-- zum Einfluss physiologischer und kultureller Faktoren auf

          traumatische Reaktionen und Symptome –

 

    Sepp Graessner

 

 

 

Einleitung

 

Georges Devereux hat sich schon vor 1970, also 10 Jahre vor der offiziellen Aufnahme des Psychotraumas als Diagnose in die psychiatrische Nosologie, mit traumatischem Stress beschäftigt [i]. Dabei hat er deutlich zwischen Stress als zerstörerischer Kraft und Trauma als Folgephänomen von Stress unterschieden. Ihm ging es vorrangig um die von Kultur zur Verfügung gestellten Abwehrmechanismen gegen Stress, der in seiner atypischen Form (Intensität) traumatisierend wirke und der durch Unvorhersagbarkeit und mangelhafte regelmäßige Einübung der Abwehr zu Symptomen führen könne. Kultur produziere für Menschen im Erwachsenenalter zumeist die (nicht immer tauglichen) Abwehrmittel, die wir heute Ressourcen und Resilienz nennen. Devereux unterscheidet ferner zwischen psychologischen Abwehrmechanismen (Projektionen) und kulturellen Materialien, die diese Mechanismen verstärken (Pflegetechniken, Erziehungsstile und -inhalte). Die Lektüre von Devereux’ Büchern kann die Sicht auf das Psychotrauma in der Moderne erweitern, wenngleich seine Beispiele aus zahllosen Kulturen zuweilen eklektisch anmuten. Unter dem Strich überzeugt sein Unbehagen gegen eine Universalität der psychischen Reaktionen auf Stress, weil, wie er sagt, die zwei Elemente des Unbewussten (das Es und das bewusst Erlebte, aber Verdrängte) einer Universalität der Erlebnis- und Verarbeitungsweisen von traumatischen Situationen widersprechen würden.

Psychische Traumata sind immer umweltbedingt, durch Mitmenschen (bewusst oder unbewusst) oder Naturkräfte. Durch dieses Wechselspiel der Gewalten, die von Menschen (dazu rechne ich auch das Spiel mit Risiken: die technischen „Unglücke“) und Naturkatastrophen ausgehen und auf Individuen und deren Psyche einwirken und zugleich das Verhältnis von Individuen zu den Gewalten in sozialen Dimensionen bestimmen, ist die Frage in den Raum gestellt, ob die aus Traumata resultierenden psychischen Symptomkomplexe eine biologische oder kulturelle/gesellschaftliche und kommunikative Erklärung fordern. Oder ob sie beides fordern, weil beide Aspekte zusammengehören, denn Menschen sind Natur und Gesellschaft (Politik, Technik, Diskurse). Sie auf jeweils einen Aspekt zu verkürzen, verkürzt auch das erklärende Verständnis. Das Verhältnis von physiologischen und kulturellen Einflüssen auf die posttraumatische Symptombildung interessiert mich, so wie sich vermutlich auch Hans Keilson [ii] dafür interessiert hat, weil dieses Verhältnis auch den zweifachen Weg zur Therapie bestimmt: den posttraumatischen Eingriff in die physiologischen Reaktionen eines traumatisierten Körpers, z.B. mittels Pharmokotherapie oder Physiotherapie, und die psychotherapeutische durch aus dem jeweiligen kulturellen Raum zur Verfügung gestellte Bedeutungen, Bezeichnungen von und Bezüge zu Leiden, Schrecknissen, Indikationen und durch sinnstiftende Kontexte, die jeweils individuelle und soziale Bedürfnisse befriedigen und Hoffnung ermöglichen [iii].

Das bedeutet, beim Trauma, dem traumatischen Gedächtnis und der Traumatherapie handelt es sich um Hybride, die sich aus natürlichen, d.h. biologischen Phänomenen und gesellschaftlichen Bearbeitungen zusammensetzen, und in dieser  Zusammensetzung reale unbestreitbare Wirkungen entfalten, wobei nicht nur Unklarheit herrscht, welche Anteile ein Privileg beanspruchen können und welche Anteile einen entscheidenden Beitrag zur posttraumatischen Symptombildung leisten, sondern auch, welche Wirkungen erst durch die Abspaltung der Gewaltfolgen von den Ursachen (in Wissenschaftsdisziplinen, Alltagsverständnis und Alltagserfahrung, handelnder Praxis oder Therapie, d.h. ausblendender Spezialisierung) hervorgebracht werden. Ein Verweis auf frühere Betrachtungsweisen auf Gewalt und ihre psychosozialen Folgephänomene im betroffenen Menschen (durch das Recht, die Religion, Technik oder Philosophie) bringt keine bessere oder richtigere Perspektive, obschon ältere Betrachtungsweisen immer mitschwingen können. Die Etablierung der aktuell gültigen Betrachtung und Beschreibung als Hybrid ist zu akzeptieren, weil sie sich auf menschliche Erfahrung berufen kann, in der Hybride noch (zusätzlich zu Diskursen) zusammen erlebt werden, wenngleich der Traumadiskurs insgesamt und seine Inkorporation in den klinischen Korpus, wie ich meine, mit einer Portion Skepsis zu begleiten ist. Hybride haben zudem eine besondere Eigenschaft: sie gestatten je nach Erklärungsbedürfnis eine Argumentation aus dem gesellschaftlichen Fundus oder dem Arsenal der Natur, wodurch nie der Status der dauerhaften Wahrheit oder Eindeutigkeit erzielt wird [1].

Fraglos überfällt die Umwelt Menschen mit psychischen Traumata, die Folgen jedoch spielen sich nach unserer Vorstellung in traumatisierten Individuen ab und treffen dort auf ein Gerüst von kulturell erworbenen Prägungen und Erfahrungen, die mehr oder minder integriert wurden, d.h. im Bewusstsein oder jenseits des Bewusstseins gelagert wurden. Zugleich kommuniziert das traumatisierte Innenleben, wenn es nicht komplett schweigt, mit Menschen, die nicht traumatisiert wurden. Es erfährt dabei die ungenügende Stringenz, die Ambiguität kultureller Werte und die Illusionen von Bedeutungen. Können diese Einsichten den posttraumatischen Prozess in Gang setzen oder perpetuieren oder gar verstärken?

Ein großes Problem entsteht, wenn eine traumatisierte Person sich die posttraumatischen Symptome als Eigenschaften zurechnet, weil dadurch eine Einverleibung der traumatischen Macht/Gewalt/Demütigung fixiert und bestätigt wird. Und dies geschieht als Anerkennung der eigenen Ohnmacht, primär als Wut, die sekundär durch Verbote und Konventionen gedrosselt in Resignation/Depression übergehen kann. Daran kann, so die These, die posttraumatische menschliche Umgebung beteiligt sein, vielleicht, nein, wohl sehr wahrscheinlich ein für sich entlastendes Interesse haben, durch Vermeidung, Verleugnung oder Relativierung.

Posttraumatische Prozesse in Menschen haben im Gegensatz zu früheren Expertenbehauptungen keine determinierenden Akzente oder Gesetzmäßigkeiten.

 

Mixtur von Stress und Symptombildung

 

Zwei noch unausgereifte Meinungen also befehden sich: die eine, die  biomedizinische, geht von der Universalität der Traumareaktionen aus, weil jeder lebendige und soziale Mensch einen Körper besitzt und im Verlauf seiner Entwicklung ein verletzbares psychisches System ausbildet. Jeder Erdenmensch verfügt über eine von Alter und Geschlecht abhängige Physiologie, die normalerweise alle Funktionen steuert, überwacht und in Störfällen korrigiert oder zu korrigieren versucht. Das heißt, jeder Körper sucht stets das jeweils mögliche Gleichgewicht oder Ersatzfunktionen nach Störreizen herzustellen. Das verletzbare psychische System, das sich als Psychotrauma äußern kann, wenn es durch unerwartete extreme Gewalt „überwältigt“ wird, beruht auf stofflichen Prozessen, deren Zusammensetzung und Abläufe bislang nur in verschwommenen Umrissen bekannt sind. Und weil die empirische Erforschung dieser komplexen Prozesse nicht an den Kern der Erkenntnis vordringt, - in vitro lässt sich die gewaltige Komplexität (die prätraumatische Biographie) nicht herstellen und in vivo sind aus ethischen Gründen nur unbedeutende Details erfassbar – ergibt sich ein weites Feld für Spekulationen, die sich auf posttraumatische Phänomene des psychischen Systems richten. Von „unbedeutenden Details“ wollen selbstverständlich die meisten Psychotherapeuten von posttraumatischem Stress nichts wissen. Sie sehen sich im Besitz von ausreichendem Wissen für eine therapeutische Praxis und kämpfen hartnäckig gegen ihren Ruf als „subjektive Meteorologen“ (Sloterdijk).

      Das hat in gewissen Grenzen seine Berechtigung, wenn Therapeuten sich auf ihren gesellschaftlich/kulturellen Rahmen beschränken und nicht missionarisch das in den USA „erfundene“ Konzept für verbindlich für alle Menschen erklären und verbreiten.

Weil also Menschen, wo und wie immer sie leben, dieselbe oder eine nahezu identische Physiologie mit identischen Organen haben, ist ihre Reagibilität auf Gewalteinwirkungen überall gleich oder nahezu gleich, so die biologisch orientierte These, die sich die APA (American Psychiatric Association) zur Grundlage gemacht hatte, als sie die „Posttraumatische Belastungsstörung“ als Diagnose 1980 in das DSM-III aufnahm und die bis dahin geltende „Anpassungsstörung“ ersetzte. Damit war beschrieben und zugleich vorgeschrieben, wie Experten die Befindlichkeiten nach extremen Traumata beurteilen sollten [v]. 

Und wenn alle Menschen auf traumatische Erlebnisse in derselben Weise reagieren, dann seien auch die posttraumatischen Symptome, die ihre Physiologie hervorbringt, so die Schlussfolgerung, überall gleich [vi]. Hier wird folglich als Grundannahme die Erkenntnis der Stresstheorie herangezogen, die aber bedauerlicherweise nicht zur Erklärung der posttraumatisch auftretenden Symptome genügt. Daher wurden die Begriffe „traumatischer Stress“ und „traumatisches Gedächtnis“ geprägt und ihnen eine Sonderrolle zugesprochen, die sie vom allgemeinen Stress  und dem sozial entstandenen Gedächtnis unterscheiden. Der landläufige Stress ist in erster Linie durch die Wirkungen von Hormonen auf das Herz-Kreislauf-System, Schweißsekretion und weitere vegetative Zeichen gekennzeichnet, während der traumatische Stress durch Re-Inszenierungen der traumatischen Situation und durch das „traumatische Gedächtnis“ charakterisiert wird. Das traumatische Gedächtnis soll sich nach Ansicht von Experten vom Wirken und den Funktionen des allgemeinen Stress unterscheiden, weil es unerwartet wiederkehrende Inszenierungen aufführe und quasi endlos sei. Der landläufige Stress mit Herzaktionsbeschleunigung und Blutdrucksteigerung landet nach dieser Unterscheidung nicht im Gedächtnis und wenn doch, dann nur, um einem Verdrängungs-, Verleugnungs- und Vergessensprozess zu unterliegen oder nur schwache Erinnerungen ohne bedeutsamen Handlungseinfluss zu hinterlassen. Er erreicht jedenfalls zumeist nicht das Bewusstsein. Der gewöhnliche Stress, an den sich eigentlich niemand gewöhnen kann, hinterlässt wie der traumatische Stress körperliche Schädigungen und sicher auch psychische Störungen. Wir wollen sehen, ob diese Sonderrolle des traumatischen Stress mit Berechtigung gewählt wurde oder ob Willkür im Spiel war, als menschliche Reaktionen auf traumatischen Stress für universell und potentiell spezifisch krankmachend erklärt wurden.

Der kanadische Medizinhistoriker Shorter postuliert ein menschliches Repertoire von möglichen posttraumatischen Reaktionen, das von biographischen Einflüssen und ihrer individuellen Integration abhängig sei. Dazu sagt er, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich akzentuierte psychische Muster von Symptomen vorherrschten, deren Existenz und Ausprägung im Wesentlichen von den sozialen Rollen und vom Interesse und den Definitionskämpfen der Wissenschaften abhängen. So seien die symptomatischen Post-Stressmuster nicht zu jeder Zeit dieselben. „Weibliche Hysterie“ oder anorektische Bilder, wohl auch „restless legs“ lassen sich als Symptomatiken nach Stressexposition oder fortdauerndem Stress deuten. Das von Shorter ins Gespräch gebrachte Repertoire an posttraumatischen Symptomausprägungen ließe sich ergänzend als ein Kontinuum verstehen, auf dem extreme Symptomatik auf der einen Seite steht und Symptomarmut auf der anderen, was bei nahezu allen heilbaren somatischen Krankheiten akzeptiert wird. Was aber bewirkt diese Differenz in den Reaktionsweisen? Ist mit einem Schlüsselwort wie Resilienz, einem Hilfskonstrukt, alles gesagt und erklärt?

Wenn man aber nun am grünen Tisch definiert, welche Zahl und Qualität von Symptomen für die Vergabe der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung gegeben sein müssen, um einen allgemein anerkannten Krankheitswert zu erzielen und diesen für therapeutische Indikationen abzugrenzen, dann ist dies eine kulturelle Übereinkunft, wie sie bei allen definierten Krankheiten gilt, für die ein therapeutisches Vorgehen formuliert und damit empfohlen wird.

 Psychische Krankheiten als Abweichungen von Normalität werden als etwas Negatives beschrieben, das beseitigt werden muss. Daher gibt es auch kein posttriumphales Syndrom, eben weil „Positives“ in unserem Verständnis keinen psychisch wirksamen Krankheitswert entfalten kann, was man am gesellschaftlichen Stellenwert von Sieg und Erfolg, von Erfolgsgeschichten als Lebensziel und Willensprinzip ablesen kann. Es ist bislang noch nicht versucht worden, ein triumphales Berauschtsein oder eine so genannte Siegermentalität daraufhin zu untersuchen, welche Hirnareale aktiviert werden und ob sie sich von Arealen unterscheiden, die posttraumatisch aktiviert werden. Ich vermute, dass Siege und Triumphe genauso als Flashbacks auftreten können wie traumatische Situationen. Nebenbei: Vor manchen Triumphen kann einen das Grauen erfassen.

Als bislang einziger Indikator für eine posttraumatische Symptomentwicklung kommt eine Cortisolverarmung (als Risikofaktor) ins Spiel, die sich generationsübergreifend (als epigenetische Modifikation) als Veränderung durch Methylierung eines bestimmten Gens zeigen kann. Diese Erkenntnis hat zur Empfehlung geführt, unmittelbar nach einem extremen Trauma hohe Dosen von Cortison zu verabreichen, um der posttraumatischen Verarmung an Cortisol vorzubeugen und dadurch Symptombildungen abzuschwächen oder gar auszuschalten. Ob aber die Cortisol-Hypothese der einzige oder Königsweg zur Erkenntnis ist, darf bezweifelt werden: monokausale Erklärungen für psychische Störungen bringen nicht das Licht der Erkenntnis, wie auch die undifferenzierte obligate Kausalität von traumatischem Ereignis und psychischer Störung widerlegt ist. Die Bemühungen, weitere Indikatoren für vorausgegangene Traumata und Symptombildungen zu finden, wie z.B. die Verringerung des Hippocampusvolumens, haben zu sehr widersprüchlichen Resultaten geführt und sind daher nicht zu wissenschaftlich eindeutigen Standards geworden. Es ist jedenfalls noch nicht gelungen, allein ein extremes Trauma für die Verringerung des Volumens des Hippocampus verantwortlich zu machen. Zugleich wäre die gesamte vorausgegangene Biographie mit Demütigungen und Kränkungen, die jeder zahlreich erfährt, ohne Einfluss auf das Volumen des Hippocampus. Eine sehr mechanische Vorstellung von einem dynamischen Prozess!

         Es ist schwer, das Thema Trauma und seine vielfältigen Symptomatiken nüchtern zu bewerten, da emotionale Reaktionen immer schon anwesend sind, bevor ein rationales Urteil erfolgen kann. In der Praxis hat sich rasch aus einer Idee eine Ideologie entwickelt, die zu heftigen Attacken fähig ist, weil Wissen zwar behauptet wird, aber eigentlich nur in schlichter Vorläufigkeit vorhanden ist.

 

Kulturell beeinflusste Symptombildung

 

Die andere Auffassung von Einflüssen, die sich durch transkulturelle Beobachtungen kundtut, würde der biologisch-medizinischen insoweit folgen, als sie den primären physiologischen Abläufen als Folge erfahrener extremer Gewalt – Erschrecken, Lähmung, Angst und Hilflosigkeit - zustimmt, die sich unmittelbar nach wahrgenommener Lebensbedrohung einstellen, wenn Flucht oder Kampf als spontane Reaktionen verstellt sind, wie es bei Folter oder Geiselnahme der Fall ist. Kurz: Nach dem primären Stress ist vor der Symptombildung. Allerdings gibt diese andere Auffassung der Bedeutung, die eine solche extreme Bedrohung posttraumatisch  hervorruft, einen aus der jeweiligen Kultur und der interpersonellen Kommunikation erwachsenen Wert bei, der die Gewichtung und mögliche Auflösung oder Linderung lebensbedrohlicher Gewalt anders bemisst, als es die schematische Beurteilung nach US-amerikanischen Katalogen im DSM, der diagnostischen „Bibel“ der APA vermag. Dieser Wert und diese Bedeutung betonen den sozialen Charakter, der entweder in der Lage ist, traumatische Erlebnisse zu „verdauen“, zu negieren oder posttraumatisch zu verstärken, wenn das Ungeheure des Traumas nicht zu formulieren und mitzuteilen ist. Mit anderen Worten: niemals ist eine extrem traumatisierte Person so allein wie angesichts der Unfähigkeit, mit Sprache und Gesten die traumatischen Erschütterungen von Lebensbedrohung mit anderen zu teilen. Jedes Gewalttrauma macht aus einem sozialen Wesen eine singuläre Person, die höchst einsam ist mit den posttraumatischen Folgephänomenen und Gefühlen. In den westlichen Zivilisationen ist daraus der Opferdiskurs entstanden, nachdem über Jahrhunderte der/die Täter als aktive Akteure im Mittelpunkt der Erkenntnis und des Interesses standen. Die Dichotomie von aktiv und passiv hat sich zugunsten der Opfer von Gewalt verschoben, ohne in der politischen Praxis eine Veränderung zu bewirken. Wenn man den Opferdiskurs mit der Einsamkeit und Abgeschiedenheit der traumatisierten Person begründet, dann hat er eindeutig seine Berechtigung. Die Einsamkeit, wenn sie posttraumatisch ins Bewusstsein dringt, ist dadurch charakterisiert, dass weder Gesellschaften noch Sprachen Möglichkeiten der Mitteilung für die überwältigte Psyche eröffnen. Landläufig greift man dann auf Metaphern zurück, die aber deutlich werden lassen, dass hinter den Metaphern Mystik, Verborgenes und Unverstandenes lauern, und diese keine mitteilbaren Ausdrucksformen haben.

Die Bedeutung, die den gefangenen Empfindungen gegeben wird, erhärtet den sozialen Charakter posttraumatischer Befindlichkeiten. Angehörige, Freunde, Therapeuten suchen nach der Bedeutung der Gefühle, die nur unzureichend vorgetragen werden. Zuweilen verstummen Traumatisierte – und dann gibt es nur die Vorstellungen der Gesprächspartner, die sich allein auf bildhafte Vorstellungen eines traumatischen Ereignisses gründen. Scham, Schuld, verrenktes Selbstbild der traumatisierten Person fließen kaum in diese Vorstellungen ein.

Wenn man in Rechnung stellt, dass eine extrem traumatisierte Person in ihrer Einsamkeit höchst empfänglich für Suggestionen ist, dann leuchtet ein, dass diese Person nach allen möglichen Strohhalmen von Sinn und Bedeutung greift – und diese können eigentlich nur aus der Kommunikation mit menschlicher Umgebung stammen, aber auch eine unzureichende Richtung angeben.

Sequentielle Traumatisierung (Keilson) ist Ausdruck posttraumatischer Einflüsse aus der Gesellschaft, die verleugnet, verdrängt, Vorwürfe formuliert, relativiert. Zugleich formt und bestimmt diese Gesellschaft aber auch das Selbstbild und die Kommunikationsinstrumente der traumatisierten Person, so dass an der Ausbildung eines posttraumatischen Syndroms mit zahlreichen Einzelsymptomen Gesellschaft und traumatisierte Person beteiligt sind.

 

Was ist also der Erkenntnisgewinn? Wenn der leidende Mensch Hilfe und praktische Unterstützung wünscht, dann erscheint die hier angesprochene Unterscheidung biomedizinischer versus kultureller Erklärungen für die Universalität bzw. die Ablehnung der globalen Gültigkeit unwichtig. Die kulturell begründete Perspektive legt Wert auf Vielfalt, die biomedizinische besteht auf Homogenität. Es erscheint sehr verwegen und sehr wahrscheinlich politisch motiviert, eine universelle Reaktion auf traumatische Erlebnisse posttraumatisch anzunehmen, wenn selbst Menschen aus einem definierten Kulturrahmen mit heftigen Symptomen reagieren können oder symptomfrei bleiben. Die Bandbreite der posttraumatischen Reaktionsmuster kann sehr unterschiedlich ausfallen, während die unmittelbaren Reaktionen auf Vernichtungsstress in allen Kulturen sehr ähnlich verlaufen. Da ist bei der Konzeption posttraumatischer Störungen in den Jahren 1972-1980 einiges schief gelaufen. Die Studien, die an breiten Populationen durchgeführt wurden, machen deutlich, dass innerhalb einer kulturell ähnlichen Gruppe sehr verschiedene Weisen, sinnliche Wahrnehmungen von massiver Bedrohung in physiologische Ausdrucksformen zu verwandeln, existieren. Zwar gibt es eher geringe Geschlechtsunterschiede, insgesamt sind in beiden Geschlechtern die Differenzen in den posttraumatischen Reaktionen ähnlich.

Nun kann man davon ausgehen, dass in unterschiedlichen Kulturen die posttraumatischen Reaktionen traumatisierter Personen heftige Symptome hervorbringen oder symptomarme Verläufe zeigen, d.h. in nicht-westlichen Kulturen lassen sich posttraumatische Reaktionsmuster ebenfalls auf einem Kontinuum darstellen. Dies führt zu längerem Leiden, zu eher kurzzeitigem Leiden oder erfolgreich abgewehrtem oder akzeptiertem Leiden. Solche Leiden tragen jedoch kulturelle Einflüsse, weil in ihnen die soziale Bedeutung und der soziale Sinn von Leiden zum Ausdruck kommen. Ohne Leiden bräuchte es keine Diagnose und keine Zuordnung in den psychiatrischen Kanon.

Nun stellen unterschiedliche Kulturen jeweils eine Vielzahl von Verarbeitungsmöglichkeiten nach Desastern zur Verfügung. Das können religiös gebundene Vorstellungen, kosmische Zuordnungen, Heiler, Astrologen oder die rasche Rückkehr zu alltäglichen Tätigkeiten im sozialen Verbund für Einzelpersonen oder Gruppen sein. Die westliche Überzeugung, nur das schnelle Aussprechen, das Mitteilen der traumatischen Situation und der begleitenden Gefühle könne eine langfristige Symptomatik verhindern oder abschwächen, gilt keineswegs universell, ja ist sogar bei retrospektiver Betrachtung auch im euroamerikanischen Kulturraum umstritten. Diese Forderung nimmt die westliche Sicht auf die Funktion der Beichte auf und verlegt eine entlastende Wirkung durch möglichst komplette Preisgabe von Empfindungen in die individuelle Psyche. Im Gegensatz dazu ist in manchen Regionen, z.B. Sri Lankas nach dem Tsunami und jahrelangem Bürgerkrieg, die Abkapselung und Umbenennung der traumatischen Erlebnisse das Mittel der Wahl. Die Armee von Traumaberatern, Therapeuten und Traumaforschern, die dort nach dem Tsunami von 2004 einfiel, hat möglicherweise durch Unkenntnis der regionalen Kultur und durch ihr für universell gehaltenes Konzept und Vorgehen mehr geschadet als genützt. Die menschliche Psyche ist wohl doch komplexer auch bei Menschen, deren Neugier auf Handys und chicken nuggets keine Rückschlüsse auf tiefere psychische Prozesse zulässt. Das fällt einem westlichen Selbstbewusstsein schwer einzusehen, wo doch die  westliche Weltbetrachtung, die westliche Technik und die westliche Medizin ohne Überlegenheitsgefühle nicht auskommen können. In überzeugender Weise hat dies Ethan Watters in seinem Buch „Crazy Like Us“ 2010 dargestellt, in dem er der US-amerikanischen Sicht auf die menschliche Psyche einen homogenisierenden Imperialismus (aus positiven oder naiven Impulsen) vorwirft.

         Man wird einräumen müssen, dass die individuellen und sozialen Bearbeitungsformen von extremen Traumata in einer kulturell geprägten Beziehung zu der posttraumatischen Symptombildung stehen, wenn sie hilfreich und entlastend sein sollen. Das bedeutet, auch das posttraumatische psychische Befinden unterliegt kulturellen Bedeutungen und Akzentuierungen, die nicht zwangsläufig im DSM-Katalog verzeichnet sind, sondern in eher kollektiven Gesellschaften, die ein Individuum in westlich ausgeprägter Form nicht kennen, anders akzentuiert sind. Das heißt z.B., dass Menschen sehr rasch in ihre vom Tsunami zerstörten Siedlungen zurückkehrten, so dass man hier von Vermeidung von Schreckensorten als posttraumatisches Kardinalsymptom nicht sprechen kann, während  Worte, die Gewalt von Flut und Krieg bezeichnen, durchaus einem Tabuisierungsprozess unterworfen, folglich umschrieben und ersetzt werden, was den Vermeidungsimpuls anders und zwar in der Kommunikation akzentuiert. Vermeidung mag ein allgemein menschliches Muster sein, aber wie sie sich äußert, unterliegt unterschiedlichen kulturellen Formungen.

 

Nun ist die Ausbildung eines verletzbaren psychischen Systems ohne andere Menschen nicht erklärbar. Das heißt, bei diesem Prozess kommen kulturelle Einflüsse im weitesten Sinne zur Geltung. Das Neugeborene hat nur ein rudimentäres psychisches System, das dann allmählich zur individuellen Antwort auf kulturell bedingte Forderungen befähigt ist und dabei auf gleichfalls wachsende stoffliche Ressourcen zugreifen kann.

 

Diagnosen von psychischen Störungen enthalten ebenso wie Klassifikationen von Symptomkomplexen kulturell erzeugte Sichtweisen auf ein Menschenbild. In unterschiedlichen Kulturen werden dadurch unterschiedlich akzentuierte Menschenbilder und Bilder von den Wechselwirkungen zwischen den Arten und Weisen belebter und unbelebter Natur hervorgebracht. Das abendländische Menschenbild gründet auf altgriechische und christliche Figuren und Symbole, das traditionelle östliche kennt andere Diagnosen und Klassifikationen und misst dem Verlauf oder Prozesshaften eine Bedeutung bei, die auf sehr lange Beobachtungen gründet und daher auch nicht erst einsetzt, wenn das Vollbild einer psychischen Störung vorliegt. Das südliche wurde für belanglos erklärt oder ausgerottet. Wenige Elemente des Heilens psychischer Verletzungen lassen für uns bedauerlicherweise nicht viel mehr übrig als Folklore.

Als die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ zum Wohle von US-Veteranen des Vietnamkrieges eingeführt wurde, schien dadurch ein Menschenbild mitgeführt worden zu sein, das psychisch Verletzten in erster Linie eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, die sie innerhalb der US-Gesellschaft nicht fanden. Die schamgeplagte US-Gesellschaft versagte den Veteranen die Anerkennung ihrer Beschädigungen, die sie durch imperiales Verhalten ihrer Regierung erlitten hatten. (Ich denke, ein Teil der US-Gesellschaft schämte sich über den Vietnamkrieg und seine Methoden, ein anderer Teil schämte sich, weil er sich unterworfen hatte, und ein weiter Teil schämte sich, weil er die Befehlskette initiiert und mitgetragen hat.) Aus der Forderung nach Zuwendung zum psychisch Verletzten und Irritierten lässt sich die Erfolgsgeschichte der Diagnose ableiten. Diese aus primärem Impuls von Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Mitleid und Hilfsbereitschaft resultierende Haltung erlaubt keinen Widerspruch oder Relativierung, weil sie der Urgrund der Moral im „Westen“ sind, (soweit man Anhänger von Rousseau ist.)

Allerdings wird man einräumen müssen, dass die Kriterien der Diagnose an Veteranen, an Kampfsoldaten entwickelt wurden und ein lebensbedrohliches Ereignis ins Zentrum stellten. Dadurch konnte der Wirkung allgemeiner wiederholter Kränkungen und Demütigungen eine Pathogenität entzogen werden, die sie in organbezogenen Metaphern (Herz, Magen, Nieren, Galle, Hals, Nerven, Eier) in der Alltagssprache immer schon hatte. Die Diagnose zog also eine Scheidelinie in die Klassifikation ein. Nur das ein- oder mehrmalige traumatische Erlebnis mit Konfrontation durch die Möglichkeit des Todes erhielt den Ritterschlag einer Diagnose, wenn bestimmte, kulturell definierte Zeichen sich entwickelten und andauerten. Die Übertragung der Diagnose aus dem soldatischen Milieu in zivile Sektoren legt die Vermutung nahe, dass der gesellschaftliche Raum als Schlachtfeld konzipiert wird.

Im Kern der Diagnose steht die Feststellung (Behauptung), dass der primäre Stress mit physiologischen Begleitern nicht mit dem überstandenen Ereignis abgeschlossen ist, sondern durch das traumatische Gedächtnis in pathogener Weise weiterwühlt, indem Erinnerungsbilder an demütigende oder bedrohliche Szenen dieselben Gefühle hervorrufen wie in der ursprünglichen Bedrohungssituation. Das Bewusstsein ist ausgeschaltet und kann daher nicht aktuelle Sicherheit signalisieren. Dabei käme es folglich zu denselben vegetativen Erregungen, die die ursprüngliche Bedrohungsszene begleiteten. Eigenschaften des Gedächtnisses führen also zum Kern der Diagnose PTBS. Diese Eigenschaften müssen berichtet werden und können selten oder öfter auftreten. Das sind quasi „alte Kamellen“, die Allan Young schon 1995 herausstrich[vii]. 20 Jahre später sind wir nicht viel weiter, selbst wenn wir jetzt Artefakte von Aktivitäten im Gehirn sichtbar machen können. Wir begnügen uns damit, die Lokalisation im Gehirn für eine Eigenschaft des traumatischen Gedächtnisses zu halten, schließlich hat es nach Meinung einiger Wissenschaftler einen eigenen Raum. Und wir müssen uns fragen, ob wir mit Formulierungen zu den hypothetischen Eigenschaften und Äußerungen des „traumatischen Gedächtnisses“ nicht zu einer Verklärung und Mystik beitragen, die im Gegensatz zu den Ansprüchen von Wissenschaft stehen.

Eine Frage sei gestattet: Woher stammt die Energie, die Re-Inszenierungen auf demselben Niveau produziert wie in der Ursprungsszene? Schwächt sie sich denn überhaupt nicht ab? Und was passiert, wenn nach langer Latenz ohne aktivierte Erregung und Re-Inszenierung durch besondere Lebensumstände oder Trigger (Verrentung, Tod oder bedrohliche Krankheit des Partners) sich wieder quälende Energie aus dem traumatischen Gedächtnis entlädt? Wenn sich durch situative oder kommunikative Trigger eine frühere, lange zurückliegende Bedrohungsszene reaktualisiert, sollte man darin nicht ein unter Umständen nützliches, warnendes Signal aus tiefsitzender Angst erkennen, das der Körper zur Vorbereitung gegen Wiederholungen zur Verfügung stellt, und keineswegs ein Kennzeichen einer Pathologie? Das emotionale Körpergedächtnis reagiert spontan. Es wird zuweilen mit Verzögerung durch eine rationale Analyse der realen Lebensbedingungen korrigiert. Wenn aber Grundängste als begründete reale Reaktionen sich im Körper sedimentiert haben, dann hat der Verstand einen schweren Stand.

Zurück zur Ausgangsfrage:

Wenn wir das Wirken des traumatischen Gedächtnis in unsere Bemühungen um Klärung der Frage einbringen, welche Anteile von traumatischer Erinnerung haben physiologische/neuronale Ursachen und welche sind kommunikativen Einflüssen geschuldet, dann erscheint ein physiologischer Prozess vordergründig unabweisbar, ob man nun von cerebralem Gedächtnis oder Körpergedächtnis spricht. Allerdings befremdet der Umstand, dass wir dem traumatischen Gedächtnis Wirkungen zusprechen, die es vom gewöhnlichen Gedächtnis unterscheidet. Diese Sonderrolle hat m.E. mit der kulturellen Aufladung der überlebten Vernichtungsdrohung zu tun. Wir sind nicht froh und entlastet, wenn wir eine Lebensbedrohung überlebt haben, wenn wir der Vernichtungsandrohung entgangen sind, vielmehr kann ein dauerhafter Stachel in unserer Erinnerung quälend stechen: die „Wunde“ will nicht heilen, weil die bildhafte Verletzungssituation wie ein perpetuum mobile sich nicht abschwächt, zusätzlich noch jene Empfindungen, vor allem Angst und Handlungsunfähigkeit, wiederholt, die in der traumatischen Situation auftraten und in Albträumen aktualisiert werden. Für diesen Prozess ist vorrangig das Gehirn zuständig, indem es durch seine autonomen Aktivitäten Bilder hervorruft, die jedes Mal erneut Unterwerfung unter eine lebensbedrohliche Macht fordern und inszenieren: Angst, Hilflosigkeit und Demütigung finden kein Ende und verursachen Resignation und Furcht vor der Angst. Das bedeutet, in dieser Diagnose und den beschriebenen Symptomkomplexen war von Anfang an sehr viel enthalten, das mit psychologischen und physiologischen Deutungen nicht hinreichend erfasst wurde. Wir sollten uns nicht davor drücken, diese zusätzlichen Dimensionen politische, d.h. Herrschaftsinteressen zu nennen, denn gleichsam autoimmune Unterwerfungen, die Flashbacks der Angst im Individuum generieren und hervorbringen, belegen die Bedeutung von „Subjekten“ als Unterworfene. Machtäußerungen, lässt sich behaupten, sind einer elementaren Angst immer vorgängig.

Aus den oben angeführten Argumenten lässt sich mit einigem Gewicht behaupten, was Derek Summerfield im Motto zum zweiten Kapitel von „Crazy Like Us“ feststellt:

„Western mental health discourse introduces core components of Western culture, including a theory of human nature, a definition of personhood, a sense of time and memory, and a source of moral authority. None of this is universal.“

 

Fragenbündel

 

Viele Fragen bleiben übrig und lassen uns ratlos. Einige davon lauten: Wie ist, zumindest in der westlichen Welt, die Erfolgsstory und der Siegeszug der Diagnose PTBS/PTSD samt ihrer permanenten Ausdehnung zu erklären?  Was macht „Trauma“ durch alle Schichten der Gesellschaften zu einem alltagssprachlich verwendeten Begriff? Europa hat sehr rasch den „Beitritt“ zur Verwendung dieser Diagnose gemacht. Dies wurde zudem erleichtert, weil auch die WHO in ihrem ICD-10 diese Diagnose übernommen hat, ohne kulturelle Aspekte der Symptombildung und Symptomverarbeitung zu berücksichtigen. Selbst in den einzelnen Staaten existieren keine homogene Kultur, sondern nur sehr unterschiedliche Subkulturen. Auch die so genannte Hochkultur ist nur eine Subkultur mit Abgrenzungsmacht. Bei genauer Binnendifferenzierung bringen die Subkulturen differierende Bedeutungen von posttraumatischer Symptomatik hervor. Eine Kette von Demütigungen, die Unterschichtsangehörige bindet, bringt durch kumulative Effekte möglicherweise heftigere Symptome zutage als es in relativer Sicherheit lebende Menschen vermögen – oder umgekehrt? Das führt zur Frage, ob und wie weit die posttraumatische Belastungsstörung im Kern eine an den Zeitgeist gebundene Weltsicht aus dem Inneren von Individuen sei, gefördert durch kollektive Bedeutungszuschreibungen, und im Besonderen, wenn sie mit einem Begehren nach Reparation verbunden wird. Im Hype des Begriffs „Trauma“ steckt eine Sehnsucht nach unwandelbarer Sicherheit und physiopsychischer Integrität.

Ist es die Suggestion der Universalität psychischer Reaktionen auf traumatischen Stress, verbunden mit der illusionären Hoffnung auf einen sensitiveren Umgang der Menschen miteinander? Hat die vielfältige Angst, die Menschen empfinden, nun einen entlastenden Namen, eine aufgefächerte Ursache und ein Angebot der Linderung oder Beseitigung? In welcher historischen Situation begann der Siegeszug der Diagnose und was war seine ursprüngliche Funktion? Und was ist heute die Funktion im Zusammenhang mit den Auflösungserscheinungen von gesellschaftlichen Bindungen und von sozialer Zugehörigkeit sowie verdunkelter Zukunft? Wird nicht immer mehr Angst, die traumatische Wirkungen hinterlässt, produziert? Über die Politik und die ungezählten Medien? Und wem nützt das? Wie viele Pillen muss man schlucken, um die Ängste zu besänftigen? Haben wir zu lange überwiegend Frieden in Europa? Sind wir in die Ego-Falle gelaufen, die den Narzissmus feiert und die permanente Konkurrenz der Egos befördert? Ist unsere Zeitbetrachtung mit zentralem „Hier und Jetzt“ die einzig Richtige?

Was ursprünglich eine Diagnose für US-Veteranen des Vietnamkrieges war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in zivile Gesellschaften der westlichen Welt, was den Verdacht erregt, hier handele es sich um eine gigantische Projektion der amerikanischen Soldaten-Psyche auf kulturähnliche oder kulturdifferente Mentalitäten. Das Selbstbild in dieser Welt wird durch Angst bestimmt. Das fordert die Frage heraus, was uns abhanden gekommen ist, wenn man davon ausgeht, dass Traumata zu allen Zeiten auftraten.  Kann eine Diagnose in diese Lücke stoßen? Sie kann nicht Sicherheit und Vertrauen gewähren [viii]. Die Diagnose kommt immer erst zum Einsatz, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Es haftet ihr kein präventiver Aspekt an. Mit der Diagnose aber kommt die Notwendigkeit ins Spiel, Bindungen an Experten einzugehen, neue Abhängigkeiten zu riskieren, weil traditionelle in sozialen oder familiären Netzwerken angeblich nicht mehr taugen. Wo solche traditionellen Netzwerke zur Bewältigung von Trauma, Missgeschick, Regelverstößen noch existieren, werden sie diffamiert und als unmodern an den Pranger gestellt. Der Umgang mit posttraumatischen Befindlichkeiten folgt vorgeschriebenen engen Bahnen oder soll es möglichst oft. Das kann nützlich sein, verwandelt aber zugleich psychische Prozesse, d.h. das Intimste eines Menschen, in einen bürokratischen Akt, aus dem, wie bei allen bürokratischen Akten, nichts anderes als Macht hervorlugt. (Es wird Bezahlung fällig, die Zustimmung der Krankenkasse und Dokumentation sind Voraussetzung. Es besteht ein Zeitregime: Heute stehen alle sozialen Dienstleistungen unter bürokratischen Vorgaben, die Unterwerfung fordern.) Kann man das wollen, kann man so seiner Entmachtung zustimmen, gegen die letztlich nur organisiertes, gemeinsames, wohlwollendes Empowerment hilft?

 

Da die Einflüsse aus dem physiologischen und kulturellen Bereich in ihrer Gewichtung als traumatisch oder posttraumatisch noch nicht abschließend bewertet werden können (außer sie unterliegen der Kritik in unterschiedlichen Disziplinen) – gerade posttraumatisch scheinen beide Einflüsse bedeutsam – muss einer zunehmenden Akzentuierung der biologischen Komponenten systemisch widersprochen werden, weil sie mit Bezug auf das Psychotrauma lediglich auf einem Bein steht. Bedeutungen von psychischen Phänomenen werden gesellschaftlich konstruiert und bestimmt. Sie drücken sich sprachlich aus und werden über Sprache/Geste/Attitüde internalisiert. Eine Hegemonie der Physiologie, die Universalität beansprucht und dies vor allem technisch zu begründen sucht, verliert aus dem Auge, dass Physiologie allein lediglich die ziellose, unflexible Voraussetzung, und begleitende vegetative Aufladung von Bedeutungen herstellt, nicht jedoch deren an komplexe Bedingungen angepasste Inhalte. Sagen wir es mit einer platten Analogie: Ein Motor ist noch nie allein gefahren, ohne Räder, eingespeiste Energie und Instrumente der Kraftübertragung bleibt er auf der Stelle, es sei denn, er rollt in technischer Schönheit sinnlos und ohne seine eigentliche Funktion, deren Bedeutung ihm Menschen mithilfe physiologischer Denkprozesse gegeben haben, einen Berg hinunter.



[1]



[i] Georges Devereux (1974) Normal und anormal. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 10ff

[ii] Hans Keilson (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: Enke

[iii] Ethan Watters zitiert Psychologieprofessor Ken Miller: „The meaning of a horrible event has a tremendous impact on the human psyche, and that meaning differs across the world. The meaning matters as much as the event itself.“

[iv] Siehe dazu Bruno Latour, der Überlegungen zu Hybriden anstellt, die ohne Mühe auf den Traumadiskurs übertragen werden können. Bruno Latour (2008) Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt/M. :Suhrkamp, S. 7ff.

[v] Behandelnde, beratende und betreuende Personen von Flüchtlingen und Asylsuchenden befinden sich heute in einem Zwiespalt: Sie benutzen in ihren Gutachten und Stellungnahmen die Nomenklatur des jeweiligen Diagnostic and Statistical Manual der APA, bestätigen damit Therapieindikationen und sind sich nur selten bewusst, dass sie den Hilfesuchenden ein westliches Konzept aufzwingen, indem sie deren psychische Reaktionen nach Desastern in ein homogenes Muster einfügen. Dabei sind in den meisten Fällen die Therapie genannten Interventionen nicht anderes als integrative Arbeit. Diese hat selbstverständlich ihre notwendige Berechtigung: Kommunikation kann therapeutische Akzente haben, wenn man dieselbe Sprache spricht und unter den Begriffen zumindest etwas Ähnliches versteht.

[vi] Ethan Watters (2010) Crazy Like Us. New York, London, Toronto, Sydney: Free Press. S.71: „The idea that people from different cultures might have fundamentally different psychological reactions  to a traumatic event is hard for Americans to grasp. The human body’s visceral reaction to trauma – adrenaline, fear and the fight-or-flight response – is so primal that we assume that the aftereffects of such events would also be the same everywhere.“

[vii] Allan Young (1995) The Harmony of Illusions. Princeton, New Jersey: PUP.

[viii] Ich gebe zu, dass ich mich in meiner praktischen Tätigkeit lange Zeit als überzeugter Missionar für PTBS betätigt habe; mit einem gewissen Abstand stelle ich fest, dass dieser Eifer mich heute eher als MissioNARR qualifiziert. Praxis sucht sich Leitpflöcke, ohne zu erwägen oder in Rechnung zu stellen, dass diese (wie die Pfähle in der Llano estacado in Karl Mays Romanen) in die Irre führen können. Beim Nachdenken kann schon mal der Ariadnefaden reißen und dadurch die Rückkehr zur gewohnten Praxis verhindern.