von Sepp Graessner

 

 

PTSD seems a tailor-made diagnosis for an

age of disenchantment and disillusionment.

(D. Summerfield, 2001)[i]

If mental disorders were listed on the New York exchange,

PTSD would be a growth stock to watch. (P.R. Lees-Haley 1986)[ii]

 

Einführung:

 

    Manche Denker sagen, die Wissenschaft entdecke eine Welt, die bereits vorhanden ist. Andere wiederum meinen, dass die Wissenschaft in Wirklichkeit gar keine bereits vorhandene Welt entdecke, sondern eine solche Welt (mehr oder weniger) erfinde, besonders wenn es um beobachtete Interdependenzen von und fabrizierte Gesetze für sehr komplexe Phänomene geht.

     Das psychische Trauma hat es ja immer schon gegeben, es hieß zumeist Katastrophe, Drama, Unglück, Heimsuchung, Krieg, Willkür und konnte in eine postdramatische Störung münden. Erst seit 35 Jahren existiert mit der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, PTSD) eine Diagnose, zu der sich die „Erfindergenerationen“ im 19. Jahrhundert noch nicht durchringen konnten, vielleicht weil sie der Meinung waren, dass die posttraumatische Symptomatik keine sicher von anderen psychischen Störungen abgrenzbare Entität sei oder sie andere Traumaaspekte in den Vordergrund rückten oder die traumatische Neurose den Sachverhalt am besten ausdrücke. Sie waren noch der Beschreibung individueller Leidensgeschichten verhaftet, kannten wohl noch nicht die Tücken der Statistik, konnten sich noch auf ihre Beobachtungen verlassen, nahmen ihre Wirkungen bei sich und ihren Patienten ernst und hüteten sich vor allzu schnellen Verallgemeinerungen. Vor allem aber wussten diese Generationen, dass jede neue Begriffsbildung in der Diagnostik ein abstraktes Gebilde ist, das seine Existenz den Teilen verdankt, die ohne explizite Bedeutung oder unbewusst bleiben, so dass man sagen kann, die bewusste „Erfindung“ und der bewusste Gebrauch eines neuen Begriffs macht vieles unbewusst, was in Abgleichungsprozessen unberücksichtigt oder marginal geblieben ist. Daher ist der Begriff PTBS, wenn er denn in der heutigen Form erhalten bleibt, ein stets neu zu belebender Prozess und kein Absolutes oder Wahres. Diese Vorläufigkeit widerspricht zudem dem Universalitätsanspruch der Diagnose, außer man nimmt überall im menschlichen Universum dieselbe Abstraktionsfähigkeit und Bedeutungsaufladung an.

Und obwohl es um diagnostizierbare Veränderungen im menschlichen Organismus, d.h. biologische Prozesse, geht, denen Universalität zugesprochen wird, und nicht allein um abstrakte Begriffe, wird jeder einräumen, dass es ohne Begriffe keine realen Tatsachen gibt, über die und von denen man sprechen kann, d.h. im globalen Maßstab haben diagnostische Begriffe eine je eigene Bedeutung, die vieles ausschließt (was im Lateinischen eine der Bedeutungen von abstrahere ist). Die Etablierung der Diagnose PTBS macht zunehmend Schwierigkeiten, nicht so sehr für PraktikerInnen, die nicht primär die ursprüngliche Konzeption anfechten, sondern einfach anwenden. Forschungsergebnisse weisen jedoch oft in diametral entgegengesetzte Richtungen, so dass die Idee, Lebenswirklichkeit kreiere psychische Leidensphasen, die psychiatrisch erklärbar seien, zunehmend in soziale und enigmatische Kategorien entweicht und zur Ideologie werden kann, weil der wissenschaftliche und der populäre Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung nur scheinbar klar und präzise sind. Vielmehr glauben etliche Forscher, der Begriff sei widersprüchlich, transportiere auch viel Nichtpsychologisches, werde trotz oder wegen der Expansion hohler. Nur hohle Begriffe können ideologisch aufgeladen werden.

Dass negativ definierte menschliche Erlebnisse psychische Schmerzen und äquivalente Empfindungen und Antworten auslösen können, ist evident und unbestreitbar. Je intensiver und verwurzelter diese jedoch in normativen Bahnen verlaufen (sollen), desto so hellhöriger muss eine kritische Öffentlichkeit die Grundlagen der Konzeption in Frage stellen.

 

Der allgemeine Hype

 

Psychotrauma und dessen Medikalisierung kamen in den 1980er Jahren noch nicht im öffentlichen Bewusstsein vor. Dies änderte sich nach der Jahrhundertwende schlagartig. Es entstand ein geradezu unwiderstehlicher Hype, als hätte die westliche Welt endlich die Antwort auf bedeutsame Fragen bekommen. Sie bekam aber nur eine klinische Diagnose im DSM-III und ICD-10 mit ausgedehnten Symptomkatalogen. Das hinderte aber weder die wissenschaftlichen Beiträge in Zeitungen noch deren Feuilletons daran, jeden vermeintlichen Fortschritt um Trauma, Traumatherapie, Mechanismen und Zielgruppen als Schritt zu einem neuen Menschenbild zu feiern: Psychische Reaktionen auf äußere Einwirkungen kennt jeder: Die Banalität dieser Wechselwirkung macht das Psychotrauma zu einem dauerhaften Lebensbegleiter. Die Medien nahmen ihre Funktion als Multiplikatoren ernst. Und sie mussten emsig sein, denn die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zu PTBS erreichte seit 1980 schwindelerregende Höhen: 1979 = 0, 2004 = 643 für MEDLINE-Publikationen[iii].

Sowohl am Begriff Trauma wie an der psychiatrischen Diagnose PTBS stellen sich wegen der Komplexität und der zahlreichen unverstandenen Mechanismen viele Interessenten ein, die nicht nur eine neue kulturelle Position zu der Beziehung von äußerer Wirklichkeit und innerem Erleben und „Verarbeiten“ formulieren und bestätigen wollen und sich für ihre empathische Sensibilität feiern, sondern auch handfeste Anliegen haben, wie z.B. Pharmaprodukte für „Krankheiten“ herzustellen, die gesellschaftliche und institutionelle Durchdringung des Intimen zu verfeinern, Arbeitsplätze zu schaffen und Hilfsangebote zu professionalisieren, groben Umgang mit Schwachen begrifflich (aber nicht real) zu ächten oder das „Opfer“ zum Gegenstand von Wissenschaft zu machen, weil die schwergewichtige Täterperspektive in Gutachten und Gerichtsverfahren Fairness und Gleichgewicht verletzt. Aber auch die Medien bedienen sich der Diagnose, die auf innere Befindlichkeiten verweist. Ein heftiger und andauernder Hype hat „Traumatisch“ und „PTBS“ in die Schlagzeilen gespült, von wo sie das „westliche“ Selbstbild formen und beeinflussen. Für einige Medien ist das Thema deshalb interessant, weil es Vergangenheit und Zukunft neu zu betrachten vorgibt. Das Trauma der Vergangenheit nach dem Weltkrieg II zum Beispiel wird neu aufgeladen im Sinne einer Relativierung der Schuldfrage hinsichtlich des Krieges und des Mordens. Trauma ist ein relativierender Begriff, der Täteraspekte in den Hintergrund verbannt, und mit der Diagnose PTBS wird ärztlich attestiert, dass ein Opferstatus vorliegt, von dem man sich allein durch Psychotherapie befreien kann.

Allein in Deutschland sind in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Traumakliniken und Behandlungseinrichtungen für traumatisierte Flüchtlinge entstanden, Traumaambulanzen ergänzen das klinisch psychiatrische Angebot, Spezialzeitschriften werden zu Verkündigungsorganen, Weiterbildung in Psychotraumatologie lockt allerorten mit kostspieligen Workshops. Durch die Anerkennung der PTBS durch die WHO (ICD-10) wurde erleichtert, dass in westlichen Gesellschaften alle therapeutischen Einrichtungen sich um das Wissen  des PTBS-Katalogs und die entsprechende Performance bemühen müssen. Trauma hat Konjunktur, stellen ratlos vor allem die Experten fest, die von dem Boom leben. Die Krankheitskosten für langwierige Therapien bei posttraumatischen Prozessen sind in Großbritannien seit der Einführung der Diagnose PTBS und anderer Störungen erheblich gestiegen. Die Schätzzahlen der Kosten, die Joseph Stieglitz und Linda Barnes für Veteranen aus den Irak- und Afghanistankriegen vorlegten, summierten Ausgaben für Gesundheits- und Invalidenversorgung sowie Erwerbsunfähigkeitsrenten und kamen in einem realistischen Szenario auf 717 Milliarden Dollar[iv]. In Deutschland kennen wir dazu keine Zahlen. Wir wissen nur, dass die Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Störungen steil angestiegen sind. Nun sind die Kosten für Therapien von Menschen mit traumatischen Erlebnissen kein Grund, an der Berechtigung der Diagnose zu zweifeln. Indem wir die Störungen aber in den individuellen inneren Verfassungen suchen, fällt der Blick nicht auf nahe liegende Verursachungsmechanismen und führt nicht zur Forderung nach deren Beseitigung. Und das gilt für den Raubtierkapitalismus ebenso wie für Kriege und andere existenzielle Bedrohungen. Die westlich dominierte Kultur will die Verschiebung von kollektiv behandelbaren Folgephänomenen von Trauma hin zu individuellen Ansätzen nicht zur Kenntnis nehmen. Wie sind ostasiatische Länder mit den Gräueln der japanischen Invasoren, wie ist Vietnam mit Krieg und Agent Orange umgegangen, wie haben von Kolonialismus befreite Staaten ihre Traumata bearbeitet? Wer die Folgen der Verwerfungen von Geschichte allein in den Individuen sucht, wird keine Antwort auf diese Fragen haben und nur der Zeit Heilkraft zusprechen.

 

Moralische Verzweigungen einer Diagnose

 

Das eigentliche Problem der Diagnose PTBS liegt in der moralischen Bewertung psychischer Folgephänomene nach Traumata, denn moralische Kategorien sind graduell, zuweilen sehr unterschiedlich in den einzelnen Gesellschaften verankert und erfahrbar. Moralische Akzentuierung von Unglück und Heimsuchungen durch Religion/Gesellschaftsforderungen findet in Sri Lanka eine andere Begründung als in Mexico, in Europa eine andere als in Japan. Es gibt folglich keinen universell gültigen Einfluss von Moral auf Krankheitsbeschreibungen. Man kann durchaus behaupten, dass physische Verletzungen oder Erkrankungen kaum moralische Werturteile hervorrufen (Appendizitis kommt ohne Moral aus), sieht man bezeichnender Weise von Infektionskrankheiten der Genitale, Tuberkulose, Pest und Lepra ab, die in ihren Spätstadien zu ausgrenzenden Asylierungen führ(t)en.

Worin liegt das moralische Werturteil bei posttraumatischen Zuständen/Prozessen? Es muss sich keineswegs um explizite Ausgrenzungen oder Stigmatisierungen handeln. Es scheint zu genügen, einen Opferstatus anzunehmen, indem man man Opfer einer situativen Konstellation wurde, unabhängig von jeder Vorgeschichte, so wie die Deutschen Opfer von Vertreibung wurden, nachdem sie zahllose Andere vertrieben hatten.  Exklusion ist bereits in den Klassifikationen für Befindlichkeiten enthalten, die durch den Dualismus von „guten und schlechten Symptomen“ Außenseiter fabrizieren. Wenn Gesellschaft psychische Krankheiten produziert und beschreibt, kommen immer moralische Bewertungen auf: Aus „Aktiv/Passiv“, d.h. Handeln/Leiden, wird „Täter/Opfer“, wobei die Opfer entweder selbst schuld sind, weil ihr Handeln einer höheren Macht missfallen hat, oder der von Teilen der Gesellschaft ausgehende Impuls zur Verletzung schamhaft verdrängt wird. Schuld und Scham haben moralische Konnotationen, ja sie bilden das moralische Korsett in jeder Gesellschaft. Klassifikationen von Krankheiten – die Nosologie – spiegeln in jeder Gesellschaft die Prinzipien gesellschaftlicher Organisation wider[v]. Ist eine Gesellschaft restriktiv in sexuellen Fragen, droht der moralische Finger mit definierten Geschlechtskrankheiten, ist sie dem Schicksal von Opfern zugeneigt, bestimmt sie eine medizinische Kategorie, die nur der Psyche von Opfern gilt. Krankheiten produzieren immer „Opfer“, sodass die Diagnose PTBS die Wahrnehmung und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse im Opfer fokussiert.

Durch moralische Kategorien kommt der gesellschaftliche Einfluss auf diagnostische Begriffe zur Geltung. Die an US-Veteranen des Vietnamkrieges „nachgewiesenen“ Anpassungsstörungen im Sinne von PTBS betrafen im Jahre 1988 rund 479.000 Soldaten von einer Gesamtzahl von 3,14 Millionen, die in Vietnam Dienst taten. 15 Jahre später war diese Zahl nicht geringer geworden. Sie verblüffte, weil nur rund 300.000 Veteranen in Kampftruppen befohlen waren und die meisten Veteranen in Spezialkrankenhäusern Therapien aller Arten erhalten hatten, die freilich keine Wirkung entfalteten, weil die Berichte von Symptomen der PTBS nicht geringer werden konnten, solange Renten und Entschädigungen von der Präsenz der Diagnose abhängig waren[vi].

Der Widerstand von Veteranen gegen den Krieg hatte 1967 die Heimat erreicht, Exzesse von Grausamkeit sensibilisierten die junge Generation in den USA, und die psychisch irritierten Soldaten wurden zunehmend klinischen Kategorien zugeordnet, wofür vor allem Robert Lifton und Chaim Shatan mit ihren Interventionen sorgten[vii]. Von ihnen ging eine treibende Kraft aus, damit eine Diagnose entstand, die innenpolitisch Entspannung herbeizuführen fähig war und den Druck aus dem Kessel nahm. Mit der neu erfundenen Diagnose war die Legitimation gegeben, sich von Staates Seite aufwendig um die beschädigten Veteranen zu kümmern, was im Klima Mitte der 1970er Jahre auf andere Weise nicht möglich schien, weil den zurückkehrenden Soldaten nach My Lai auch öffentlich Abscheu entgegengebracht wurde.

Die expandierende Diagnose hat Züge einer moralischen Mischmaschine angenommen, wenn das Überleben in Auschwitz und der mittelschwere Autounfall – das intendierte Quälen und der zufällige Blechschaden mit Verspannung der HWS-Muskulatur – in derselben Kategorie abgebucht werden. Schon in der Wahrnehmung dieser unterschiedlichen Szenarien liegt eine moralisch differenzierende Sonde, die vollkommen andere Resultate ergibt und sich daher gegen die Vereinnahmung in einem Katalog sträubt. Die Expansion der Diagnose durch die beiden A-Kriterien macht durch die Beglaubigung der Task-Force deutlich, dass nunmehr Lebensbedrohung nicht mehr die notwendige Voraussetzung einer posttraumatischen Störung ist, sondern auch ohne Bedrohung des eigenen Lebens die kardinalen Symptome einer PTBS auftreten können: Allein durch Zeugenschaft. Diese Veränderung erleichterte psychophysische Laboruntersuchungen, die ja ohne reale Bedrohung zumeist retrospektiv ablaufen.

 

Wachsende Skepsis

 

Ob also die posttraumatische Belastungsstörung ein willkürliches Konstrukt ist, das einem Bedürfnis entspricht, äußere und innere Phänomene in eine engere und verstehbare Beziehung zu setzen, oder nur summarisch einen Symptomenkatalog aufstellt, der in gleicher oder verwandter Weise bei anderen psychischen Störungen erhebbar ist, das soll anhand neuer Forschungen in aller Vorläufigkeit zu beantworten versucht werden. Ein Teil der Skepsis rührt daher, dass PTBS mit „Checklisten“ (top-down) ermittelt und die geläufige „bottom-up“-Anamneseerhebung mit ergänzender Befragung von Angehörigen hinfällig wurde: Man kannte das auslösende Ereignis, folglich waren alle Phänomene des psychischen Befindens „kausal“, wenn auch unlogisch, auf das Ereignis zurückzuführen, als hätte es nicht schon ein Leben vor dem Trauma gegeben.  Die Zahl skeptischer Forscher nimmt angesichts der Expansion der Diagnose und ihrer Verursachungsmechanismen konstant zu, allerdings weniger in Kontinentaleuropa, wo man geneigt ist, dem Paradigmenwechsel von Katastrophe und Unglück zum Trauma und damit der Diagnose PTBS einen Ewigkeitsrang zuzusprechen. Die Skepsis betrifft alle Erscheinungsformen des Traumas und der Diagnose PTBS, und dies nicht nur, weil durch Gerichtsverfahren Entschädigungszahlungen angestrebt werden, deren zentrale Begründung in der Diagnose liegt, was zu einem Wettstreit zwischen juristischer und psychiatrischer Perspektive und Wahrheit führt. Skeptiker sind sich bewusst, dass Zweifel an der Diagnose und ihrem Zustandekommen kulturellen (in geringerem Maße psychiatrischen) Standards zuwiderlaufen können[viii]. So kann z.B. eine politische Verfolgung, wenn sie mit traumatischen Störungen verbunden ist, leichter, druckvoller und überzeugender zu einer Anerkennung als Asylberechtigte/r oder Flüchtling führen. Die Welt teilt sich, so die schwärmerische Ansicht der PTBS-Anhänger, in Menschen mit fortdauerndem Trauma und in jene, die nur noch nicht diagnostiziert wurden. Natürlich sind all die vorangegangenen Bemerkungen davon abhängig, was Trauma oder traumatischer Stress überhaupt ist und ob der Kanon psychiatrischer Definitionen, die sich auf traumatischen Stress beziehen, unter Wissenschaftlern anerkannt wird. Skeptikern, so McNally, wird gern Bösartigkeit oder Hartherzigkeit unterstellt, mit der sie die Stimmen der Traumatisierten verstummen lassen wollen. Zudem seien sie ignorant gegenüber den psychiatrischen Folgen schrecklicher Erfahrungen[ix]. Vor allem aber wird Skeptikern vorgehalten, sie unterschätzten den Einfluss psychobiologischer Befunde auf die Chancen zur Validitätsprüfung von Leiden, indem sie der Diagnose PTBS eine soziale Grundlage (Konstruktion) und vor allem soziale Auswirkungen zusprechen. Trauma sei dagegen eine in der biologischen Natur des Menschen vorhandene Tatsache, die auch Wirkungen entfalte, wenn sie nicht als psychiatrisches Syndrom aufgefasst werde. Es bleibt aber eine unbeantwortete Frage, warum die biologische Antwort auf traumatischen Stress anders und spezifisch ausfallen sollte, als es der „normale“ Stress bewirkt. Vermutlich müssen wir uns damit abfinden, dass jegliches Dogma (Konstruktion versus Biologie) in Frage gestellt gehört und damit eine Öffnung für eine richtige Mischung einsetzen kann. Das Oszillieren zwischen Psychobiologie und gesellschaftlichen Praktiken, wozu auch die Vorstellung einer Konstruktion von posttraumatischen Symptomen gehört, ist allerdings nicht hilfreich. Zwar wird man einräumen, dass Stress in globaler Verteilung graduell unterschiedliche Schäden in allen Organismen verursacht, allerdings wurde dieses biologische Muster neu aufgeteilt in „psychopathogen“ und pathogen für  körperliche Funktionen, und diese Neueinteilung von Stress beruht auf sozialer Übereinkunft, die eine traditionelle Trennung von Körper und Seele nutzt und festschreibt. Dadurch kann der Kuchen unter den verschiedenen Interessenten aufgeteilt werden, ohne dass die Frage geklärt werden muss, ob umschriebene psychiatrische Erkrankungen/Störungen überhaupt voneinander abgrenzbar sind und wann sie bei Überlappungen einer bestimmten Symptomatik unter welche Diagnose subsummiert gehören. PTBS, diese vier Buchstaben, ersparen uns möglicherweise Ungetüme wie „posttraumatische phobische depressive vermeidende Verhaltensstörung mit Persönlichkeits- und Funktionsveränderung unter erneuter psychischer Belastung“. Aber dann hätten wir viel Gerassel um Wenig.

 

Weitere Fragestellungen:

 

Fassen wir zusammen: PTBS als Diagnose hat in 35 Jahren sehr viele Probleme und Fragen aufgeworfen, das Problem der Komorbiditäten, das Auftauchen der Vollsymptomatik auch ohne Trauma im Sinne des A1-Kriteriums, das Problem der Opferfixierung, das Problem der vorgetäuschten Symptome und der angestrebten Entschädigungen, das Problem, mit der Diagnose PTBS übertrage sich kontaminierend militärisches Erleben auf zivile Sektoren, das Problem der Universalität, d.h. die Einflüsse, die von Natur und Kultur auf menschliches Fühlen und Denken ausgehen. Daneben gibt es noch Probleme, dass die Symptome nicht spezifisch für Traumata sind, sondern Begleiter „normaler“ Reaktionen auf heftige Reize sein oder anderen psychischen Krankheitsbeschreibungen zugeordnet werden können. Daneben muss auf die eingeschränkte Gültigkeit der Messinstrumente und Inventare eingegangen werden. Die Liste der Probleme lässt sich ebenso rasch erweitern wie die neu erschlossenen Auslöserreize für posttraumatische Prozesse. Am Schicksal der Diagnose PTBS lässt sich die Relativität und die Dynamik von Wahrheit ablesen. Solche Wahrheit ist nie endgültig.

         Zunächst betrachten wir einen Einwand, der uns in die generellen Probleme psychiatrischer Diagnosen führt: Wo enden die Grenzen der Normalität? Wo beginnt die Pathologie? Kann sich das individuelle Leben mit statistischen Angaben zufrieden geben? Wer ist berechtigt, solche Grenzziehungen vorzunehmen? Wie werden Abwehrmechanismen wie Dissoziation oder Verdrängung im Rahmen von PTBS konzipiert, da sie sich einer Objektivierung entziehen, also nicht Gegenstand empirischer Forschung werden können?

 

Ein Beispiel: Ein Mann stolpert zwei Wochen nach Krankenhausentlassung im Wald über eine Baumwurzel. Er stürzt, sein Kopf schlägt auf einen Stein. Er blutet heftig, wirkt auf Begleiter irritiert und handlungsschwach. Retrograde Amnesie, Commotio cerebri. Wochen später träumt er von sich mit einem Schädelbruch mit Persönlichkeitsveränderungen, vermeidet, in den Wald zu gehen, legt sich präventiv einen Storchengang zu und befindet sich konstant auf einem erhöhten Erregungsniveau, ist gereizt und schreckhaft. Diese Beschwerden führen ihn zum Psychiater.

Man könnte dieser Person eine posttraumatische Belastungsstörung zusprechen, aber nur, wenn man die ausgedehnte Vorgeschichte nicht ermittelt. Er hatte nämlich zahlreiche Operationen am offenen Herzen und trägt Gefäßprothesen in den Beinen. Es hat daher seine Füße nicht ausreichend heben können und ist deshalb gestolpert. Vielleicht war er auch durch potente Medikamente oder durch einen iatrogenen Diabetes mellitus unkonzentriert. Das traumatische Ereignis im engeren Sinne hatte also eine lange Vorgeschichte von Nikotinabusus, ungesunder Ernährung und Leichtsinn. Der Psychiater konzentriert sich auf das traumatische Ereignis und stellt eine logisch erscheinende Beziehung zwischen Sturz und psychischen Folgesymptomen her. Der Sturz und seine psychischen Folgen sind vielleicht nur das Ende einer Kette von Bedingungen, die man Leben nennt. Es ist dieses Spannungsfeld von Einflussfaktoren, das unsere Sicht auf Trauma und PTBS bestimmen sollte. Eine Fragmentierung von Ereignissen aus einem großen Kontext kann nur einen Ausschnitt bewerten. Wer das Verstehen eines Menschen von einem Fragment abhängig macht, riskiert Kränkungen.

 

Ein entscheidender Mangel des Konzepts der posttraumatischen Belastungsstörung, das eine unmittelbare Beziehung zwischen Ereignis und emotionalen Folgen (später können noch somatische Verwandlungen hinzutreten) herstellt, ist seine positivistische Geschichtslosigkeit, indem konzipiert wird, gewalttätige Gegnerschaft, Not und Unglück führten zu kürzer oder länger dauernden, individuell gefühlten Folgephänomenen, was unbestreitbar ist – durch Empirie und Evidenz. Für diese Erkenntnis braucht man keine Wissenschaft und keine Forschung. Aber verkürzt diese Sicht nicht Lebensgeschichte, ohne einflussreiche Kontexte zu berücksichtigen? Wird durch die Fokussierung auf ein oder mehrere traumatische Erlebnisse Leben eingeschrumpft auf die Ereignisse und die subjektiven Folgen in der psychosozialen Existenz? Wie soll ein Professioneller einen Leidenden betrachten, wenn er das Leiden als Krankheit definiert hat? Leiden mag ein Symptom sein, aber vermutlich nur, wenn die Krankheit vom Leben abgetrennt bleibt. Ein Professioneller sollte zu Empathie mit dem Leiden fähig sein und sich verantwortungsvoll um die Krankheit kümmern. Leben ist nicht eine Krankheit (weiß eigentlich jeder!).

Bei solchen Definitionen, wie im DSM-V verbindlich angeführt, kann es zudem zu Kontroversen mit dem Recht kommen: Nach dem A2-Kriterium (eines von zwei Auslöserkonstellationen für PTBS) kann nunmehr auch die Zeugenschaft einer Integritätsverletzung zu posttraumatischen Störungen führen, wenn sie Hilflosigkeit, Angst und Schrecken hervorruft. Es kann zu Kollisionen mit dem Recht führen, wenn z.B. bei frühem sexualisiertem Missbrauch kein Schrecken und keine Hilflosigkeit resultierte, weil keine Bedrohung empfunden wurde, und daher die Diagnose PTBS definitionsgemäß nicht vergeben werden kann. Nach vielen Jahren ist der durch Missbrauch bedingte Schrecken, die Hilflosigkeit, die Panik kein konstantes Symptom, sondern eine berichtete Erinnerung an ein traumatisches Ereignis, das Schrecken und Angst zu erklären vermag, aber kaum im Sinne eines aktuell gültigen Beweises. Das heißt, das Verbot der Verletzung sexueller Selbstbestimmung kann sich in manchen Fällen nicht auf die gutachterlich beglaubigte Diagnose stützen. Somit wären solche Fälle, die mit peritraumatischer Abwehr/Dissoziation auf einen definierten Stressor reagieren, von der Vergabe der Diagnose PTBS ausgeschlossen, wenn sie ihre „Erinnerungen“ nicht durch Zeugen untermauern können. Dissoziation ist nach Karl Jaspers ein mechanistisches Konzept der Seele, das Analogien herstellt, die sich als Beschreibung tarnen, aber  als Erklärung fungieren[x]. Man erkennt hier die Fallstricke von definierten Phänomenen, die Normen vorgeben und sich zuweilen darin verheddern. Das hätte Auswirkungen auf die forensische Gutachtertätigkeit, die mit der Diagnose PTBS begründet wird. Es war erstaunlich, in welchem Maße Richter der vorgetragenen Beschreibung offensichtlich einleuchtender Phänomene gefolgt sind, wie sie somit einen Beitrag zur Verfestigung des Opferstatus und zur schamhaften Nichtbefragung der Diagnose geleistet haben, und zwar in Verfahren vor dem Straf-, Sozial- und Verwaltungsgericht.

Man kann selbstverständlich die Diagnose PTBS auch auf andere Weise konzeptualisieren: Man stelle sich ein Kontinuum vor, auf dem die möglichen Reaktionen auf traumatische Stressoren aber auch andere Stressoren verzeichnet sind, in ansteigender Intensität. Dadurch würden nicht Kategorien gebildet sondern Dimensionen und es ließe sich innerhalb des Kontinuums der Punkt bestimmen, der dem Ausmaß der Reaktionen am ehesten entspricht. Man entginge dadurch der Notwendigkeit, den Übergang in die pathologischen Regionen zu bestimmen[xi].

 

 

Begriffliche Diagnose: Diagnose des Begriffs PTBS

 

Als erstes muss man sich den Wörtern  „posttraumatisch, Belastungsstörung“ zuwenden. Sie enthalten eine temporale Kausalität, die inzwischen immer mehr in Zweifel gezogen wird, nicht nur, weil es kein objektives Trauma gibt, sondern nur eines, unter dem ein Mensch kürzer oder länger leidet oder nicht. Probleme entstehen zudem durch den Fakt, dass ein Trauma in einer Person eingeschlossen bliebe, wenn es nicht durch Dritte bestätigt würde. Die registrierten und registrierbaren Symptome einer Person nach traumatischen Ereignissen stehen nach den DSM-Kriterien allein in ursächlichen Verhältnis zu einem definierten Ereignis, das primär Angst, Schrecken und Hilflosigkeit verursacht: Die Diagnose ist eins mit der Ätiologie. Das wird durch Beobachtungen widerlegt, die feststellen, dass die Symptome der PTBS auch bei Leiden auftreten, die nicht auf ein traumatisches Ereignis zurückgehen. Noch 1977 bestand das Psychiatrie-Lehrbuch von Kolb „Modern Clinical Psychiatry“ (9.Aufl.) darauf, dass „posttraumatisch“ allein für Hirnverletzungen reserviert sei[xii]. Es muss danach etwas Bedeutendes geschehen sein, das für eine Transformation des Begriffs gesorgt hat. Schon im Jahre 1980 erschien mit dem DSM-III die heutige Bedeutung auf der Bühne, die eng mit einem am grünen Tisch definierten traumatischen Erlebnis verknüpft war und nun unbeirrbar hartnäckig die psychologischen Folgen eines Traumas bezeichnete.

Die Entwicklung des Konzepts der posttraumatischen Belastungsstörung seit den späten 1970er Jahren (DSM-II-V) hat keine größere Präzision im Zugang und Verständnis hervorgebracht. Vielmehr sei, so McHugh und Treisman, durch das Konzept der dissoziierten traumatischen Erinnerungen eine geheimnisvolle Komponente in die Diagnostik eingezogen, die einem Verstehen der psychologischen Reaktionen im Wege steht. McNally spricht sogar von Mythen über Trauma und Gedächtnis[xiii].

 

Pathologisierung von Leid

 

Indem man durch die Diagnose PTBS die Folgen nach Psychotrauma pathologisiert, pathologisiert man das Leid, das es im Individuum auslöst. Mit der Etikettierung entziehe ich dem gefühlten und Symptome auslösenden Leid zwar nicht seine Existenz, wohl aber Adäquatheit und Verhältnismäßigkeit sowie seine individuelle Intensität. Vor allem wird durch individuelle Pathologisierung die soziale Dimension von Leid und Leiden getilgt. Leid bleibt in einem Menschen eingeschlossen, wenn es nicht mit-geteilt wird. Individuelles Leid wird über die Medikalisierung in neue Normen und Normabweichungen gedrängt. Innerhalb der therapeutischen Logik ist klar, dass die Symptome, das pathologisierte Leid, beseitigt werden müssen. Eine Diagnose wie PTBS gewichtet daher das Leid höchst schematisch, wenn es Betroffene damit konfrontiert, dass im Allgemeinen 70%-90% der Menschen mit den gleichen oder vergleichbaren Erlebnissen die „pathologische“ Erscheinungsform nicht aufweisen oder nur kurz beklagen. PTSD-Diagnosenbenutzer produzieren in stigmatisierender Weise spezifische Minderheiten. Besonders unangenehm soll es sich angeblich auswirken, wenn Leid Tragende ihre Trauer ausdehnen in Grenzbereiche, die bereits als Übergang in ein pathologisches Verhalten definiert sind. Dies wäre ein deutlicher Schritt in Richtung gesellschaftlich verordneter Vorschriften, die bestimmen, wie und wie lange Gefühle empfunden werden sollen. Das gilt aber nicht für den Hass am Montag in Dresden, der massenpsychologische Nahrung erhält und sich nicht an Normen halten mag.

Dies geht konsequent auf den Paradigmenwechsel des modernen Psychotraumas zurück: Psychische Symptome, die auf ein traumatisches Gedächtnis zurückzuführen waren, hatten ihren Ursprung nicht mehr im unbewusst Gemachten, in der Wiederkehr der verdrängten Erinnerung, sondern wurden durch aktualisierende Flashbacks auf ein Symptome auslösendes Ereignis (oder mehrere) bezogen. Die Gedächtniswissenschaften hatten damit eine geheimnisvolle Tür geöffnet: Erinnerungen an reale Wahrnehmungen der Vergangenheit (mit überwältigender Wucht) waren für die Ausbildung von Symptomen verantwortlich: Vergangenes war folglich nicht vergangen, sondern beeinflusste Zukunft in der Psyche eines Individuums über die Gegenwart hinaus. (Auch für diese Erkenntnis braucht man keine Wissenschaft.) Der unwillkürliche Erinnerungsvorgang selbst war zu einem zentralen Teilsymptom einer Pathologie und Diagnose geworden, wenn er sich repetitiv auf ein Ereignis bezog. Diese Art von Erinnerung nahm eine autonome Position ein und entzog sich dem Willen des Betroffenen: Das Gehirn übernahm wie in einem autoimmunologischen Prozess der Selbstschädigung die Regie über Störungen, Unangepasstheit, Krankheit und Auffälligkeit und verleibte sich gleichsam als Struktur das kausale Wirkprinzip zwischen Ereignis und Symptom ein. Finden wir hier nicht eine seit Urzeiten bekannte Verbindung zu den Auffassungen von Schuldempfindungen, die sich gleichfalls unaufgefordert oder nach Triggern melden und eine Kaskade vegetativer Begleiterscheinungen auslösen können? Zugegeben: nur eine Analogie. Schuldgefühle haben ein kulturell und kommunikativ geformtes Gewissen zur Grundlage. Sie sind mit einem Erinnerungsvorgang assoziiert, oft mit einem unwillkürlichen. Sie können zu Vermeidungen tendieren, indem Personen, Orte, Rhythmen vermieden werden, die an den Auslöser von Schuldgefühlen erinnern. Schuldgefühle können paradoxerweise aggressiv oder übererregt machen, Wut auslösen. Sie können in depressive Stimmungen ausmünden, wenn eine Erlösung oder Vergebung nicht am Horizont aufscheint. Die eigentliche Intrusion oder Inkorporation von Schuldgefühlen hat schon viel früher als ein schuldhaftes und in der Erinnerung quälendes Ereignis stattgefunden: Bei der Erziehung des Gewissens, durch Gebote und Verbote, beim Lernen von Frustrationstoleranz und beim Verzicht auf Lustbefriedigung. Es bleibt die Frage zurück: wie kann ein vom Bewusstsein abgekoppelter psychischer Prozess verstanden werden? Und kann er Gegenstand von Laboratoriumsforschung werden? Wie eine Krebsgeschwulst, die auch ohne Signale ans Bewusstsein beginnt? Vermutlich helfen physiologische Analogien nicht weiter.

 

Was ist spezifisch?

 

Die Vielzahl der posttraumatischen Teil- und Vollverläufe, die zu psychosozialer Beeinträchtigung führen können, ist Anlass für Verwunderung. Die Literatur fächert PTBS auf in akute, chronische, verzögerte, komplexe, subsyndromale, fragmentierte und sogar maskierte oder larvierte Erscheinungsformen. Das könnte zu denken geben, wenn man Vergleiche mit anderen psychischen Störungen anstellt. Die unterschiedlichen Repräsentationen werden landläufig mit denselben Instrumenten – Screening und Fragebögen -  „verifizierend“ erfasst. Dazu zählt an erster Stelle der Bericht des Patienten, der durch die Messverfahren bestätigt wird.

Die Spezifität der Symptomatik, auf ein eindeutiges verursachendes Ereignis zu verweisen, darf heute nach 35 Jahren Forschung in Frage gestellt werden. Das Bündel der Symptome kann eben auch bei Depressionen, Phobien, Zwangsstörungen und Angststörungen vorkommen und kann damit die kardinalen Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung B bis D des DSM-IV erfüllen[xiv]. Hinsichtlich des Zeitpunktes des Ausbruchs und der Dauer der Symptomatik kann bei den genannten Störungen das E-Kriterium zumeist als gegeben angesehen werden. Auch das F-Kriterium – Funktionsbeschränkungen in Alltag und Beruf – wird in den meisten Fällen bestätigt[xv]. Gehen wir allein von den synoptischen Symptomclustern aus, wird man nicht zwangsläufig nach einem gravierenden traumatischen Ereignis fahnden, sondern auch andere Störungen der Wahrnehmung und psychosozialen Verarbeitung berücksichtigen müssen. Findet man jedoch anamnestisch ein traumatisches Ereignis, wird oft die weitere Differentialdiagnostik eingestellt. Der umgekehrte Fall, dass ein traumatisches Ereignis mit Bestimmtheit zu umschriebenen Symptomen führt, ist längst empirisch widerlegt, wofür schon die Vielzahl der posttraumatischen Verläufe ein Indiz sei mag.

Die Prävalenz für Einzelsymptome, die jeder adulte Mensch aufweist, macht die Sache noch heikler, stellen sie doch eine kausale Beziehung zwischen Erziehung/Sozialisation/Gewissensbildung und Teilsymptomen des PTBS-Syndroms her, die durch allerlei Gefährdungen des Alltags verstärkt wird. Resultate einer repräsentativen Studie in den USA mit 6000 Erwachsenen zeigten in einer von Frieden und Wohlstand geprägten Epoche zeigten bei 61 % der Männer und 51% der Frauen mindestens ein traumatisches Erlebnis in deren Biographie[xvi].

Daraus haben Forscher die Frage abgeleitet, ob PTBS überhaupt durch traumatischen Stress verursacht werde[xvii]. Denn immer mehr gesellschaftliche Konstellationen – außer unmittelbarer physischer Gewalt und Lebensbedrohung -  lösen den Ausbruch von Symptomen aus, die ihnen 1980 noch nicht zugeordnet wurden. Scheidung wird hier in der Literatur genannt, weil es sich hierbei um demütigende Erlebnisse für zumindest einen Teil eines Paares handelt, die metaphorisch als Tod eines gemeinsamen Projekts erlebt werden, aber auch TV-Filme mit verstörenden Inhalten können PTBS (erhöhte Schreckhaftigkeit) hervorbringen ebenso wie die Verarmung eines Landwirts, die durch den Tod oder das Keulen all seiner Tiere (MuKseuche) eingetreten ist. Die Palette der Symptome wurde ferner in der Literatur nach Mobbing und sexuell aufgeladenen Witzen auf Kosten einer Person beschrieben. Untersuchungen an Collegestudenten, die keinem expliziten Trauma ausgesetzt waren, wiesen eine höhere Übereinstimmung mit den PTBS-Kriterien B-E auf als solche, die das Kriterium A in Anspruch nahmen. Daraus wurde die süffisante Frage formuliert: „Is life stress more traumatic than traumatic stress?“[xviii] Andere Forscher fanden keine signifikanten Unterschiede im Niveau der PTBS-Kriterien, wenn Menschen mit und ohne traumatisches Erlebnis verglichen wurden[xix].

Die Verwirrung wird deutlich, wenn man die Verfahren nach Rente, Invalidität, Wiedergutmachung, Entschädigung, Rehabilitation und Asyl berücksichtigt, die mit der psychiatrisch beglaubigten Diagnose PTBS begründet werden. Immer mehr Forschungsansätze bemühen sich herauszufinden, wie Simulanten oder Träger nur einiger (partieller) Symptome von denen getrennt werden, die krank und leidend sind. Das führt zu Fragen, wie erfundene Berichte von Symptomen von wahren Symptomen (auch die wahren müssen berichtet werden) unterschieden werden können, besonders, wenn die erfunden berichteten voll ins Leben integriert wurden, zum Stil der Persönlichkeit gehören, weil sie über Jahre mit staatlicher Anerkennung verbunden waren.

Es wurde in den USA festgestellt, dass 40-70% der befragten Menschen eine Prävalenz für Traumata in deren Leben aufweisen, jedoch nur 8-14% eine PTBS diagnostiziert bekommen. Es ist inzwischen ein alter Hut, dass nicht jedes Trauma zur posttraumatischen Belastungsstörung führt.

 

Das Problem der Komorbiditäten

 

Man spricht von Komorbiditäten, wenn neben der Symptomatik der Hauptdiagnose weitere Symptome feststellbar sind, die Teilbereiche einer anderen Diagnose abdecken oder man findet Symptome, die mehreren definierten Krankheiten zugeordnet werden können. Der Begriff ist relativ neu; in den 1970er Jahren kannte man ihn noch nicht im Pschyrembel. Bei physischen Krankheiten können Komorbiditäten auftreten, so z.B. wenn Komplikationen einer Grundkrankheit weitere Organe einbeziehen. Dann lassen sich z.B.  bei Diabetes mellitus Veränderungen der Retina, der Nieren, der Gefäße usw. feststellen. Dabei handelt es sich eher um Komplikationen, die auf der Basis der Grundkrankheit entstehen und eine eigene Dynamik entfalten.

Wenn bei der Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung von Erwachsenen die Symptome zusammengetragen werden (die meisten müssen subjektiv berichtet werden), haben diese Erwachsenen eine kürzere oder längere Geschichte mit Einflüssen durch einen unterschwelligen oder traumatischen Stress. Das heißt, die Vorerfahrungen prägen den psychischen Umgang mit einem späteren Trauma des Kriteriums A. Allerdings spricht man bei den Dispositionen für die definierte Krankheit PTBS, die im psychischen Bereich aus sozialen Bezügen entspringen, nicht von Komorbidität. Sie sind ja auch schwer zu fassen, weil sie allein eine Vorstellung sind.

Möglicherweise entstand die Rede von den psychischen Komorbiditäten erst dadurch, dass eine neue Diagnose definiert wurde, die nicht sicher von Angststörungen und depressiver Verstimmung abgegrenzt werden konnte. Die Diagnose wurde als eine möglichst gering stigmatisierende Entität für US-Veteranen erfunden ohne Berücksichtigung der bekannten Symptomatiken, wie sie sich bei z.B. Depressionsverläufen, Angststörungen, Phobien oder affektiven Störungen zeigen. Die Enge der diagnostischen Kriterien und ihre behauptete Spezifität muss daher diese in Frage stehenden Diagnosen als Komorbiditäten abgrenzen von PTBS, was aber nicht in allen Phänomenen möglich ist.

Komorbiditäten werden allerdings in der Literatur zuweilen mit Risikofaktoren gleichgesetzt. Das heißt, neben posttraumatischen Symptomen können z.B. Suchtkrankheiten als Komorbidität bestehen. Dabei gehen Krankheitsbeschreibungen oftmals in soziale Kategorien über, die in enger Wechselbeziehung  stehen, vor allem wenn Risikofaktoren für posttraumatische Störungen in Armut, mangelnder Bildung, kriminellen Attacken u.a. gesehen werden. Denn auch diese widrigen Lebensumstände können die PTBS-Symptomatik in den Kriterien B-E hervorbringen. Nach der Definition der WHO wird unter Komorbidität (K.) folgender Sachverhalt verstanden: Man bezeichnet mit K. das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer definierten Grunderkrankung. Die Zusatzerkrankung stellt ein eigenes, diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild dar, das nicht selten kausal mit der Grundkrankheit zusammenhängt, aber auch unabhängig sein kann.

 Insgesamt erscheint der Begriff der Komorbidität als ein Grenzgänger, denn er entscheidet darüber, welche Diagnose den Hauptteil einer Krankheit oder eines Leidens bildet und welche Nebendiagnosen die Hauptdiagnose einrahmen oder ihr schon vorausgegangen sind, was eher ein Problem der Perspektive ist. Innerhalb therapeutischer Strategien ist es erforderlich, Prioritäten zu setzen. Ein Schwamm ist keine Perspektive.

Man wird mir vielleicht zustimmen, wenn ich den Eindruck äußere, die zahlreichen Komorbiditäten bei posttraumatischen Stressstörungen öffnen die Tür zu einer alten Debatte, die seit den Eisenbahnunglücken des 19. Jahrhunderts nie abgeklungen ist: die genetische Komponente, der Einfluss vererbter konstitutioneller Schwäche, Neurasthenie, Suchtkrankheiten aus vortraumatischer Zeit, Klinikaufenthalte, Charakterdefizite usw. sind jeweils geeignet, Entschädigungsansprüche abzuwehren. Es handelt sich wohl um die Wiederkehr der Prädispositionen, die aus den zuvor gemachten Erfahrungen entspringen und die Vulnerabilität für Traumata erhöhen, was einer stichhaltigen Verifizierung noch nicht unterzogen wurde.

 

Maßloses Messen

 

Zuweilen macht man denselben Fehler zweimal. Der erste war die so genannte „wissenschaftliche“ Vermessung von Schädeln, Gesichtern und Nasen, mit denen Cesare Lombroso begonnen hatte. In den Nazieliten fand er aufmerksame Schüler. Die generierten Erkenntnisse waren nur dazu bestimmt, Differenzen im sozialen Status (eigentlich rassistischen) durch Messungen des Körpers zu „beweisen“ und zu verewigen. Im Blick des „Wissenschaftlers“ lag bereits die Diskriminierung. Solche anthropometrischen Vergleiche findet man heute in ähnlicher Form als psychometrische Bestimmungen, wenngleich das Vermessen in einem positiven Sinne Material für individuelle  Therapieansätze zur Verfügung stellen soll, aber auch entmutigen kann, denn das Messen sagt implizit, dass man sich auf subjektive Berichte über Emotionen nicht verlassen kann. Aber auch hierbei geht es um Hilfskonstruktionen, die Klassifikationen erlauben und dadurch Exklusion ermöglichen. Wir gestatten uns zu behaupten, die anthropometrischen Vermessungen sind wissenschaftlich nicht mehr wert als die psychometrischen. Sie geben vor, dass es möglich sei, das Subjektive zu objektivieren. Messungen, die sich physiologischer Parameter bedienen, wie Herzfrequenz, Hautwiderstand usw. fallen in Bezug auf PTBS nach der Literatur so widersprüchlich aus, dass sie den aktuellen Kenntnisstand nicht erweitern: Für jedes neue Resultat von Laborforschung gibt es entgegengesetzte Ergebnisse. Abwehrhaltungen wie Verdrängung oder Dissoziation, die peritraumatisch einsetzt, sind im Laboratorium nicht zu replizieren. Sie müssen indirekt erschlossen oder berichtet werden. Diese Reaktionsformen spielen aber im Verständnis von posttraumatischen Prozessen eine herausragende Rolle.

Das Messen von innerem Befinden borgt sich Methoden der Naturwissenschaften, verdrängt aber den Einfluss, den Methoden auf Hypothesen nehmen. In den Methoden liegt bereits die gerichtete Erkenntniserwartung verborgen. In den Humanwissenschaften, soweit sie menschliches Fühlen, Verhalten und Denken betreffen, lässt sich messtechnisch keine Exaktheit erreichen, nicht einmal erzwingen. Der subjektive Faktor spielt stets seine eigene Rolle, man kann ihn nicht abschalten, weder von außen noch als bewusster Akt. Man kann unumwunden von „Psycholambroso“ sprechen, wer psychometrischen Erhebungen vertraut und damit Sozial- und Gesundheitspolitik betreibt oder einleitet.

Ich denke, dass Messungen in der Psychodiagnostik Hinweise auf grob orientierende Indizien als Momentaufnahmen liefern können, die aber so unbestimmt sind, dass sie unspezifisch ausfallen: man weiß dann nicht, welcher Krankheitsanfang oder welches Zwischenstadium welches Vollbild einer Krankheit hervorbringen oder unterdrücken kann oder ob die Störung bereits am Abklingen ist. Möglicherweise ist die Diagnose PTBS auch nur ein Durchgangsstadium zu einer anderen Krankheit oder zur Symptomfreiheit. Oder eine Lebensabschnittsdiagnose, die in die individuelle Weltbetrachtung integriert werden will. Mit Ivan Illich lässt sich zusammenfassen:“Messungen und Experimente an solchen „psychischen“ Zuständen (z.B. PTBS, S.G.) sind nur innerhalb eines ideologischen Rahmens möglich, der durch die allgemeine soziale Voreingenommenheit des Psychiaters bestimmt ist“.[xx]

In den Naturwissenschaften würde man diese Art der Präzision von Messungen nicht akzeptieren. Dies gilt für Diagnostik und Therapieresultate. Wenn eine traumatisierte Person die Diagnose PTBS erhält und dann in kommunikativen Schritten mit einer psychotherapeutischen Methode vertraut wird, wie soll man die erfolgreichen oder erfolglosen Schritte messen? Welche Auskunft ist von Messungen zu erwarten, die Erholung oder Rehabilitation charakterisieren. Sie sind stets auf die subjektiven Angaben der Patienten angewiesen. Wenn diese nun ein sekundäres Begehren umtreibt, kann es verständlich sein, wenn Erholung als zu gering (nach Entschädigung) oder übertrieben (vor Entschädigung) geschildert wird. Wie soll man Vertrauen messen, denn im Kern geht es um psychosoziale Erleichterungen, die durch Vertrauen eingeleitet, „geschenkt“ und vermittelt werden?

 

Entspricht Intensität der Symptome der Intensität der Auslöser?

 

Im allgemeinen Verständnis, aber auch in der Rechtsprechung geht man davon aus, dass ein intensives Erlebnis in mechanistischer Weise auch intensive Symptome hervorbringt. Ein weiteres konzeptuelles Problem des A-Kriteriums der Diagnose: PTBS ist die angenommene Linearität zwischen traumatischem Ereignis und der Intensität der Symptome, die nur nach dem Pavlowschen Muster der bedingten Konditionierung von Angst unterstellt werden kann. Dies aber ist empirisch widerlegt: die Heftigkeit des Traumas führt nicht zwangsläufig zu einer Intensität der Symptombildung auf entsprechendem Niveau. Das war eigentlich schon im Trommelfeuer des WKI bekannt, als einige zu Zitterern, Sinnesgestörten (mit überwiegender Reversibilität, wenn die Gefährdungsangst nachließ) wurden, während andere symptomfrei oder symptomarm blieben, obwohl sie nebeneinander dieselbe Bedrohung erfuhren. Das A1-Kriterium fordert für die Ausbildung von Symptomen ein extremes Erlebnis, das nach menschlichem Ermessen nahezu jeden in die posttraumatische Malaise schicken würde. Die Intensität der Symptomcluster korrespondiert also keineswegs zur Intensität der Lebensbedrohung. Linearität sagt zudem, dass ein ursprünglich traumatisches Ereignis und die Erinnerung daran konstant korreliert bleiben, ein hoffnungsloser Ausblick, wenn die Erinnerung oder der plötzlich einschießende Flashback mit denselben aufwühlenden Gefühlen konzipiert wird wie in der traumatischen Situation. Hier werden die Grenzen von „objektiv“ und „subjektiv“ erkennbar, weil es sich um je berichtete Zustände handelt, die sich der wissenschaftlichen Überprüfung entziehen. Ian Hecking hält die wissenschaftliche Erforschung von Flashbacks für derzeit undurchführbar. Bilder von Reaktionsorten im menschlichen Gehirn durch fMRT sagen nur, wo gearbeitet wird, aber nicht woran. Es sind schlicht Artefakte. Es ist also auch nicht reziprok die „objektive“ Intensität der Symptome auf ein besonders intensives traumatisches Erleben zurückzuführen oder umgekehrt aus dem Erleben auf die Intensität der vorhandenen oder drohenden Symptome rückzuschließen. Die Sache ist offenbar komplexer, als sich mechanische Analogien träumen lassen.

Und das gilt in gleicher Weise für die Inhalte der Albträume, die, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Angsttraum detailliert notiert werden, die realen Wiederholungen traumatischer Szenen von Symbolisierungen nicht sicher und wissenschaftlich unterscheiden können. Mellman & al. fanden heraus, dass viele der berichteten Albträume eine Beziehung zu traumatischen Erlebnissen herstellen, aber nur eine Minderheit der Träume zeigte exakte Wiederholung[xxi]. Wir betreten hier u.a. mit Bessel van der Kolk die religiöse Sphäre, der glaubte, dass extreme Traumata in den Träumen stets exakte Wiederholungen darstellen, obwohl er seinen Glauben nicht an dokumentierten Träumen exemplifizieren konnte oder wollte.

 

Der unbekannte Stress

 

Das DSM-V fügt konstant neue Auslöser von Traumata, d.h. negativ konnotiertem Stress an, der sich in derselben (unverändert gebliebenen) Symptomatik materialisieren kann. Das lässt sich aber nur behaupten, wenn der menschliche Körper in seinen Reaktionen auf Stress (Trauma) nicht zwischen Folter und Autounfall, zwischen Zufall und intendierter bedrohlicher Gewalt unterscheiden kann. Stress ist Stress, und Wahrnehmung, Verarbeitung, Sinnstiftung und Einordnung sind wie Stress physiologische Prozesse, oder es sind zumindest physiologische Vorgänge beteiligt. Die Einsicht in den unterschiedlichen Kontext traumatogener Situationen wäre von der Rationalität zu erwarten, die jedoch zu viel langsam aktiviert wird. Da habe das autonome System längst reagiert.

So genannter positiver Stress zum Zwecke von angestrebten Höchstleistungen lässt sich, weil kulturell definiert, durch Konditionierungen von negativem Stress differenzieren. (Wir haben uns angewöhnt, den positiven Stress durch die selbst produzierten „Belohnungsstoffe“ (Endorphine) zu identifizieren, obwohl es sich zuweilen um grenzwertige Belastungen handelt, wenn Stress auch über Erschöpfungsgrenzen hinaus wirkt.) Volkswirtschaftlich untermauerte Argumente zu Stress und Stressfolgen verweisen auf die hohen Kosten für Therapien und Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit Betroffener. Ob solche grobkörnigen Verallgemeinerungen der PTBS im DSM nur schaden, wird die lebendig entbrannte Debatte nach dem Erscheinen von DSM-V zeigen. Für eine bilanzierende Bewertung ist es heute noch zu früh. Vor dem Erscheinen des DSM-V gab es eine Reihe von Versuchen, PTBS aus dem DSM-IIIR zu retten gegen beliebige Erweiterungen und Verwässerungen[xxii] der A1 und A2-Kriterien. Die Autoren sprechen von ernsten Problemen mit der Diagnose. Wenn dies von einem der modernen „Erfinder“ der Diagnose PTSD, Robert L Spitzer, eingeräumt wird, wird es Zeit, dass in Europa die entsprechende Forschung sich auf diese Probleme konzentriert und nicht so getan wird, als handele es sich bei der Psychotraumatologie um für immer festgeschriebene Erkenntnisse, die allein der Psychiatrie gehören. Dass äußere Ereignisse zu heftigen Störungen führen können, muss nicht bestritten werden, aber die Funktion der Diagnose als unumstößliche Wahrheit muss in zahlreichen Fällen, die mit einem Begehren gekoppelt sind, genauer unter die Lupe gelegt werden. Die Diagnose PTBS ist schnell vergeben, sodass vielfach auf die Aufklärung des psychologischen, nichtlinearen Mechanismus verzichtet wird. Nichtlinear entwickeln und verlängern sich Symptome, wenn sie ohne erkennbaren Bezug zum Trauma ein Begehren verfolgen oder einen Zweck erfüllen, wenn also traumatische Erlebnisse sekundär werden oder unbewusste Prozesse mit bewussten verbunden werden.

Zusammenfassend bleibt die unbeantwortete Frage, auf Grund welcher Instanzen ein Organismus den Unterschied in der Qualität des Stresses erfassen kann und mit welchen Reaktionen er antworten will. Hier wird man die soziale Genese von Stressqualitäten berücksichtigen müssen.

 

 Kampf gegen Vergessen?

 

Die klassische Suche im psychotherapeutischen Geschäft nach der Ursache für Störungen und Krankheiten erübrigte sich: Patienten mit posttraumatischen Beschwerden wissen, was ihre Leiden auslöste. Sie wissen zuweilen nicht, damit umzugehen. Sie wissen nicht, in welcher Weise Vergessen hilft. Die meisten Psychotherapeuten, die mit Erinnerungen arbeiten, lehnen zwangsläufig Vergessen ab. Sie erzwingen Erinnerungen in der Erwartung, dass sie in der Lage sind, den traumatischen Erinnerungen den Stachel zu nehmen. Es wäre ja auch paradox, den aktivierten Erinnerungen ein Vergessen zu empfehlen. Vergessen soll nach ihrer Meinung nur ein mögliches endgültiges Ergebnis von Therapie sein, die sich um Integration des Traumas bemüht. Das hat die Psychoanalyse so geordnet. Integration ist ein weiterer schwammiger Begriff, der Sinnstiftung, Entschärfung bedeuten kann: Erlebnis wird zur Erfahrung. Therapeuten  sagen daher eher in gewohnter Metaphernfröhlichkeit: Neubeschriftung der Bedeutung der traumatischen Ereignisse und Neuformulierung der begleitenden starren Gefühle. Die traumatischen Wunden werden natürlich durch Diagnostik und Therapie offen gehalten, weil die Erinnerung des Klienten das Trauma auslösende Ereignis immer aufs Neue aktualisiert. Dazu hat sich in den USA eine Reihe von Kritikern zu Wort gemeldet, die der Auffassung sind, Arbeit am Trauma sei eine iatrogene Behinderung der Heilung, Linderung und des Vergessens.

Beim Thema Vergessen kommt die Pille zum Vergessen ins Spiel! Die Pille, die traumatische Ereignisse vergessen hilft, wird zwangsläufig auch eine innere Schuldinstanz, das Schuldbewusstsein, zum Schweigen bringen, wenn derselbe physiologische Wirkmechanismus unterstellt wird, wie ich behaupte. In unserer Gesellschaft zeigen wir ein ambiguentes Verhältnis zum Vergessen: Gezieltes Vergessen wird einerseits erforscht, und zugleich wird von institutioneller Seite konstant daran erinnert, dass jeder auf dem Weg zur homogenen Gesellschaft Sport treiben soll, nicht rauchen, nicht zu viel essen, sich selbst optimieren usw.

 

Leben bedeutet nicht Trauma

 

Folter bedeutet wesentlich die vorsätzlich angestrebte Vernichtung einer individuellen Geschichte, die sich aus zahlreichen sozialen und kommunikativen Situationen zusammensetzt. Wo bleibt diese Gesamtgeschichte, wenn von ihr im traumatischen Gedächtnis nur noch die erlittene Qual und Demütigung übrig bleibt? Löscht ein durch Flashbacks charakterisiertes traumatisches Gedächtnis nicht den geschichtlichen Zusammenhang aus, der vor dem Trauma bestand? Und wird durch das traumatische Gedächtnis nicht eine neue Zeitrechnung eröffnet, eine neue Geschichte erzählt, die ohne den Bezug zur vorausgegangenen Vorgeschichte auskommen kann? Oder handelt es sich um Resultate von Suggestion? Vor dem Trauma war das sichere Leben, danach nur noch das prekäre. Das traumatische Gedächtnis ist eingebettet in eine Lebensgeschichte, eine Autobiographie, die im therapeutischen Prozess wieder ihre Matrixfunktion für traumatische Erfahrungen zurückerhalten muss. Die Stellung des traumatischen Gedächtnis in der Autobiographie soll auch dadurch relativiert werden, dass vor Augen tritt: Auch ein Leben ohne politisch intendierte, extreme Gewalterfahrung kann Symptome der PTBS-Kategorien hervorbringen. Es geht therapeutisch folglich darum, dem traumatischen Gedächtnis eine angemessene Stellung in der Autobiographie zu erlauben, jedoch nicht mehr die beherrschende. Daher erscheinen alle Interventionen bedeutsam, die sich dem Sinn, der Bedeutung und Verwandlung der Autobiographie zuwenden, was zumeist durch Anknüpfung und Stärkung von Ressourcen geschieht. Dies gilt für individuelle und kollektive traumatische Gedächtnisse.

Wenn man Menschen therapeutisch begegnet, die intendierte psychosoziale Vernichtung erlebten, so sagt man etwas leichtfertig, man behandele die Opfer extremer Gewalt. Wenn nun allzu fokussiert auf das traumatische Gedächtnis gearbeitet wird, kann eine Emanzipation aus der Opferrolle misslingen, weil nicht die Lebensbiographie im Mittelpunkt steht, sondern die Traumageschichte und ihre „pathologischen“ Auswirkungen. Dadurch würde eine ganzheitliche und relativierende Zuordnung der traumatischen Erfahrungen in die gesamte Biographie erschwert. Das ist richtig und falsch. Wieso? Richtig ist, dass es ein Leben vor und nach dem Trauma und ein kulturelles Muster für Bedeutung und Zuordnung des Traumas gibt. Richtig ist auch, dass eine aktuelle oder chronifizierte Symptomatik die alltäglichen Funktionen beschränkt. Falsch erscheint, allein an der Beseitigung der Symptome zu arbeiten, indem man auf das traumatische Ereignis fokussiert, denn sowohl das Leben vor dem Trauma als auch die zuweilen vergebliche Suche nach Hilfestellung nach dem Trauma sind bei der Symptombildung im Spiel, wenn es nach dem Katalog geht. Die Erklärung, da sei etwas Unerwartetes, Plötzliches, Überraschendes geschehen, reduziert (mit Blick auf die Folgen) das Leben fälschlich auf ein traumatisches Ereignis. Mithin geht es bei therapeutischen Bemühungen um die Einbettung des traumatischen Ereignisses in den gesamten Lebensrapport, denn als Therapeuten erfassen wir ja nur den (ausschnittsweisen) Bericht einer Lebenssituation. Wir weisen dem Trauma den angemessenen Platz in der gesamten verstandenen Biographie zu, weil ein Auslöschen des Ereignisses durch die Erinnerung unmöglich gemacht wird, und lediglich die Dominanz des Ereignisses auf Fühlen und Handeln zurückgedrängt werden kann.

Quintessenz: Ist der pathologisierte Teil eines „traumatischen“ Lebens hinderlich bei der Sinnstiftung des anderen Teils oder ist das pathologisierende Urteil für bestimmte Lebensereignisse ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich bemüht, den beschädigten Teil in positiv konnotierte Bereiche zurückzuholen und was würde passieren, wenn Experten dem inneren Geschehen Traumatisierter fernblieben?

 

Während Stress mit seinen physiologischen Antworten und seinen psychologischen Folgephänomenen als ein natürlich ablaufender Prozess oder als biologisch-genetische Prädetermination verstanden werden kann, ist der Zusatz „traumatisch“, der einen besonderen Stress kennzeichnet, aus gesellschaftlicher Konstruktion und gesellschaftlichem Konsens entstanden.

Die erste Frage ist die nach der Wirkung von Stress, d.h. ob nicht jeder Stress traumatisch wirkt, weil er jeweils dieselbe Reaktion in abgestufter Weise hervorruft. Es muss also noch etwas hinzutreten, was den Stress als traumatisch charakterisiert. Seine Intensität muss sehr groß und überwältigend sein, sagen die Erfinder von PTBS.

Er muss eine existenzielle Krise auslösen. Er soll angeblich Grundüberzeugungen erschüttern. Er muss ferner in einem Gehirnareal landen, wo das traumatische Ereignis und seine Wirkungen in nichtsprachlichen Codes gespeichert wird und daher Symptome produziert, weil das Sprechen über die traumatischen Erlebnisse und die begleitenden Gefühle verstellt sei. E. Loftus und andere haben diese Annahmen von van der Kolk u.a. als nicht in Übereinstimmung mit Logik und Empirie beschrieben. Meine eigenen Erfahrungen sagen, dass trotz kurzen oder langen Abstands zum traumatischen Ereignis die sprachliche Rekonstruktion des Ereignisses und der Begleitgefühle stets äußerst präzise und konstant ausfiel. Schuld und Scham freilich können Einfluss auf die Bereitschaft, eine Erzählung zu generieren, nehmen. In den genannten Beiträgen geht es um das Phänomen einer Dissoziation, die dann zum autonomen, bewusstseinsunabhängigen Reaktionsmuster wird, wenn unerträgliche Eindrücke einwirken. Wir möchten gern wissen, wie lange Dissoziation andauert und ob Inhalte, die abgespalten wurden, wieder hervorzuholen sind.

 

In unseren settings mit traumatisierten Flüchtlingen sahen wir überwiegend Menschen, die ihre traumatische Vorgeschichte mit einigen Details bereits mehrfach erzählt haben[xxiii]. Wir können daher wenig über die Fragmentierung des traumatischen Gedächtnisses sagen, weil sich durch erzählerische Bemühungen und aufgenommene Geschichten Dritter zuvor bereits ein Gerüst, eine Struktur, entwickelt hat, die wir im Rahmen von Anamnesen zum Gegenstand von Beobachtung und Forschung machen. Laborwissenschaftliche Nachstellungen einer traumatischen Szenerie sind ethisch obsolet und lassen einen Kardinaleinfluss beiseite, der in akuter realer Lebensbedrohung liegt. Es handelt sich bei der experimentellen Anordnung um „Als-ob-Konstellationen“. Bei Flüchtlingen, die einem ongoing Stress ausgesetzt waren, haben wir es daher mit einer Bilanzerzählung zu tun, in der vielfach einige Elemente, die Emotionen betreffen, aus kulturellen Gründen fehlen.

 

Laboruntersuchungen

 

Laborkonstellationen können nicht die Realität exakt abbilden. So werden physiologische Messungen vorgenommen, die sich auf Blutdruck, Hautwiderstand, Herzfrequenz oder Elektromyogramm des Gesichts beziehen und  Mittelwerte zu Tage förderten, die es erlaubten, PTBS von den symptomfreien Verläufen zu unterscheiden. Nun haben Untersuchungen von Lawler[xxiv] gezeigt, dass nicht alle Messparameter einer Differenzierung genügen, weil z.B. die Herzfrequenz eines Probanden erhöht sein kann, während die elektrischen Eigenschaften der Haut keine auffällige Reaktion zeigten. Gerade zur Beurteilung eines Verlaufs nach Trauma wäre die physiologische Reagibilität eines Individuums zu prüfen, d.h. es wären mehrere Messungen durch dieselben Stimuli durchzuführen, um Aussagen über ein betroffenes Individuum treffen zu können. Wenn aber nur ein physiologisches System eine Steigerung der Reagibilität zeigt, wenn Stimuli des ursprünglichen Traumas labortechnisch wiedererlebt werden, dann könnte dies ein Hinweis sein, dass eine Differenzierung von PTBS zu anderen Störungen durch physiologische Parameter auf schwachen Füßen steht. Es könnte damit zusammenhängen, dass es die Diagnose auch ohne physiologisch auffällige Reaktionen gibt oder dass es sich um geschulte Simulanten handelt oder dass die Diagnose auf anderen als physiologischen Parametern (z. B. Skripts, Kultur, Erzählweisen usw.) ruht. Das Argument, dass eine intellektuelle Distanzierung durch die Laborsituation präformiert werde, die physiologische Reaktionen auf Stimuli verhindere oder minimiere, ist nicht überzeugend, denn diese Distanz, d.h. die Wahrnehmungkeiner realen Bedrohung, betrifft alle Laboranordnungen, die sich mit „traumatischen“ Ereignissen forschend und aufklärend befassen.

 

Man wird gern mit der Behauptung konfrontiert, psychometrische Verfahren zur Feststellung von PTBS seien objektiv[xxv]. Das ist so objektiv wie die Behauptung, Weihnachten falle auf einen Sonntag, weil zumeist nicht gearbeitet werde. Selbstauskünfte sind vielmehr immer subjektiv und damit unter potenziellem Einfluss von Simulation, Verschiebung, Irrtümern, situationsgebundenen Impulsen. Selbstauskünfte schließen nicht einmal den Einfluss der Ab- oder Anwesenheit der diagnostizierenden Person aus, weil ihre Autorität bereits in der Vorlage des Messinstruments enthalten ist. Die überwiegend dichotome Chance einer Antwort in den Fragebögen (ja/nein) kann keine Prozessverläufe aufklären. Sie kann, selbst wenn sie nach Episoden und Intensitäten der Symptome fragt, den zentralen Punkt nur streifen, der darin liegt, dass ein solch komplexes Konstrukt wie psychische Verletzung und ihre Spätfolgen für anmaßende „Messungen“ gegenwärtig und hoffentlich auch zukünftig unerreichbar ist.

Es ist unmöglich, allein mit Selbstauskunft ermöglichenden Fragebögen über erlebte Symptome eine Beziehung herzustellen zu einem berichteten Ereignis, das als traumatisch und PTBS-verursachend qualifiziert wird. Ein subjektiver Faktor entscheidet über die Intensität der Affekte. Eine kausale Beziehung mag naheliegend sein, die geschilderten Symptome kommen aber bei so vielen Störungen des seelischen Gleichgewichts vor, dass direkte Kausalität eine Konstruktion ist, die immerhin Evidenz beanspruchen kann.

Auch strukturierte Interviews können verdrängte oder dissoziierte Erlebnisanteile ebenso wenig zu Tage fördern, wie sie Täuschungen, Übertreibungen und Simulation sowie durch Scham und Schuld verborgene Symptomatiken ans Licht bringen. Strukturierte Interviews für eine PTBS-Diagnostik leiden daran, dass sie kein Kontinuum abbilden, sondern lediglich eine Momentaufnahme zulassen, wenn sie dichotome Urteile herausfordern. In den Worten von Frueh, Elhai und Kaloupek (2004):

 „A dichotomous approach to posttrauma reactions portrays symptoms and diagnoses simplistically and fails to provide severity ratings that can track change over time.“

Man kann hinzufügen, die Zentrierung auf das traumatische Ereignis und die individuellen Folgephänomene lässt posttraumatische Einflüsse (Ablehnung, Geringschätzung, zeitlich beschränkte Unterstützung oder emotionale Überforderung und Schuldgefühle) aus der Umwelt unberücksichtigt. PTBS-fokussierte Instrumente wie MMPI-2 (Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2) können nicht übertriebene oder vorgetäuschte Symptome von jenen differenzieren, die durch reale traumatische Erlebnisse hervorgebracht wurden. PTBS als Diagnose wird zunehmend als Kuckucksei in der Renten- und Krankenversicherung empfunden, weshalb sich zahlreiche Anstrengungen darauf richten, die vorgetäuschten Fälle herauszufiltern, weil die Versorgungskosten explodiert sind. Die Sensitivität, Selektivität und Spezifität neuer Inventare ist derzeit nicht besonders überzeugend. Die genannten Inventare demonstrieren eher eine Heterogenität der Symptomprofile als eine homogene Symptomengruppe. Einige Forscher fanden bei der Validitätsprüfung des MMPI vier Untergruppen bei Veteranen mit der Diagnose PTBS: nichtpathologisch, extrem verwirrt sowie zwei Gruppen mit moderater Symptomatik. Die MMPI-Profile von Vietnam- und Golfkriegsveteranen fielen recht unterschiedlich aus, so dass über kulturelle und informelle Einflüsse nachgedacht werden muss.

 

Zur Rolle des „Opfers“

 

Einige renommierte Autoren haben sich geweigert, nach traumatischen Erlebnissen während des Nationalsozialismus in der Opferperspektive zu verharren: Sie wollten nicht ewig Opfer bleiben, wollten eher bezeugen. Heute regen sich Stimmen, die geradezu eine Neigung zum Opferstatus bei traumatisierten Menschen des „Westens“ diagnostizieren. Der Opferstatus gewährt, einen Täter zu benennen, d.h. die Schuldfrage eindeutig zu beantworten, wenngleich Historiker hier widersprechen würden. Wir finden daher ein Zerren in zwei Richtungen: Schuld wird externalisiert, die Psyche des Opfers wird alleiniger Schauplatz für Verwerfungen: Der Opferstatus dauert an und darf aufgrund dieses Zustands allerlei Regressforderungen stellen. Der Opferstatus dauert auch deshalb an, weil er durch materielle Vorteile Teil der traumatischen Biographie wird und deshalb eine Rückkehr zur prätraumatischen Situation unbewusst verweigert wird. DSM-IV hat Richtlinien herausgegeben, nach denen falsche, übertriebene oder neurotisch verwebte Symptomberichte bei Untersuchungen herausgefiltert werden sollten. Erstaunlich, dass diese Richtlinie nur für PTBS gilt[xxvi]. Allen übrigen psychischen Störungen darf man uneingeschränkt Glauben schenken, auch wenn sie auf subjektiven Berichten fußen. Man erkennt vielleicht hier, dass Entschädigungen fast nur bei PTBS fällig werden und deshalb der Wahrheitsgehalt der subjektiven Erzählungen unter die Lupe genommen muss, weil es sonst für staatliche Institutionen und Versicherungen teuer wird.

Innnerhalb der Selbstbeschreibung bestehen zahlreiche Facetten neben der Selbstwahrnehmung als Opfer: Verantwortung für Gemeinschaften, Berufsrolle, Neigungen und Leidenschaften usw. Diese Facetten verschwinden nicht einfach aus dem Gedächtnis, wenn ein traumatisches Ereignis geschieht. Sie mögen in den Hintergrund treten, die verschiedenen konstitutiven Erinnerungsinhalte bilden neue Prioritäten, sie sind jedoch nicht verschwunden. Sie haben sich neu bemäntelt, sie treten in Wettstreit: auf allen Selbstbildern liegt der Staub einer erfahrenen Demütigung, die Hilflosigkeit hinterlassen hat. Wer und wie wischt den Staub fort? Die Opferhaltung sucht Reinigung zu verhindern, wenn sie sich neurotisch verfestigt hat.

Nun ist aber wohl die Diagnose PTBS u.a. deshalb in psychiatrische Diskurse eingezogen worden, um die US-Veteranen des Vietnamkrieges in Teilen von der brutalen Täterrolle (3,5 Millionen tote Vietnamesen!!), die sie nicht  verantworten sollten, in die Opferrolle umzulenken[xxvii]. Dabei wurde nicht nur dem Wunsch der Veteranen entsprochen, sondern auch eine öffentliche Stimmung aufgegriffen, die in einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg bestand. Man war als Rückkehrer aus Vietnam Opfer geworden, Opfer eines Guerillakrieges und später Opfer einer Niederlage (Wer verliert, ist eben Opfer!) und Opfer von Anfeindungen durch Landsleute, wie Patrick Hagopian ausführt[xxviii]. Opfer einer imperialen Politik, eines geostrategischen Gemetzels im Kalten Krieg, Opfer einer Ideologie, das alles konnte sich nun durch die neue Diagnose PTBS verbergen lassen. Der Schauplatz zur Linderung der Folgephänomene war jetzt nicht mehr die politische Bühne oder ein Tribunal, sondern die Psyche des Individuums, verbunden mit dem Versprechen, dass selbst für Blinde das Licht am Ende des Tunnels sichtbar würde. Hochgesteckte Heilungserwartungen begleiteten die Einführung der Diagnose. Sie wurden nur teilweise eingelöst.

Wenn man einmal auf den Gleisen der Opferrolle sitzt, wird es schwer, in emanzipativen Schritten die Schienen zu verlassen. Das Selbstbild des expliziten Opfers war nie Teil der Symptomatologie der DSM-Diagnose. Es scheint bei der Inauguration der PTBS sehr hektisch zugegangen zu sein, weil politische, ideologische Interessen mit sozialen und gesundheitlichen Phänomenen unter einen Hut gebracht werden sollten. Dabei ging die Besonderheit der sozialen Rolle eines Opfers verloren. Jedoch – es ist unbestreitbar, dass die Kontamination der Opferperspektive durch Täterhandlungen (nach dem Vietnamkrieg) weitergetragen wurde in die zivilen Bereiche, in denen sich fortlaufend neue Traumata materialisierten. Das Scheidungsopfer und das Bombenopfer haben nur eins gemeinsam: Sie sind Opfer, wenn sie zu Opfern erklärt werden, weil sie durch Empathie gestreift wurden.

 

Es ist trotz extensiver Verbreitung der Traumabedeutungen noch nicht untersucht worden, wie die Diagnose PTBS bei Flüchtlingen ursächlich zuzuordnen ist. Geschieht dies durch (1) Haft, Misshandlung und Folter, durch (2) Erlebnisse auf der Flucht und durch (3) Wahrnehmungen und Bedrängnisse im Zufluchtsland. Alle drei Formen tragen die Potenz zum Trauma in sich: eine lineare Zuordnung der posttraumatischen Affekte zu nur einem Ereignis ist nicht möglich. Komplexe Ursachen bewirken komplexe Folgephänomene, so die gängige Meinung. Flüchtlinge sind zweifellos eine besonders vulnerable Gruppe, die daher bei definierten Erlebnissen, die in unserer Kultur Abwehr und Widerwillen, aber auch Empathie hervorrufen, nachvollziehbar die Diagnose „komplexe PTBS“ erhalten können. Hinter einer solchen Diagnose verbirgt sich sehr viel Unwissen und eine Tendenz zu breiiger Erklärung für vermutete additive Prozesse. Denn es ist weiterhn ungeklärt, ob zweite und dritte Traumata oder traumatische Situationen empfänglicher machen für Symptombildungen oder hinsichtlich der Intensität der Symptome eher desensibilisierend wirken.

Hier nun scheinen die so genannten Risikofaktoren ins Spiel zu kommen. Eine Reihe von sozial entwickelten Eigenschaften wurde bei Traumatisierten mit und ohne Diagnose untersucht. In unglaublicher Weise wurden so genannte Intelligenz oder geringe Bildung und geringes Einkommen als Risikofaktoren für die Entwicklung posttraumatischer Symptome eingestuft. Es mag noch einleuchten, dass die genannten Faktoren das Risiko für traumatische Erlebnisse erhöhen. Eine Einwirkung auf die Ausbildung einer posttraumatischen Vollsymptomatik ist bislang aber weder mit psychologischen noch physiologischen Methoden gelungen. Lediglich statistisch finden wir PTBS in gehäufter Zahl bei Veteranen mit diesen „Risikofaktoren“. Bei den US-Soldaten in Vietnam fand eine sozialdarwinistische Selektion statt, indem vor allem Männer aus Arbeiter- und Unterschicht rekrutiert wurden. Insofern waren geringere Bildung, geringeres Einkommen und niedrige IQ-Werte in der Tat ein erhöhtes Risiko für traumatische Erlebnisse. Man gewinnt den Eindruck, solche Statistiken dienten vor allem der Affirmation des Status quo.

 

 

 

 Behauptung der Universalität der Diagnose

 

         Zweifel an der Universalität der Diagnose sind schon oben und in früheren Aufsätzen geäußert worden. Es scheint einen westlichen imperialismus der Humanwissenschaften zu geben, der in Bezug auf traumatische Erlebnisse einen zentralen Widerspruch exportiert, der darin begründet liegt, dass ein psychisches Trauma nach dem Muster physischer Traumata konzipiert und PTBS im Sinne eines Wiederholungszwangs unterstellt wird, der geographisch und zeitlich universell sei. Während das physische Trauma unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert, ist beim psychischen Trauma wesentliche Voraussetzung der Sinn und die Bedeutung des Ereignisses, das seelisch verwundet hat. Sinn und Bedeutung sind kulturell abhängig und interpretationsbedürftig, wenn es um das für universell erklärte A-Kriterium der PTBS im DSM geht. Daher ist die Behauptung von Universalität der Bedeutungszuordnungen unzulänglich, wenn sie sich auf die Folgen von psychischen Traumata bezieht, denn die psychischen Folgephänomene sind ihrerseits wiederum abhängig von der Bedeutung, die einem Ereignis als traumatisch zugebilligt wird. Das heißt, seelische Prozesse, die in und durch unterschiedliche Gemeinschaften entstehen, können nicht nach derselben Basismethode eingeschätzt und bewertet werden. Aus diesem Grunde erklärten Bolton, Neugebauer und Ndogoni nach ihren Untersuchungen in Ruanda, Depressionen nach einem Kriege seien eher universell als PTBS[xxix].

Wenn man das zurückliegende „traumatische“ Jahrhundert betrachtet, wird man erkennen, wie kulturell verankert – oft nur von kurzer Dauer – die traumatischen Folgen waren: von der Paralysis der Eisenbahnverunglüchten über Krampfanfälle und Halbseitenanästhesie, Neurasthenie mit Erschöpfung, Stummheit, Zittern der Extremitäten, bis heute nur noch mentale Symptome (Alpträume, Flashbacks) das Rückgrat der aktuellen Diagnose bilden. Der Wandel geht keineswegs auf größere Forschungskapazitäten zurück. Er beruht m.E. auf einem Perspektivewechsel, der im sozialen und wissenschaftlichen Gespräch nach Klärungen sucht, wie Menschen auf traumatisch definierten Stress reagieren. Traumatischer Stress wird als solcher erfasst, wenn er betroffenen Menschen nicht guttut. Letzteres ist aber nicht zu objektivieren.

Letztlich sind in allen Kulturen erzwungene Tabubrüche traumatisch, weil sie ein Potential zur existenziellen oder besser: sozialen Vernichtung beinhalten, das jedoch nur für Personen gilt, die über feste Bindungen an die spezifische Bedeutungen der Tabus verfügen. Die Herkunft von Bedeutungen ist kulturell, durch Kommunikation und Beispiel, abgeleitet. Hierin liegt das zentrale Paradox der posttraumatischen Belastungsstörung[xxx], denn nur wenn man die Bedeutung von Bedrohungen mit Worten oder Gegenständen kennt, kann man traumatisiert werden. Wenn ein Mensch die Bedeutung eines Messers nicht kennt, kann er nicht eine Bedrohung durch das Messer erleben; er kann aber sehr wohl eine Schnittverletzung am Bauch haben. Das Trauma liegt daher im Abgleich von Bedeutungsoptionen; es ist ein höchst subjektiver Erkenntnisschritt, der vom Kontext erfassenden Bewusstsein abhängig ist. Wenn aber Subjektivität bei der Bedeutungsgebung vorliegt, dann fällt es schwer anzunehmen, allein der Psychiater und seine Nosologie könnten über den Rahmen des Subjektiven hinaus bestimmen, was unter das A-Kriterium von PTBS fällt. Vielmehr wird aus der subjektiven Bedeutungszuordnung die unaufhörliche Ausweitung der Verursachungsmechanismen für PTBS erklärlich, konsequent, und sie steuert ins  Beliebige. Wenn das Beliebige zur Norm erklärt wird, braucht es keine Spezifika der Kriterien.

Westliche Psychiatrie tendiert nach Summerfield dazu, kulturelle Unterscheidungsmerkmale bei Menschen zu natürlichen zu erklären und dies mit empirischen Daten zu untermauern. (Wie wurde Stress zu Trauma?) Wenn Erlebnisfolgen und deren Sinn und Bedeutung den Charakter von Natürlichkeit angenommen haben, ist es nur ein kleiner Schritt zur angestrebten Universalität[xxxi]. Dies sei aber ein Irrglaube, führt Summerfield weiter aus. Für ihn steht mit Blick auf Kriegsereignisse fest, „that there can be no such thing as a universal trauma response. Human responses to adversive experience are not analogous to physical trauma.“[xxxii] Er betont, dass auch unter widrigen Umständen und Bedrohungen sich Betroffene nicht nur passiv verhalten, sondern im sozialen Verband nach Lösungen suchen, wie sie auch ihr Leiden im sozialen Kontext lindern oder auflösen. Und das seit Jahrtausenden!

Untersuchungen von Mollica et al. (1998)[xxxiii] verglichen vietnamesische Flüchtlinge mit Foltererlebnissen mit vietnamesischen Flüchtlingen ohne Foltererfahrung. Die erste Gruppe wies zu 90% die Kriterien der PTBS auf, während auf 79% der Nichtgefolterten die Kriterien der PTBS zutrafen. Was kann diese Feststellung bedeuten? Es kann bedeuten, dass die Umstände der Flucht und der zuvor bestehende rund 20jährige Kriegszustand in Vietnam auch ohne Foltererlebnisse zu diagnostizierter PTBS führten. Allerdings sagen diese Momentaufnahmen nichts über den Verlauf der PTBS, ob es zu spontaner Remission oder Abschwächung der Symptome kam. Wenn man die psychischen Folgen traumatischer Erlebnisse nicht als Prozess betrachtet, sondern mit der Diagnose einen Status festschreibt, können solche Zahlen wie die an vietnamesischen Flüchtlingen erhobenen keine steuernde Gültigkeit besitzen, denn in die Feststellung von Symptomen gehen überhaupt nicht die Wirkungen der (sozialkommunikativen) Selbstheilungskräfte ein, was wesentlich an den verwendeten Inventaren und Fragebögen liegt, die keine dynamische Betrachtung zulassen. Wenn man aber davon ausgeht, dass jeder Organismus nach Verletzung seine Funktionsfähigkeit auch im psychischen Bereich wieder herzustellen bemüht ist (das zentrale Thema der Resilienzforschung!), dann wird man den sozialen Rahmenbedingungen bei der Rehabilitation die Hauptrolle zusprechen. Sicher wird man einräumen, dass ein Leben unter Kriegsverhältnissen und die anschließende Flucht einen schmerzlichen Einfluss auf Individuen und Gruppen hatte und dass die oberflächliche Sicherheit im kulturell differenten Zufluchtsland noch nicht von den berichteten Symptomen zu befreien in der Lage ist. Insgesamt zeigt diese Untersuchung Mollicas, dass es schwer fällt, ein einziges traumatisches Ereignis für das Vorliegen von PTBS verantwortlich zu machen. Bei den Untersuchten handelt es sich offenbar um multiple Traumata, die rund 23 Jahre nach Beendigung des Krieges in retrospektiven Studien zu komplexen Folgen führten. Es stellt sich hier die Frage, ob PTBS eine Angststörung sei, wenn nach über 20 Jahren die Diagnose als chronische Störung bestätigt wird. Sind hier möglicherweise andere Affekte im Spiel, die verlängernd auf die Störung wirken? Das muss auch vermutet werden, wenn Zeugenschaft von Traumata, z.B. bei Krankenschwestern, dieselben Symptome hervorbringen kann wie bei Frontsoldaten und dies mit denselben psychophysiologischen Reaktionen verbunden ist[xxxiv].

Notwendig erscheint eine dualistische Betrachtung von Individuum und Kollektiv, so dass  die Organisation des Hilfsrahmens nach extremen Traumata eher kollektiv und sozialpolitisch ausfällt als medizinisch oder psychologisch.

 

 

Der Vergleich psychischer Verletzungen und physischer Traumata verläuft auf der psychologischen Ebene ausschließlich über die Bedeutungen von Zufällen oder Willkürhandlungen, jedenfalls solange eine seelische Substanz noch nicht fassbar ist. Bedeutung für die subjektiv erlebende Person. Wenn man eine Hirnerschütterung zweiten Grades in Rechnung stellt, können posttraumatisch dieselben Symptome auftreten wie bei lebensbedrohlichen psychischen Traumata im Sinne einer PTBS, wenn die Fähigkeit zur Bedeutungszuordnung nicht durch massive retro- oder anterograde Amnesie beschränkt ist.

Ein weiteres konzeptuelles Problem des A-Kriteriums der Diagnose: PTBS ist die angenommene Linearität zwischen traumatischem Ereignis und der Intensität der Symptome, die nur nach dem Pavlowschen Muster der bedingten Konditionierung von Angst unterstellt werden kann. Dies aber ist empirisch widerlegt: die Heftigkeit des Traumas führt nicht zwangsläufig zu einer Intensität der Symptombildung auf entsprechendem Niveau. Das war schon im Trommelfeuer des WKI bekannt, als einige zu Zitterern, Sinnesgestörten (mit überwiegender Reversibilität, wenn die Gefährdungsangst nachließ) wurden, während andere symptomfrei blieben, obwohl sie nebeneinander dieselbe Bedrohung erfuhren. Das A1-Kriterium fordert für die Ausbildung von Symptomen ein extremes Erlebnis, das nach menschlichem Ermessen nahezu jeden in die posttraumatische Malaise schicken würde. Die Intensität der Symptomcluster korrespondiert also keineswegs zur Intensität der Lebensbedrohung. Linearität sagt zudem, dass ein ursprünglich traumatisches Ereignis und die Erinnerung daran konstant korreliert bleiben, ein hoffnungsloser Ausblick, wenn die Erinnerung oder der plötzlich einschießende Flashback mit denselben aufwühlenden Gefühlen konzipiert wird wie in der traumatischen Situation. Hier werden die beschränkten Schnittmengen von „objektiv“ und „subjektiv“ erkennbar, weil es sich um je berichtete Zustände handelt, die sich der wissenschaftlichen Überprüfung entziehen. Ian Hecking hält die wissenschaftliche Erforschung von Flashbacks für derzeit undurchführbar. Bilder von Reaktionsorten im menschlichen Gehirn durch fMRT sagen nur, wo gearbeitet wird, aber nicht woran.

Und das gilt in gleicher Weise für die Inhalte der Albträume, die, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Angsttraum detailliert notiert werden, die realen Wiederholungen traumatischer Szenen von Symbolisierungen nicht sicher und wissenschaftlich unterscheiden können. Mellman & al. fanden heraus, dass viele der berichteten Albträume eine Beziehung zu traumatischen Erlebnissen herstellen, aber nur eine Minderheit der Träume zeigte exakte Wiederholung[xxxv]. Wir betreten hier u.a. mit Bessel van der Kolk die religiöse Sphäre, der glaubte, dass extreme Traumata in den Träumen stets exakte Wiederholungen darstellen, obwohl er seinen Glauben nicht an dokumentierten Träumen exemplifizieren konnte.

 

 

 

 

Schluss

 

Von Conditio humana spricht man, wenn widrige Lebensumstände mit Schmerzen und „traumatischen“ Erinnerungen verbunden sind, die ihrerseits eng mit der individuellen und kollektiven Existenz verknüpft sind. Trauma und Schmerz gehören zum Leben. Damit können wir uns nicht abfinden. Freiheit von Trauma und Schmerz ist das utopische Ziel jeder therapeutischen Anstrengung. Die Wirkung traumatischer Erlebnisse ist ein natürlicher Prozess, den man als Normalität beschreiben muss. Eine Pathologisierung sollte vermieden werden. Es gibt nirgends eine emotionale Unberührtheit, wenn die Welt so ist, wie sie ist. Daher gibt es auch keinen Anspruch auf Unversehrtheit, den ein westliches Konzept von Sicherheit suggerieren möchte. Je mehr wir den Verheißungen von Sicherheit vertrauen, um so größer fällt die Desillusion aus, wenn Ereignisse das Gegenteil hervorrufen. Posttraumatisch zeigt sich ein enttäuschtes Elementarvertrauen. Freilich müssen solche Ereignisse dann noch nicht in Pathologie münden. Psychologische Pathologie macht sich gern zu schaffen im Dreieck: Vertrauen auf Sicherheitsversprechen – Definition von Normalität – individuelle Desillusionierung.  Vielleicht gelangt die Menschheit und selbstverständlich auch die Fachwelt zur Einsicht, dass die Bemühungen um eine Beseitigung von Willkür zwar immer wieder anzustreben sind, aber offenbar traumatische Erlebnisse zum Leben gehören und daher nicht in einen psychiatrischen Kontext gehören, wenn man Leben selbst nicht pathologisieren will. Sisyphos als Gleichnis kennzeichnet menschliche Anstrengungen, was anzuerkennen schwer fällt. Das bedeutet keineswegs, dass Menschen mit traumatischen Erlebnissen, die sie an den Rand existenzieller Bedrohung bringen, schutzlos, ohne Solidarität und ohne Akzeptanz bleiben sollen. Vielmehr ist die behutsame Betreuung Traumatisierter eine gesellschaftliche Aufgabe, vor allem, wenn die Traumata direkt oder indirekt von dieser Gesellschaft ausgehen. Vor diesen Äußerungen verweisen wir auf zwei ältere Untersuchungen, die an großen Gruppen vorgenommen wurden: In Detroit fanden Breslau & al.[xxxvi] in ihrer Studie zur Lebenszeitprävalenz von traumatischen Ereignissen (=TE ,12 definierte TE des A-Kriteriums für PTBS wurden angeboten) Raten von 92% für Männer und 87% für Frauen der Altersgruppen von 18-45 Jahren. Dabei errechnete sich ein Durchschnittswert von 4,8 TE während eines statistischen Lebens. In Kanada wurde eine vergleichbare Studie durchgeführt[xxxvii]. Dabei ergaben sich Raten von 81% für Männer und 74% der Frauen, die ein oder mehrere TE angaben. Aus diesen Zahlen lassen sich keine gezielten Schlüsse ziehen. Sie machen aber trotz der Grobkörnigkeit epidemiologischer Studien deutlich, dass bei einer großen Zahl an Menschen traumatische Erlebnisse, wenn auch unerwünscht und nicht notwendig, zum Leben zu gehören scheinen. Und die Menschen, die an diesen Erlebnissen leiden, sind zwar zahlenmäßig deutlich geringer, benötigen jedoch die Hilfestellung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang muss eigentlich die Vermutung von Schädigungen des Gehirns (Verringerung des Hippocampusvolumens) zurückgewiesen werden: Wenn so hohe Zahlen Traumatisierter gesichert sind, dann fällt es schwer, funktionelle Einschränkungen des Gehirns auf der Basis von heftigen Cortisolausschüttungen mit posttraumatischer Verarmung an Cortisol zu beweisen. Da im Allgemeinen keine Vergleichsberechnungen des Hippocampusvolumens vorliegen und die Zwillingsforschung nur widersprüchliche Aussagen erlaubt, ist diese biologisch orientierte Erklärung zu vernachlässigen, obwohl sie seit zwanzig Jahren kolportiert wird, was fraglos mit einem Bedürfnis zusammenhängt, physiologische Schädigung des Gehirns für Posttrauma verantwortlich zu machen.

 

Einschub zu den B-D-Kriterien der PTBS

 

Über die Probleme mit den Kardinalsymptomen habe ich in früheren Einlassungen nachgedacht. Dabei habe ich meine Unsicherheit gezeigt und versucht, den ambivalenten und keineswegs spezifischen Charakter von Intrusionen am Beispiel des Flashback (Kriterium B), den ambivalenten Zugang zur Interpretation von Vermeidung (Kriterium C) und Übererregung (Kriterium D) nachvollziehbar zu machen. Das alles geschah, obwohl ich über hinreichend umfangreiche Praxis verfügte, nach meiner aktiven Zeit, gleichsam durch bilanzierende Nachlese als Lehnstuhlexperte. In meiner praktischen Tätigkeit machte ich die Erfahrung, dass bei „traumatisierten Flüchtlingen“ der entscheidende Schritt zur Emanzipation aus der Opferrolle in wohlwollender Begleitung, Solidarität, Einführung in die ungeschriebenen Gesetze, Sprachhilfen, Arbeit, Unterstützung des Familienmusters als existenzstützende Maßnahmen liegt. Hinsichtlich der traumatischen Erlebnisse führt Anerkennung des Leids und brüderliches Bekenntnis des Behandlers zum Klienten zu den bedeutsamsten Faktoren.  Ich habe nichts dagegen, wenn dies Therapie genannt wird. Therapie von traumatischen Erlebnissen erschien mir stets ein Paradoxon, auch das individuelle traumatische Gedächtnis kann logischerweise nicht auf ein homogenes Ergebnis von Gesundheit eingeschrumpft werden, ohne seine Individualität einzubüßen.

 

Ich schließe mit zwei englischen Zitaten eines Psychologen und eines Militärhistorikers, die meine Sicht auf PTBS unterstützen:

 „Those who promote PTSD have (1) disregarded time-honored lessons about traumatic stress reactions; (2) permitted political and social attitudes to sway their judgments and alter their practices; (3) dispensed with diagnostic fundamentals and so made claims that are regularly (and embarrassingly) misleading; and (4) slighted other explanations and treatments for patients with trauma histories[xxxviii].“ Harter Tobak, aber gut für Reflexionen.

„Modern „biological“ models of PTSD perfectly reflect the atomized, de-socialized, individualistic, consumerist ethos of the twenty-first-century United States, the biochemical sense of self which now pervades popular culture, and the power of the pharmaceutical industry in modern medicine[xxxix].“

 

Ein großer Dank geht an Frau Leyla Schön, Bibliothekarin im BZFO, Berlin, für die Bereitstellung der relevanten Literatur.

 



[i] Summerfield, D. (2001) The invention of post-traumatic stress disorder and the social usefulness of a psychiatric category. British Medical Journal,  332, S. 95-98.

[ii] Lees-Haley, P.R. (1986) Pseudo post-traumatic stress disorder. Trial Diplomacy Journal, 9, S. 17-20, zit. S. 17.

[iii] McHugh, P.R., Treisman, G. (2007) PTSD: A problematic diagnostic category. Journal of Anxiety Disorders, 21, 211-222, Tab. 1, S. 217.

[iv] Stieglitz, J., Barnes, L. (2008) Die wahren Kosten des Krieges. München: Pantheon, S. !02 ff.

[v] Ivan Illich (1976) Die Nemesis der Medizin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S. 197.

[vi]  Burkett, B.G., Whitley, G. (1998) Stolen Valor: how the Vietnam generation was robbed of ist heroes and its history. Dallas, TX: Verity.

[vii] Shatan, C. (1973) The grief of soldiers: Vietnam combat veterans self-help movement. American Journal of Orthopsychiatry, 43, S. 640-653.

[viii] Summerfield, D. (2004) Cross-cultural Perspectives on the Medicalization of Human

 Suffering. In: Posttraumatic Stress Disorder – Issues and Controversies (Gerald M. Rosen (Hrg.). Chichester: Wiley &Sons. S. 233-246.

[ix] McNally, R.J. (2004) Conceptual Problems with the DSM-IV Criteria for Posttraumatic Stress Disorder. In Rosen, G. M. (Hrg.) Posttraumatic Stress Disorder – Issues and Controversies. Chichester, Wiley & Sons. S.1- 14, zit. S. 1

[x]  zit. nach McHugh, P.R., Treisman, G. (2007) S. 218.

[xi] Ruscio, M.A., Ruscio, J., Keane, T.M. (2002) The latent structure of posttraumatic stress disorder: A taxometric investigation of reactions to extreme stress. Journal of Abnormal Psychology, III, S. 290-301.

[xii]McHugh, P.R., Treisman, G. (2007) PTSD: A problematic diagnostic category. Journal of Anxiety Disorders: 21, S. 211-222, zit. S. 214.

viii McNally, R. J. (2005) Debunking myths about trauma and memory. Canadian Journal of Psychiatry: 50, S. 817-822.

[xiv] Scott, M.J., Stradling, S.G. (1994) Post-traumatic stress disorder without the trauma. British Journal of Clinical Psychology, 33, S. 71-74.

[xv] Ravin, J., Boal, C.K. (1989) Post-traumatic stress disorder in the working setting: Psychic injury, medical diagnosis, treatment and litigation. American Journal of Forensic Psychiatry, 10, S. 5-23.

[xvi] Kessler, R.C., Sonnega, A. & al. (1999) Posttraumatic Stress Disorder in the National

Comorbidity Survey. Archives of General Psychiatry, 52, S. 1048-1060.

[xvii] Bodkin, JA; Pope, HG; Detke, MJ; Hudson, JI (2007) Is PTSD caused by traumatic stress? Journal of Anxiety Disorders 21: 176-182. Zahlreiche Artikel führender Forscher zu Problemen der PTBS in diesem Journal zeigen die Neigung, zumindest Teile der Symptomatik den Angststörungen/Phobien zuzuordnen und damit eine gewisse Korrektur im Verständnis posttraumatischer Störungen anzubringen.

[xviii] Gold, S.D., Marx, B.P., Soler-Baillo, J.M.& Sloan, D.M. (2005) Is life stress more traumatic than traumatic stress? Journal of Anxiety Disorders, 19, S.687-698.

[xix] Mol, S.S.L., Arntz, A. &al. Symptoms of post-traumatic stress disorder after non-traumatic events: Evidence from an open population study. (2005) British Journal of Psychiatry, 186,  S. 494-499.

[xx] Illich,I. (1977) Die Nemesis der Medizin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 195

[xxi] Mellman, T.A., David, D., Bustamente,V. &al. (2001) Dreams in the acute aftermath of trauma and their relationship to PTSD, Journal of Traumatic Stress, 14, S. 241-247.

[xxii] Spitzer, RL; First, MB; Wakefield, JC (2007) Saving PTSD from itself in DSM-V. Journal of Anxiety disorders 21: 233-241.

[xxiii] Ich beziehe mich hier auf Berichte von Folterüberlebenden, die ihren Mitgefangenen im Gefängnis ihre Geschichte mehrfach erzählt haben und dabei allmählich ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Traumaprozess gewannen, der zuweilen jedoch durch neue Gefangene aktualisiert  und gleichzeitig durch tätige Nächstenbetreung gemildert wurde. Es scheint so, dass die Gruppe der politischen Gefangenen die Funktion des Psychotherapeuten einnahm, mit einem hohen Grad an strukturierter Organisation. Diese eher intuitive Folgerung deckt sich mit Resultaten von Basoglu, Paker et al. (1994) Psychological effects of torture: A comparison of tortured with nontortured political activists in Turkey. American Journal of Psychiatry, 151, S. 76-81.

[xxiv] Lawler, K.A. (1980)Cardiovascular and electrodermal response patterns in heart rate reactive individuals during psychologigic stress. Psychophysiology, 17, S. 464-470.

[xxv] Kritische Bemerkungen zum Impact of Event Scale (Newman u.a., 1996), der Klienten in jener Zeit als Fragebogen oft vorgelegt wurde, wurden aus dem Standardwerk von van der Kolk „Traumatic Stress“ nicht in die deutsche Ausgabe übernommen. Honi soit qui mal y pense.

[xxvi]  Rosen, G.M. (2007) Pseudo-PTSD. Journal of Anxiety Disorders. S. 201-210.

[xxvii]  Scott, W. (1993) The politics of readjustment: Vietnam veterans since the war. New York: Aldine de Gruyter.

[xxviii] Hagopian, P. (2015) The Politics of Trauma. Mittelweg 36, 14. Jg.,Heft 5, ZHIS, S. 72-87.

[xxix]  Bolton, P., Neugebauer, R., Ndogoni, L. (2002) Prevalence of depression in rural Rwanda based on symptom and functional criteria. Journal of Nervous and Mental Diseases, 190, S. 631-637.

[xxx] McNally, R. J. (2004) Conceptual Problems with the DSM-IV Criteria for Posttraumatic Stress Disorder. In: Posttraumatic Stress Disorder: Issues and Controversies, (Hrg. von Rosen, G.M.) John Wiley & Sons, Chichester, England. S. 1-14.

[xxxi] Littlewood, R. (1990) From Categories to Contexts: A Decade of the „New Cross-cultural Psychiatry“. British Journal of Psychiatry, 156, S.308-327.

[xxxii] Summerfield, D. (2004) Cross-cultural Perspectives on the medicalization of human suffering. In: Rosen, G.M. (Hrg.) Posttraumatic Stress Disorder – Issues and controversies. Chichester: Wiley & Sons. S. 233-246, Zit. S. 241.

[xxxiii]  Mollica, R., McInnes, M., Pham, T., et al. (1998) The dose-effect relationships between torture and psychiatric symptoms in Vietnamese ex-political detainees and a comparison group. Journal of Nervous and Mental Desease, 186, S. 543-553.

[xxxiv] Carson, M.A., Paulus, L.A. et al. (2000) Psychophysiologic assessment of posttraumatic stress disorder in Vietnam veterans who witnessed injury or death. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68, S. 890-89.

[xxxv] Mellman, T.A., David, D., Bustamente,V. &al. (2001) Dreams in the acute aftermath of trauma and their relationship to PTSD, Journal of Traumatic Stress, 14, S. 241-247.

[xxxvi] Breslau, N., Kessler, R.C. & al. (1998) Trauma and posttraumatic stress disorder in the community: The 1996 Detroit area survey of trauma. Archives of General Psychiatry, 55, S. 626-632.

[xxxvii] Stein, M.B., Walker, J.R. & al. (1997) Full and partial posttraumatic stress disorder: Findings from a community survey. American Journal of Psychiatry, 154, S. 1114-1119.

[xxxviii] McHugh, P.R., Treisman, G. (2007) PTSD: A problematic diagnostic category. Journal of Anxiety Disorders. S. 211-222, zit. S. 212.

[xxxix] Shephard, B. (2004) Risk Factors and PTSD. In: Rosen, G.M. (Hrg.) Posttraumatic Stress Disorder – Issues and Controversies. Chichester: Wiley & Sons, S. 39-62, zit. S. 57.