Erster Einwurf
Wer einmal beobachtet hat, mit welch ungläubigem und misstrauischem Ausdruck Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten auf Fragen nach ihrem psychischen, emotionalen Befinden reagiert haben (besonders wenn sie fest religiös verankert sind), der kann nicht umhin, dieses kommunikativ-invasive Muster in der Begegnung mit Flüchtlingen zu befragen. Wir gehen ja leichtfertig davon aus, dass Flüchtlinge, wenn sie eine Unterstützungsinstanz aufsuchen, aufgrund der wohlwollenden und erkennbar gemachten Motive der Helfer überzeugt werden, dass sie alles erzählen können, was ihnen vor und während der Flucht widerfahren ist, aber dass sie auch zu allen Details ihrer Erlebnisse befragt werden können. Wir gehen auch davon aus, dass sie alles erzählen wollen, weil und wenn sie feststellen, dass ihnen Schutz, Mitgefühl und soziale Kompetenz im Zielland entgegengebracht wird. Dies gilt für normale Kommunikation; Traumatisierten kostet die Vertrauensbildung eine große Anstrengung. Flüchtlinge mit unterschiedlichen Traumata wünschen die Anerkennung ihrer traumatischen Erlebnisse in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld. Dazu müssen sie einen Deal eingehen: Verfolgungs- und Leidensgeschichte gegen das Versprechen einer Linderung sowie Unterstützung im unbekannten Dickicht der Bürokratie.
Man könnte nun meinen, das sei unvermeidlich so, wenn man zu einem Therapeuten geht. Man erzählt seine Beschwerden und erwartet Abhilfe. Viele Flüchtlinge sind jedoch in einer besonderen Lage. Auf die Möglichkeit einer psychischen Entlastung im Zielland müssen sie erst hingewiesen werden. Sie haben im Zielland sehr viele widersprüchliche Erlebnisse zwischen wohlwollender Zuwendung und Ablehnung gehabt. Psychische Entlastung geschieht meist durch die Therapeuten, wenn sie Sprachvermittler einschalten, und informell durch Landsleute. Vorher haben sie die emotional entlastende Wirkung von Gesprächen mit Verwandten, Freunden, Geistlichen in ihrer Heimat erfahren und von vertrauten Landsleuten im Exil. Außerdem sollen sie unterscheiden können zwischen Vertretern von staatlichen Institutionen und denen von NGO sowie deren unterschiedliche Interessen. Die Helfer aus den Reihen der NGO müssen sich fragen lassen, warum sie diese Tätigkeit machen, was sie davon haben. Da der helfende Aufwand beträchtlich ist – er dehnt sich über Monate und Jahre aus – scheinen solche Fragen, aus Misstrauen entstanden, berechtigt. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus. Der wesentliche Aspekt bleibt meist unerwähnt: Flüchtlinge in therapeutischen Einrichtungen sind Lernobjekte, an denen ein diagnostisches Vorverständnis überprüft wird. In Gestalt von Manualen mit „Krankheitsbeschreibungen“ liegt beim Helfer bereits ein „Raster-Mikroskop“ vor, durch das Flüchtlinge wegen ihrer vermeintlichen Hilflosigkeit und Symptome betrachtet und bewertet werden. Das heißt, die Hilflosigkeit von Flüchtlingen und ihr Leiden liegen in der Vorstellungskraft der Helfer wie die Schönheit eines Bildes im Auge des Betrachters. Insofern ist Empathie ein Instrument, das fremde Flüchtlinge bewertet, sie in einen Zusammenhang mit Hilflosigkeit, Pathologie, psychischem Chaos rückt. Der sonst so beliebte Slogan von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ scheint unwirksam, wenn es um die psychischen Verwerfungen in Flüchtlingen geht. Es handelt sich bei der Begegnung von Flüchtling und Helfer um eine asymmetrische Beziehungsaufnahme, bei der das Wissen um das psychische Chaos in Flüchtlingen und seine Entschärfung auf Seiten der Helfer liegt, und das Unwissen kennzeichnet den Flüchtling. Vielleicht tritt heute die Kenntnis innerer psychischer Prozesse an die Stelle religiöser Mission, mit der früher die „unwissenden Wilden“ traktiert wurden. Wissen wird zu einem machtvollen und zuweilen übergriffigen Instrument. Und Wissen wird, obwohl es durch unzählige kommunikative Situationen und Menschen entstanden ist, in einen Geldwert umgewandelt, wenn es in einer Person gebündelt ist. Helfer verbessern ihr Wissen um diagnostische und symptomatische Dimensionen durch die Begegnung mit traumatisierten Flüchtlingen, die den Status von Lern- oder Studienobjekten haben und bieten dafür als Gegenleistung moralisch motivierte Unterstützung.
Man muss sich in Erinnerung rufen, dass eine breit losgetretene Kampagne mit dem Hauptakzent auf psychische Traumata in Deutschland mit dem Schicksal von ausländischen Flüchtlingen begann. Die Traumata von deutschen Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und Holocaust-Überlebenden waren noch nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Allerdings hatte die Frauenbewegung da bereits die Haltung zu männlicher Gewalt als traumatisierend aus den USA importiert und in europäische Betrachtungen und Erfahrungen integriert.
Für Flüchtlinge ist die Begegnung mit Helfern von sehr praktischen, man kann sagen: opportunistischen Erwägungen angetrieben. Nach den Mustern ihrer Heimat bemühen sie sich, angemessene Rahmenbedingungen ihrer Existenz sicherzustellen. Sie suchen keineswegs die psychotherapeutische Couch, auf der sie ihr Inneres preisgeben und ausleuchten lassen. In vielen Kulturen ist dies Sache von Alten, Geistlichen und traditionellen Heilern.
Zudem: Wer beobachtet hat, dass das Leiden von Verfolgten und Flüchtlingen in besonderem Maße vom Verlust der sozialen Rolle bestimmt wird, kann mit dem Katalog posttraumatischer Symptome des DSM wenig anfangen. Ob es ein Augenarzt aus Zaire oder ein Ladenbesitzer aus Kurdistan oder der Erbe mehrerer Dörfer aus Iran ist, die im Exil um Unterstützung nachsuchen: Sie leiden nach politisch oder religiös motivierter Verfolgung am Verlust ihres Ansehens und ihrer Stellung in einer umschriebenen heimatlichen Umgebung, weil gesellschaftliche Position und berufliches Image eine prägende Wirkung auf das psychosoziale Selbstverständnis einnehmen. Man kann den Verlust der sozialen Rolle und des gesellschaftlichen Images selbstverständlich in individuelle Psychen verlegen, aber dann hätte man im Individuum lediglich das repräsentative Wirkmuster erfasst, nicht den verursachenden und verantwortlichen Mechanismus, der in gesellschaftlichen Kräften liegt. Beides gehört zusammen. Eine Verkürzung auf die Wirkungen habe ich stets abgelehnt.
Dazu tritt die unfreiwillige Verdrängung der Muttersprache, die als Sicherheit und differenzierende Kommunikation gewährende Grundlage ins zweite Glied treten soll und nun von der Oberflächlichkeit der neu erfahrenen Sprache abgelöst wird. Vertraute Sprache ist immer der Weg, der zu sich selber führt.
Als Kinder haben wir uns immer gewundert, wenn Flüchtlinge aus Ostpreußen,Schlesien oder Pommern allesamt Großgrundbesitzer oder Gutsverwalter gewesen zu sein behaupteten. Die Übertreibungen dienten dazu, den eigentlichen Verlust zu illustrieren: die verlorene Geborgenheit in einem sozialen Verbund und damit die vertraute Rolle durch Zugehörigkeit. Vertraute Bedingungen der Orientierung waren selbst für Flüchtlinge innerhalb Deutschlands nicht leicht herzustellen.
Zweiter Einwurf
Moralische Kategorien oder Perspektiven lassen sich in allen psychiatrischen Diagnosen feststellen, darin sehr ähnlich den „Geschlechtskrankheiten“ oder den zu Krankheiten gestempelten Genderspezifika. Sie sind stets gut versteckt hinter einer Haltung, die Fürsorge anbietet und Linderung verspricht. Oft werden Fürsorge und Linderung als die eigentlichen Wege zu moralischen Kategorien ausgegeben. Die Exklusionen (ausschließende Handicaps) und Stigmatisierungen, die strukturell in Diagnosen unvermeidlich enthalten sind, werden nicht so gerne betrachtet. Das Prisma der posttraumatischen Diagnostik lässt einige Aspekte unbeachtet, die gesellschaftliche Verursachung von psychischen Verletzungen und die gesellschaftliche Verantwortung sowie die Empfindung unterlassener Hilfeleistung betreffen. Statt dessen beleuchtet ein solches Prisma kontextfrei die innere Dynamik im betroffenen Individuum. Wenn man aber gesellschaftliche Dimensionen von psychischen Verletzungen für unbeachtlich erklärt, braucht man nur geringe oder sehr einseitige moralische Kategorien, denn jede gesellschaftliche Konstruktion bedient sich offen oder verkappt moralischer Maßstäbe, seien es Normen, Diskurse und ihre Durchsetzungsinstrumente und –institutionen sowie Klassifikationen, die bestimmen, wer und was benannt wird; und als Erklärung wird noch ein wozu, wann und warum hinzugefügt, also Zwecke, Zeitrahmen und Gründe usw. All dies sucht posttraumatische Diagnostik allein im unsichtbaren, nur indirekt erschließbaren Inneren einer Person, wobei sie zugleich durch eine standardisierte, homogenisierende Methodik die Singularität der Symptome zeigenden Persönlichkeit vernachlässigt, ja bestreitet. Man darf die Vermutung äußern, dass die Verkürzung eines komplexen Zusammenhangs dazu führt, dass moralische Kategorien politische Betrachtungen und Erwägungen ersetzen und nicht nur Motive bilden. Dabei hilft das Schlüsselwort Opfer. Opfer sind in moralischen Kategorien immer unschuldig. Sie sind in Passivität gefangen und werden diagnostisch mittels der posttraumatischen Symptome auch dort ohne einen eigenen Beitrag dauerhaft festgesetzt. Irgendwie geartete aktive oder strategische Impulse der Opfer (aus Anpassung, Unterwerfung) werden verbannt, so dass in einem moralischen Sinne nur noch der Abscheu gegen verletzende Gewalt übrig bleibt. Dabei handelt es sich um nachvollziehbare Gefühle, die sich zumindest spontan gegen rationale Überlegungen abschirmen. Jedoch: Die Konzentration auf die Opfer von Willkür und Gewalt ist selbstverständlich auch das Eingeständnis von gesellschaftlicher Hilflosigkeit gegenüber Gewalthandlungen. Das sollte nicht übersehen werden. Ob traumatische Erlebnisse durch Machthandlungen im Sinne von Erpressung in der Arbeitshierarchie und mit sexualisierter Tönung verursacht werden oder als Zwang, eine politische oder religiöse Haltung aufzugeben, an die eigentlichen Ursachen traut sich keine Gesellschaft heran, weil diese auch einem ökonomischen Kreislauf dienen, ja deren Motor sind. Die Menschenrechte haben somit traditionell einen tief in den individuellen Psychen verankerten Gegner.
Dritter Einwurf
Was ist ein kategorisches Symptom der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)? Was ist ein Symptom im posttraumatischen Prozess? Welche subjektiven Empfindungen und Selbstbeobachtungen werden zu Symptomen der PTBS erklärt? Wie entwickelt es sich und bei wem, in welcher Reihenfolge treten die voneinander abgrenzbaren Symptome auf? Welche inneren und äußeren Faktoren begünstigen oder behindern das Auftreten von posttraumatischen Symptomen? Wie lange muss ein Symptom bestehen, berichtet werden oder nachweisbar sein, um einem Syndrom zugerechnet zu werden? Welche Zeichen gehören zur PTBS und was ist Ausdruck ko-morbider Störung, welche schon (als Vulnerabilität?, als Risikofaktor?) prätraumatisch bestanden hat oder sich posttraumatisch herausbildete? Unter welchen Umständen kann die posttraumatische Symptomatik auf eine psychotische Episode zusteuern?
Nahezu alle der PTBS zugeordneten Symptome lassen sich bei anderen Störungen des individuellen Befindens festmachen, wobei die aus reaktiver Angst oder schon länger existierender Angst generierten den Hauptanteil beanspruchen dürfen, eben weil bedrohliche Situationen Angst erzeugen, Abwehr bilden und als Ausgangspunkt für Symptombildungen betrachtet werden können. Müssen die Symptome ein Leben lang andauern, einmal pro Woche oder pro Monat oder täglich auftreten? Verfestigt sich die Symptomatik im Umgang mit professionellen Therapeuten oder allein wenn die Anerkennung versagt wird? Eine mit massiven Demütigungen verbundene Traumatisierung kann schon lange bestanden haben und zu Störungen führen. Störungen meint stets ein irritiertes und beschränktes Sozialverhalten, bevor es sich auch in somatischen Auffälligkeiten erkennbar darstellt, während somatische Reaktionen als Grundstoffwechsel oder reaktiv im Inneren einer Person immer schon präsent sind. Die Störung resultiert in vielen Fällen als schambesetzte Anerkennung einer Schwäche und Hilflosigkeit angesichts einer Macht, die über Leben und Tod/Beschädigung entscheiden kann. (Die Macht, die bei US-Soldaten über Leben und Tod entschied, war nicht primär die vietnamesische Befreiungsbewegung, was die psychiatrische Diagnose PTSD nahe legen möchte, sondern die politische Führung der USA. In analoger Weise gilt dies für „freiwillige“ Auslandseinsätze der Bundeswehr.) Die Störung ist die Folge einer ungezähmten Machtäußerung in einer asymmetrischen Beziehung zu anderen Menschen. Abhängigkeit in interpersonellen Beziehungen erlernt wohl nahezu jede/r als ungefährlich, wenngleich nicht selten und mit zunehmendem Alter als unangenehm, weshalb er/sie sich in der westlichen Welt, d.h. ökonomiegesteuert und kulturbedingt, davon emanzipieren möchte. Wenn nun Abhängigkeit vom Willen und der Willkür eines anderen Bedrohung und Lebensgefahr bedeutet, tritt die oft geschilderte Erschütterung ein, weil dann etwas lediglich Unangenehmes zu etwas Gefährlichem wird, das dem Leben nicht zuträglich ist. Die Abhängigkeit von einem Feudalherren, der Arbeit und Einkommen willkürlich kündigen kann, muss für einen Familienvater, eine Mutter traumatisch sein. Sie unterscheidet sich wenig von Kidnapping, Entführung oder Geiselnahme, d.h. Erpressung. Dickens’ Romane sind voll von interpersonellen Traumata. Politik und die von der kapitalismushörigen Politik gebilligten Machtverhältnisse, wobei die Billigung auf lobbyistische Einflussnahme auf die realen Machthaber zurückzuführen ist, erscheinen als die entscheidenden Voraussetzungen für Traumata. So lässt sich in angenäherter Form die Wirkung sozialer Traumata aus Beziehungen verstehen. Wenn Menschen ein in ihnen wurzelnder und allmählich wachsender Wert abgesprochen wird, schmerzt das betroffene psychosoziale Gerüst. Die resultierenden Alternativen sind psychische Krankheit oder Widerstand. Alle beginnenden oder schon entwickelten Krankheiten schwächen den Impuls zum Widerstand. Es stellt sich somit die Henne-Ei-Frage: Was war zuerst da? Die Anerkennung der eigenen Ohnmacht oder die psychische Deformierung, die es unmöglich machte, gegen die Macht Widerstand zu leisten. Vielleicht ist die Anerkennung der eigenen Ohnmacht ja ein Resultat psychischer Deformation.
Als einziges Symptom, das nicht anderen psychischen Störungen zugesprochen werden kann, muss man die mit aufwühlenden Gefühlen, Schreckhaftigkeit und einer gewissen Erstarrung verbundene Erinnerung an ein traumatisches Ursprungserlebnis ansehen. Die unwillkürlich einsetzende Bildhaftigkeit durch das Gedächtnis stellt die Verbindung zu einem realen Erlebnis her. Für alle übrigen in den Katalogen aufgeführten Symptome lassen sich multiple Ursachen anführen. Die wiederkehrende und unbewusst sich einstellende Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis muss in der Regel berichtet werden, vom Klienten oder bei Albträumen auch von seinen nahen Beziehungspersonen. Dem Therapeuten, selbst wenn er den Klienten mehrmals pro Woche trifft, können diese Episoden von Flashbacks verborgen bleiben. Hierin liegt der Grund für ein ausgeprägtes Misstrauen in Entschädigungsfällen. Es wird von Behörden, Gerichten, Anwälten, Krankenkassen usw. zum Ausdruck gebracht. Der Therapeut oder Gutachter tritt lediglich als sekundärer Zeuge in Erscheinung, der aus der Mehrzahl der berichteten Symptome Indizien schmiedet, die auf ein reales Erlebnis von Unrecht hinweisen.
Das heißt, für die meisten der katalogisch zusammengestellten Symptome der PTBS lassen sich alternative Erklärungen finden. Erst die Zusammenschau unterschiedlicher Symptome zu einem Syndrom kann wegen der Evidenz Anspruch auf relative Aussagekraft erheben. Den Forderungen einer verstehbaren Ätiologie ist damit aber noch nicht Genüge getan.
Die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung wurden wegen ihrer häufigen Nennungen im diagnostischen Gespräch zu einem abfragbaren Katalog zusammengefasst. Im Umkehrschluss wurde bei der Erwähnung einer vorgeschriebenen Zahl von störenden bis quälenden Empfindungen oder Veränderungen auf ein extremes Trauma geschlossen. Dabei blieb unberücksichtigt, dass die erwähnten Beschwerden auch bei einer Reihe weiterer Erlebnisse auftreten können, die nicht als extreme Traumata qualifiziert sind. Eine penible Differentialdiagnose zur Angststörung und zur Depression wurde vermieden. Vermutlich ist sie auch gar nicht zu leisten.
So genannte psychische Symptome sind nur selten alle auf einmal und kontinuierlich vorhanden. Wenn sie nicht allesamt aktuell sind, müssen einige aus der Erinnerung berichtet werden, weil sie, wie z.B. Alpträume, vor einer Woche gegenwärtig waren.
Wer manifeste Symptome nach extremen Traumata als sich allmählich entwickelnde Prozesse auffasst, die vor allem durch Wiederholungen charakterisiert sind, permanent Aufmerksamkeit abziehen und auf ohnmächtig erlebte Vergangenheit richten und sie zudem allein im Individuum lokalisiert, hat folgendes zu erklären:
Durch welche Prozesse ist der Übergang von einer akuten Belastungsstörung als Diagnose in eine chronische oder komplexe posttraumatische Belastungsstörung verursacht? Welche psycho-neuro-immunologischen Prozesse fördern oder hemmen den Übergang? Ist die akute Symptomatik durch Reaktionen auf Schrecken und Hilflosigkeit charakterisiert, und die später diagnostizierte chronische PTBS ist nur die Verlängerung der akuten Symptomatik? Beide Diagnosen beziehen sich auf posttraumatische Entwicklungen. Ist also die akute Form der Diagnose ein Risikofaktor für eine nach einem definierten Zeitraum festgestellte chronische Form? Oder kann die akute Symptomatik sich nur festsetzen, weil eine betroffene Person verstörenden Einflüssen posttraumatisch ausgesetzt wurde? Verstörend können z.B. folgende Erlebnisse sein: Befehle, Erwartungen, Bestreiten, Relativieren und Bagatellisieren, Verweigerung von Zuständigkeit und Solidarität, Abweisen von Ansprüchen, Schuldzuweisung, invasives Fragen usw. Alle diese posttraumatischen und häufig anzutreffenden Erlebnisse fallen in jene Phase des Übergangs von der akuten in die chronische Belastungsstörung, also einer Phase großer Vulnerabilität, und bilden zusammen mit individuellen und sozialen Integrationsbemühungen mit hoher Wahrscheinlichkeit jene Wirkmechanismen, die den unzureichenden Verarbeitungsstrategien einer traumatisierten Person zugeschrieben werden. Eine traumatisierte Person ist empfindsam für Suggestionen. Es besteht ein gewisser Unterschied zu einem akuten Schnupfen, der in eine chronische Nebenhöhlenentzündung mit Bronchitis übergehen kann, wenn die körpereigene Abwehr durch äußere Einflüsse (Nikotin, Alkohol, Drogen, Pharmaka) reduziert ist.
Jedes gravierende Erlebnis von Lebensgefährdung hinterlässt einen Menschen, der mehr oder weniger erschütternde Veränderungen an sich wahrnimmt. Die Veränderungen, die eine Person nach extremem Trauma scheinbar unbeeinflussbar erlebt, spielen sich in dieser Person ab, in ihrem Gedächtnis, in ihrer Psyche und in ihrem Kommunikationsstil. Eine solche veränderte Persönlichkeit wird sich fremd, und sie registriert die Wandlungen. Zuweilen wird sie sich vorsätzlich fremd gemacht. Die extreme traumatische Verletzung bildet den Anlass. Die folgenden intrapsychischen Prozesse lassen sich als Resultat einer Selbstentfremdung beschreiben, die dadurch charakterisiert ist, dass Leiden als das Leiden einer für sich verantwortlichen Person verstanden und akzeptiert wird. Der gesamte posttraumatische Verlauf fällt weit gehend in die Zuständigkeit, in die Regie und Verantwortlichkeit der Symptome bildenden Person. Dazu rechnen auch enttäuschende oder mangelhafte Kommunikationen und Kontakte nach einem traumatischen Ereignis, denn auch diese Einflüsse bedürfen individueller Bearbeitung und Integration in einem individuellen Container.
Dies ist eine für die Moderne charakteristische Haltung, welche die Bedeutung sozialer Bedingtheit von Schmerz, Trauer, Empathie und Solidarität verleugnet, ja bekämpft. Solche Empfindungen spielen sich in voneinander getrennten Individuen ab. Sie werden zuweilen als retro abgetan. Man trifft Personen mit dieser Einstellung in staatlichen Institutionen. Sie sind an Weisungen gebunden und verwalten engherzig drei oder vier Paragraphen. Ihr Blick richtet sich wie bei Strafrichtern (auch das Vorurteil ist ein Urteil!) auf die Schuldfrage. Sie werden auf der Suche nach Widersprüchen im Leben traumatisierter Personen immer fündig und fühlen sich rasch in ihrer misstrauischen Haltung bestätigt, vor allem, wenn es um die Bewilligung von Leistungen für Rehabilitation und Geld geht.
Die Bedeutung sozialer Interdependenzen in einem posttraumatischen Prozess, in der Entwicklung einer prätraumatischen Persönlichkeit und in der Zuschreibung von verstehendem Sinn liegt aber wohl als Mangel bereits in der definierten Diagnose. Insofern bezeichnet die Diagnose im DSM als Individualdiagnose eine Abwehr des Sozialen als Ressource und Prägung. Die Diagnose PTBS listet individuelle Defizite auf, tritt als Mängelliste auf den Plan. Dadurch wird ein körperlicher und psychischer Apparat akzentuiert, der zu seiner Reparatur in Therapeutik einwilligen müsse, Therapeuten bilden stellvertretend das Soziale und mütterliche Prinzip. Das fürsorgliche und verantwortungsvolle Prinzip tritt jedoch als bezahlte Leistung auf. Summerfield hat 1997 darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf allein psychologische Folgephänomene nach Gewalt und Willkür zu eigentümlichen Verkürzungen führe, da durch solche verengte Sichtweise die Ursachen von Gewalt oft nur in psychologischen Kategorien erkannt werden. Das Überleben extremer Traumata erfordere jedoch breitere Erklärungen und Korrekturen, eben wie das Leben selbst.