre Gültigkeit.

 

 

 

 

 

 

 




[1]  Eva Illouz (2006) Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004. Frankfurt/M. Suhrkamp, S. 92 ff.

[2]  Allan Young, Introduction, S. 7

[3] Allan Young (1995) The Harmony of Illusions – Inventing Post-Traumatic Stress Disorder. Princeton University Press, Princeton New Jersey.

[4] Patrick J. Bracken(1998) Hidden Agendas: Deconstructing Post traumatic Stress Disorder, in: Patrick J. Bracken, CeliaPetty (ed.) Rethinking the Trauma of War , Free Association Books, New York, London, 38-59, hier: S. 38.

[5] Eva Illouz, S. 86

[6] P. Bracken (1998), S. 190

[7] Derek Summerfield (1995) Raising the Dead: War, Reparation and the Politics of Memory. BMJ, 311, 495-497.

[8]David Becker (1992) Ohne Hass keine Versöhnung, Freiburg Kore; und

ders.: (2006) Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Edition Freitag.