von Sepp Graessner

 

Viele Jahrzehnte erforscht die Wissenschaft das Phänomen Trauma, indem sie Ursachen und Folgewirkungen in unterschiedlichen Feldern untersucht, was befremdlich erscheint, weil der Fähigkeit zur Gewalt ebenso wie den Wirkungen von Gewalt ein psychischer Prozess zugrunde liegt. Die unbekannte Komplexität aller Faktoren, die Gewalt bedingen und Gewalt hervorbringen und andererseits die terra hemidemisemicognita der Gewaltwirkungen im Menschen, scheint diese Segmentierung nötig zu machen. Hammer und Amboss wird man jedoch weiterhin in einem Feld, in der Schmiede, suchen. Wenn man durch politische Praxis die Gewalt nicht bändigen kann, vertraut man gern auf den psychomedizinischen Komplex, weil er sich auf den Entsorgungsaspekt schrecklicher Ereignisse spezialisiert hat.

Seine Reputation bezieht der Traumabegriff vorrangig aus seiner Funktion als „Gleichmacher“ ersten Ranges, darin sehr ähnlich dem Begriff: Stress, zu dem es natürliche Beziehungen gibt. Vorsätzliches Trauma umfasst Täter und Opfer, Arme und Reiche, Kluge und Dumme, Herren und Knechte, weil alle, indem sie (durch Gewalthandlungen) Qualitäten ihrer Menschlichkeit einbüßen, im psychologischen Sinne Schädigungen aufweisen. Wenn also allein die Verluste und deren psychophysische Folgen fokussiert werden, ist es schwer, die Ursachen nach moralischen Kriterien zu differenzieren. Erst die umschriebenen Folgen von Gewaltakten mobilisieren Fürsorge, Empathie und therapeutische Korrektur, allerdings mit selektivem Blick: hierarchisch gegliedert bringen wir diese Eigenschaften zum Ausdruck und verströmen sie auf z.B. misshandelte Kinder, Geiseln, Soldaten, Bettler, Flüchtlinge (in dieser Reihenfolge). In gewisser Weise ist der Traumabegriff ein Gleichmacher im Unsichtbaren, der besonders auffällig mit der ökonomischen Ungleichheit, d.h. im sichtbaren Bereich, kontrastiert. Den Zugang zu unsichtbaren Prozessen hat die Psychiatrie/Psychologie von religiösen Ritualen übernommen.

   Dennoch weiß man bis heute nicht, was genau ein Trauma, hier als Psychotrauma verstanden, eigentlich ist. Trauma lässt sich anhand der Phänomene, die es hervorbringt, beschreiben und lässt Ursache, primäre und sekundäre Folge zusammenfallen. Alle drei werden Trauma genannt (in Analogie zu: Wunde, Heilprozess, Narbe), was für eine bewusst ungenaue Begrifflichkeit sprechen könnte. Präzise Kenntnisse zur Ätiologie, zu den sehr unterschiedlichen Verläufen, zur Prognostik, zu den Umwandlungsprozessen in Somatik und zu vielen anderen Fragen bestehen allerdings nicht. Bislang waren auch die neurowissenschaftlichen Annäherungen nicht in der Lage, Licht in die Dämmerung des Wissens zu bringen. Zahlreiche Disziplinen der Wissenschaft haben den Versuch unternommen, den Begriff Trauma, der einen inzwischen gesellschaftlich verankerten Diskurs hervorgebracht und etabliert hat, zu erhellen. Als Voraussetzung für die Hegemonie beanspruchende Psychologie/Psychiatrie (oder besser: der medizinisch-pharmazeutisch-psychologische Komplex, MPPK) bedurfte es einer Diagnose, um das Phänomen Trauma für den MPPK zu reklamieren und als genuinen Forschungsgegenstand auszugeben, was zur Beschränkung auf das Gehirn führte, schließlich hatte bereits der Fußball (den ich als Sport herzlich mag) erkannt, dass das Mentale über Siege Ausschlag gebend entscheiden kann. Die Diagnose musste also einfach sein, leicht abzufragen, und sie musste suggerieren, jeder Mensch sei in der Lage zu diagnostizieren, weil das Folgesyndrom traumatischen Erlebens jedem Menschen bekannt, plausibel oder geläufig sei. Wenn aber jeder traumatisierte Mensch seine Schädigung beschreiben kann, gleichsam seine Diagnose in der Praxis abgibt, bleibt für die Professionellen, außer den Entdeckungsreisen in verborgene Traumata ihrer Klienten, nur das Feld der Psychotherapien übrig, in dem nun wiederum Konkurrenz, Missgunst und das Gedrängel um öffentliche Aufmerksamkeit herrscht. Man kennt, wenn man sich zu keiner Schule bekennt, die Blicke von Kollegen, die zwischen Entsetzen, Mitleid und Verteidigungsbereitschaft oszillieren und mit körperlich-gestischer Aufrüstung einhergehen oder den geordneten Rückzug begründen. Jedenfalls ist der gesamte Körper involviert und nicht nur das limbische System, was mir ein Lächeln abzwingt.

Das Gezerre um wissenschaftliche Dominanz in diesem Feld tut dem Thema nicht gut, und die populären Deutungen haben den Begriff nur scheinbar glatt und rund geschliffen, sodass er heute jedem locker von den Lippen geht. Das Phänomen bleibt jedoch weiterhin unverstanden, nicht nur weil die pseudonaturwissenschaftliche Messbarkeit von Beschwerden und Zeichen nicht zu einem Verständnis führt, sondern auch weil geistreiche Verklärungen dazu neigen, das Trauma im Unverstehbaren zu halten. („Das Unsagbare“ lädt zur permanenten Interpretation ein.) Daneben ist einem durchdringenden Verständnis hinderlich, dass heute kontinuierliche Beobachtungen nur noch „Experten“ zugetraut und von ihnen durchgeführt werden, wenngleich zumeist unter Laboratoriumsverhältnissen. Nur selten treten Versuche, einen wissenschaftlichen Synergismus statt Gerangel zu erzielen, ins öffentliche Licht. Trauma als Forschungsgegenstand, als Objektivitierung des Subjektiven scheint sich gegen eine Aufklärung zu sträuben, es sei denn, man nimmt heute bereits ein noch ungeklärtes Ergebnis vorweg, das besagt, alle Menschen reagieren auf bedrohliche Ereignisse in gleicher Weise, weshalb auch ihre psychischen Mechanismen in gleicher Weise, d.h. ohne Beeinflussung durch Erziehung und Kultur, funktionieren. Mein persönlicher Zweifel gegen eine Egalisierung im Qualitativen (vielen Widrigkeiten des Lebens heftet man heute das Label Trauma an) gilt grundsätzlich für diagnostische Zugänge ebenso wie für therapeutische. Homogenisierung der psychischen Prozesse steht als treibende Kraft hinter den Versuchsanordnungen im Laboratorium. Vorerst müssen wir uns also mit phänomenologischen Einkreisungen behelfen. Die Sache selbst, als eine über Sinneswahrnehmungen innig verschränkte Beziehung zwischen Innen- und Außenwelt, haben wir noch nicht befriedigend verstanden. Manches spielt sich im Gehirn ab, es ist die notwendige Voraussetzung, aber nicht der Monopol beanspruchende Ort, an dem Wahrnehmungen in Leiden verwandelt werden. Daran sind neben dem Gehirn der gesamte übrige individuelle Körper und die belebte und unbelebte Umwelt beteiligt. Auch Gene sind ja nichts ohne Anregung, sie sind nur Molekülketten; erst die Wechselwirkung von Äußerem und Innerem setzt Aktivitäten frei, die als Psychotrauma bezeichnet werden können, wenn sie ein zuvor bestehendes Gleichgewicht verlassen. Gleichgewicht benutzt, braucht und bedeutet Wahrnehmung und affirmative Reflexion der eigenen Person in der Welt. Trauma ist trotz aller prinzipiellen Einwände ein Schlüsseltopos, weil man an ihm die Mechanismen von bedrohlichen, d.h. Angst erzeugenden Sinneswahrnehmungen und ihre Umwandlung in somatische, psychische und soziale Wirkungen studieren kann. Von Wissen ist man aber noch weit entfernt.

    Man kann unter diesen komplexen und schwer entschlüsselbaren Umständen leider keine Theorie erwarten. Alle Erklärungsbemühungen bleiben vor der Tür. Sie betreten nicht das Innere des Begriffs, der zur Förderung seiner Reputation der physiologischen Medizin entnommen wurde. Behelfsweise hat man verschiedene „theoretische Rahmen“ zu einzelnen Aspekten erfunden, so dass sich eine therapeutische Praxis auf ein akzeptiertes Fundament gründen konnte. Aus der Mehrzahl „theoretischer Rahmen“ kann man ersehen, dass Schulen oder Lehrmeinungen ihre jeweiligen Akzente in den Vordergrund rücken, deren vorrangiges Merkmal ist, dass sie einem dispositionsbereiten Publikum plausibel erscheinen, Evidenz beanspruchen können, Einzelphänomene ordnen und, wenn sie korrekt mit sich umgehen, auf die Vorläufigkeit des Wissens hinweisen. Die Fahrrinne des vorläufigen Wissens sollte im Gegensatz zur Elbe ausgebaggert und vertieft werden.

Die Vielfalt therapeutischer Methoden, eine Linderung posttraumatischer Leiden zu bewirken, bezeugt die Schwierigkeit einer Suche nach Wahrheit, die im Traumaphänomen sondiert wird, denn sie beruft sich auf unterschiedliche Aspekte einer Wahrheit, die in den Symptomen verborgen ist. (Aber wie kann das Evidente verborgen sein?) Die therapeutische Beseitigung oder Linderung einer Symptomatik ist ein auf Funktionalität und Wirksamkeit gerichtetes Verfahren, das nicht ohne Kommunikation auskommen kann. Kommunikation ist also unverzichtbar. Das erfordert nicht zwangsläufig, dass der Mechanismus der Symptomentstehung und des Vagabundierens der Symptome verstanden werden muss. Es ist auch nicht erforderlich, dass ein einheitliches Bild vom Wirken und der Beschaffenheit der Seele einem therapeutischen Handeln zugrunde gelegt wird. Das Nichtwissen, das subjektiv oft mit Wissen verwechselt wird, lässt der Magie einen Raum, der Struktur und ritualisierte Abläufe im therapeutischen Setting gewährt. Der Drahtseilakt, nur einem subjektiven Aspekt von Wahrheit zu genügen, sollte bescheiden machen. Bei den Kämpfen im wissenschaftlichen Feld, darf man vermuten, geht es selten um Wahrheit. Vielmehr um Dominanz, Macht, Ruhm und Ansehen. Wie in anderen Feldern kann man bashing, Diffamieren, Rufmord und  Fälschungen registrieren. Forschung im Feld des Traumas muss sich stets bewusst sein, dass es nicht nur Frust sondern auch Furcht erzeugt, wenn man in die Zone des Noch-nicht-Wissens vordringt. Dieses Empfinden ist nicht mit den Seefahrern des 15.Jahrhunderts ausgestorben.

 

Die diagnostische und therapeutische Konzentration auf die posttraumatische Symptomatik eines traumatisierten Individuums, das psychisch durch einen Gewaltakt geschädigt wurde, blendet eine umfangreiche Vorgeschichte aus, die zum Gewaltakt und später zu einer mehr oder weniger gelungenen Integration der Schrecken und Ängste geführt hat. Die Integration benötigt eine längere Zeit, bis mit dem rationalen und emotionalen Verstehen des traumatischen Ereignisses ein allmähliches Besänftigen des psychischen und physiologischen Aufruhrs einer traumatisierten Person einsetzen kann. Dazu braucht es ein anerkennendes, schützendes und solidarisches soziales Umfeld. Dieses Umfeld kann, wenn es seine bergende Funktion nicht erfüllt, zu dauerhafter Verlängerung der psychischen Schädigung beitragen, wenn sie Schuld, Selbstbeschuldigung, Missverständnis, Scham befördert und Anerkennung des subjektiv Erlebten versagt. Anerkennung des Subjektiven, nicht nur von anderen Personen, ist immer mit Risiken verbunden und trifft den Kern von Vertrauen.

Die Vorgeschichte eines traumatischen Ereignisses hat mich in der Begleitung traumatisierter Flüchtlinge mindestens ebenso interessiert wie die Folgephänomene. Und zwar aus einem Grunde: In der Vorgeschichte eines Gewaltakts liegen die politischen und gesellschaftlichen Ursachen für später auftretende psychische Symptomatiken. Verstehen des Traumas umfasst die ganze Person, wie sie geworden ist und Verstehen setzt daher lange vor dem Auftreten eines posttraumatischen Syndroms ein. Gebündelt gesagt: Jedes individuelle Trauma, wenn es über längere Zeiträume andauert, zeugt vom Versagen der Gemeinschaft, ihrer Institutionen und ihrer Instrumente..

 

Der heute in den Vordergrund gerückte Diskurs über eine resiliente Antwort auf extreme Ereignisse birgt auch Gefahren und ist ja nicht nur eine Frage nach biographischen Elementen einer individuellen Widerstandsfähigkeit, die ein Trauma vor pathologischer Entgleisung bewahrt oder es in seinen Auswirkungen mildert. Dieser Diskurs wendet sich zum Teil, soweit Soldaten betroffen sind, von der ausschließlichen Behandlung posttraumatischer Beschwerden ab und sucht in der prätraumatischen Stärkung von Ressourcen ein langwieriges Leiden zu  lindern und Reparationsleistungen zu verkürzen. Dazu werden vielfach Sozialisationsmuster von Geschwisterbindungen (beim Militär wieder) in Gestalt von „buddys“ aktiviert. Intensivbindungen an konkrete primäre Personen, Ideale und abstrakte Werte sollen, so die teuren Programme der Militärs, die Verlorenheit und Unterwerfung in der militärischen Hierarchie ersetzen. Die Vaterfigur des „Vorgesetzten“ bleibt unangefochten. Die Akzentuierung der Prävention soll Kosten sparen helfen, aber auch ein Entweichen in die Subjektivität pazifistischer Anwandlungen (Residuen des Zivillebens) vermeiden. (Man hatte nach Kampfeinsätzen festgestellt, dass viele Salven von Rekruten gezielt in die Luft gingen, die Bindung an das Tötungstabu trotz „Ausbildung“ andauerte. Wenn aber dem Bruder oder anverwandten buddy Gefahr drohte, konnte man sich leichter über strenge Tabus hinwegsetzen.)

Die Resilienzforschung und ihre praktischen Konsequenzen haben folglich eine Beziehung zu dem, was ich als Vorgeschichte des Traumas und der Symptombildung bezeichne. Diese Forschung findet allerdings ihre Grenzen in der Komplexität der Biographien, die sich nur mit willkürlichen Ambitionen homogenisieren lassen.

Nun muss man aber zur Vermeidung posttraumatischer Krankheitsverläufe wissen, welche Elemente der biographischen Vorgeschichte resiliente Reaktionen auf traumatische Erlebnisse fördern, wenn man sie programmatisch einüben will. Mit „try and error“ kommt man hier nicht weiter. Braucht es dazu Selbstbewusstsein, Vertrauen in die eigene Stärke, Getragensein in einem Netzwerk, Treue zu Überzeugungen, Verankerung im Glauben oder andere Elemente? Und wie oft und auf welche Weise hat ein Mensch die kleinen traumatischen Erlebnisse wie Kränkungen, Ausschluss, vorenthaltene Teilhabe, Entwertungen, Demütigungen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen bearbeitet oder hinter sich gelassen? Man kann einen Katalog aufstellen, in dem prätraumatisch kleine Traumata aus dem gesellschaftlichen Raum und mittelgroße Traumata aus dem familiären Raum verzeichnet sind. Dabei stellt sich die Frage, ob eine große Anzahl solcher schmerzhaften Erlebnisse (Zustände) eine Disposition für eine bessere oder schlechtere Verarbeitung extremtraumatischer Ereignisse darstellt. Brutalisieren kleine und mittelgroße Verletzungen einen Menschen oder sensibilisieren sie ihn für die Verletzlichkeit anderer Menschen? Oder sind beide Prozesse gleich gültig, also gleichgültig? Oder gibt es darauf keine Antwort, die sich aus dem Verhältnis von Erlebnissen und traumatischen Wirkungen herleiten ließe? Mir fallen dazu keine befriedigenden Aussagen ein. Experimentelle Forschungen zur Lösung solcher Fragen sind unterwegs. Die unzulängliche Prognostik, welche Dispositionen und Erlebnisverarbeitungen (von frühen Traumata) positiv oder negativ mit Traumata umgehen lassen, lässt vermuten, dass frühe Strukturbildungen, die sich aus den unterschiedlichsten Wahrnehmungen zusammensetzen, für die Art und Weise verantwortlich sind, in denen Traumata bearbeitet und integriert werden. Solche neuronalen Strukturen entstehen nach vielfältigen (und wiederholten) Wahrnehmungsstimuli in Kindheit und Jugend. Kulturell gesetzte Bedeutungen sollen Sinn gewähren; auch sie müssen (möglichst widerspruchsfrei) wahrgenommen und in das Raster formend eingebaut werden. Mit diesem Raster wird dann die Realität bewertet. Es kann zynische, illusionäre, pessimistische oder optimistische Gestalt in Beziehung zur Realität annehmen. Hierbei handelt es sich nur um vier Reaktionsraster auf Traumata; es gibt sehr viel mehr, und sie haben zahlreiche Zwischenstufen. Solche Raster zum Verstehen sind begleitet von einer Vielzahl von Gefühlen. Vermutlich sind die Raster nicht eindimensional sondern flexibel. Sie erlauben eine elastische Reaktion auf Umweltreize, was eine Prognostik erschwert. Sie scheinen aber sensibel für Widersprüche zu sein. Wenn die Raster das Ergebnis von geordneten Wahrnehmungen sind, dann geraten sie durch das Auftreten von Widersprüchen in Unordnung. Wenn die Welt nicht so ist, wie das Raster sie sortiert hat, dann müssen die neuronalen Strukturen neu gerastert und fixiert werden, und dieser Prozess bringt möglicherweise die unterschiedlichen Symptomgruppen hervor, die ihre Schwerpunkte im kognitiven, emotionalen oder geistigen Bereich auf die Mehrdimensionalität der Gehirnstrukturen zurückführen. Ist also der Umgang mit elementaren Widersprüchen für die Ausbildung posttraumatischer Störungen mitverantwortlich, weil die Neubeschreibung von neuronalen Strukturen nach traumatischen Erlebnissen Verwirrung hinterlässt und die gewohnte Weltsicht in Frage stellt.

Entscheidend scheint zu sein, welche Tiefenwirkung Erlebnisse hinterlassen und ob es Filter gibt, die hinlänglich abwehren und Prozesse verlangsamen oder entschärfen. (Wie können solche postulierten Filter beschaffen sein?) An der Tiefenwirkung ist nicht nur die Intensität ursächlich beteiligt, es scheint m. E. vielmehr das soziale Umfeld einen nicht geringen Anteil zu haben, denn es entwirft und spiegelt Bedeutungen, moralische Bewertungen und zuordnende Einteilungen. Man müsste die Beobachtung von sich entwickelnden Biographien viel mehr vertiefen, um Brüche und Verwerfungen sowie Elemente von Resilienz zu identifizieren. Das jedoch verbietet die Privatsphäre, die kein Labor ist. Da eignen sich kasernierte Lebensformen mit Befehlsstrukturen (in fragwürdiger Weise) besser. Befehlsstrukturen sollen Wahlmöglichkeiten vermeiden. Das Gespräch und die Beobachtung (nicht im Sinne von Kontrolle) haben m. E. Vorteile gegenüber der Illusion der Messbarkeit psychischer Prozesse. Denn es erscheint widersinnig, einen psychischen Prozess, der sich aus komplexen Faktoren zusammensetzt, in einer Messung und deren Ergebnis festzuhalten. Denn man übersieht dabei, dass Einzelmessungen zu Symptomen den Krankheitswert nicht erreichen, der sich als Emergenz darstellen lässt, d.h. die einzelnen Symptome können als plumpe Summe wegen ihrer wechselseitigen Dynamik nicht den Grad einer Störung bewirken. Ich hatte schon früher darauf hingewiesen, indem ich vorschlug, die einzelnen Symptome, die auch Teil anderer Störungen oder eines vorübergehenden Alltagsempfindens sind, erst dann als Störung zu bezeichnen, wenn die limitierten einzelnen Symptombilder eine neuartige Qualität hervorbringen. Selbst die Kardinalsymptome der PTBS können isoliert als (oft flüchtige) Alltagserfahrungen auftreten, ohne dass ein Krankheitswert erzielt wird. Es gilt also die gesamte Struktur einer Störung ins Auge zu fassen, die nicht über Elemente einzelner Symptome repräsentiert wird. Erst die synoptische Zusammenschau einzelner Symptome im Gefolge eines Traumas erhält jene Qualität, die wir posttraumatische Störung nennen, und diese ist mehr als nur eine arithmetische Aussage in Prozentzahlen. (Zuweilen bekommen ich den Eindruck, dass hier völlig unterschiedliche Sprachcodes am Werke sind.) Das Emergenzmodell liefert eine Erklärung dadurch, dass sie eine gewichtige Qualität der gesamten Symptomatik hervorbringt, welche die Summe einzelner Symptome übersteigt, weswegen Einzelmessungen die neue Qualität nicht herstellen können. Da inzwischen immer mehr Inventare (Fragebögen und screenings) für einzelne Symptome das diagnostische Feld bestimmen, gerät das, was wir mit einem Krankheitswert oder dem Profil einer ganzen Person zu erfassen suchen, aus dem Blickfeld. Und daher landen wir unversehens wieder bei der Fähigkeit einer biographischen Vorgeschichte  für eine Traumaintegration, die sich einer Messung entzieht.

 

Eine Einkreisung führt jene Ansätze zusammen, die über eine katalogisch orientierte phänomenologische Beschreibung hinauszugehen vorhaben. Da derzeit noch keine überzeugende Theorie psychologischer und physiologischer Entstehung und Entwicklung von Traumapatienten existiert, schlägt José Brunner („Politik des Traumas“) in Anlehnung an andere Autoren vor, man müsse sich heute wohl mit vier „theoretischen Rahmen“ auseinandersetzen, wenn man sich einem tiefen Verständnis von Trauma nähern wolle. Es erscheint nahe liegend, dass Theorie und theoretischer Rahmen verschieden sind. Gäbe es eine Theorie des Traumas, dann würden in der Praxis der Behandlung posttraumatischer Beschwerden höchstens zwei, wahrscheinlich sogar nur eine therapeutische Methode resultieren und nicht, wie heute durch den theoretischen Rahmen, zahllose sich therapeutisch nennende Interventionen. Die Vielzahl therapeutischer Methoden kann als Beleg für das Herumstochern im und Annäherung an den Theorienebel gesehen werden. Denn es hat sich bei allen verstandenen Krankheiten gezeigt: Wenn erst einmal ein durchdringendes Verständnis vorliegt, gibt es nur eine zentrale Therapie und möglicherweise mehrere begleitende Therapieergänzungen. Schon die Feststellung einer posttraumatischen Störung als Diagnostik muss auf einen theoretischen Ausgangspunkt verzichten, auf den zu orientieren man jedoch leicht vermeiden kann, wenn man nicht das prätraumatische Leben in den Blick nimmt, sondern allein auf das extreme Erlebnis fokussiert. Und als ob angesichts extrem komplexer Prozesse das Fehlen einer Theorie in Diagnostik und Therapie nicht schon schlimm genug wäre, geraten sich im therapeutischen Bereich die hochkomplexen Prozesse von Kommunikation, Suggestion und Vertrauen einschließlich eines emotionalen Austauschs zwischen Menschen in die Quere, so dass ein Verstehen von Trauma durch allzu viele Variable behindert wird. So muss Traumatherapie als eine Kur zur Symptomlinderung, als Therapie von Aspekten des Traumas betrachtet werden.

Es kann keinesfalls darum gehen, den Theoriemangel durch eine Vorstellung von Emergenz auszugleichen, denn ein wesentliches Charakteristikum der Emergenz ist die Unvorhersagbarkeit. (Zeitpunkt und Qualität des neuen Status sind nicht prognostizierbar.) Vielmehr sagt das Emergenzmodell lediglich, dass eine Aneinanderreihung von unsichtbaren, gleichwohl berichteten subjektiven Symptomen in ihrer gleichzeitigen Existenz eine besondere Qualität hervorruft und daher einzelne Symptome zu behandeln der Wahrheit (dem Geheimnis) der Störung nicht näher kommen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Symptome lediglich eine „schwache Emergenz“ aufweisen, weil sie reduziert werden können auf physikalische und chemische Prozesse.

Die unterstellte gleichzeitige Existenz von Symptomreihen ist ziemlich ungenau, denn die Symptome sind nicht dauernd und in gleicher Stärke vorhanden. Durch innere und äußere Faktoren zeigen die berichteten Symptome eine je unterschiedliche Akzentuierung der Hauptsymptomgruppen. So können einmal die Übererregung, ein anderes Mal die intrusiven Bilder oder auch die Vermeidung in den Vordergrund rücken. Hieraus kann man schließen, dass die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen Faktoren und individuellen Bedingungen auch die Präsenz, Dauer und Intensität der Symptome beeinflussen. Aus diesem Grunde greift die abfragende Psychologie zu folgendem Instrument: Sie will wissen, ob das Symptom A oder B in den letzten vier Wochen, in der letzten Woche oder im letzten halben Jahr aufgetreten sei, wobei nicht in Frage gestellt wird, ob das Symptom wirklich durch das bestimmte traumatische Ereignis hervorgebracht wurde. Es könnte sich, rein hypothetisch, von früheren Erlebnissen herleiten oder diese verstärken. Dieser Einwand wird einleuchtend, wenn man zugrunde legt, dass die Gestalten der generalisierten Angst und spezifischen Furcht (und besonders die Furcht vor der lähmenden Angst) schon in frühen Entwicklungsstadien geformt werden. Und Angstgefühle sind die primäre psychische Antwort eines Organismus auf bedrohliche, d.h. traumatische Situationen. Nach meiner Überzeugung und Beobachtung ist der gesamte Komplex der posttraumatischen Symptome durch Angst und die Unfähigkeit, diese Angst zu beherrschen, in Gang gesetzt und durch negative soziale Umweltfaktoren gleichsam fixiert worden.

Betrachten wir die Brunnerschen „theoretischen Rahmen“ im Einzelnen. Brunner nennt sie Paradigmen.Er erkennt also, wegen ihrer Ermöglichung einer therapeutischen Praxis, vier Paradigmen, die sich in den letzten 35 Jahren durchgesetzt haben: das behavioristische, das kognitive, das psychodynamische und das biologische Paradigma. Sie haben heute nicht mehr das gleichwertige Gewicht, aber auch Leichtgewichte unter den Paradigmen können gewichtige Kommentare zur Entstehung von posttraumatischen Symptomen abgeben Das biologisch-neurowissenschaftliche Paradigma scheint heute in führender Position zu sein, allerdings scheint es noch keine Antennen für die Dimensionen der Zeit und der Vorgeschichte zu besitzen,, es sei denn, es verwandelt Zeit und Geschichte in physiologische Signale. Es ermöglicht à la longue und hoffnungsgetrieben Aussagen über den aktuellen Status einer Person, aber nicht über sein Leben und seine Verarbeitungspotenzen. Da ist die psychodynamische Variante  im Vorteil, weil sie die aktuelle Befindlichkeit aus der individuellen Geschichte und den Wechselwirkungen mit der Umwelt herleitet, es gibt also im psychischen Erleben kein „Jetzt ohne Damals.“ Es wird also alles ständig neu konstituiert und formatiert, weil so viel Neues posttraumatisch hinzutritt. Die Praxis im Umgang mit Psychotraumata behauptet gleichfalls, dass die Gegenwart einer Person nur durch das vergangene traumatische Erleben erklärbar ist, also durch eine Vergangenheit, die wie ein Blitz in das Leben einer Person einschlägt, so, als sei diese Person keinen bedeutsamen Ereignissen zuvor ausgesetzt gewesen. (Schaubilder zum Traumaverlauf in Publikationen und Lehrbüchern beginnen im Allgemeinen mit dem traumatischen Ereignis und leiten daraus das weitere Schicksal einer Person ab. Allerdings lässt sich nicht behaupten, das Leben beginne erst mit dem Trauma.) Die behavioristische Variante hat bezüglich traumatischer Symptome mit Handlungen und aktiven Vermeidungen zu tun, welche die erlittene Ohnmacht posttraumatisch übrig gelassen hat. Es besteht nicht mehr die prätraumatische Bandbreite an Handlungsoptionen. Das soll sich mit Verhaltenstherapie ändern, überwiegend durch Techniken und Programme. Auf geschmeidige Art wird das alte Korrektionshaus mit seinen vorgeschriebenen Zielen in ein Sprechzimmer verwandelt, in dem gleichfalls nicht über die Ziele der Korrektur verhandelt wird. Das kognitive Paradigma geht idealerweise davon aus, dass alle Klienten den gleichen Zugang zu Erkenntnis und Einsicht haben oder es selektiert insgeheim. Natürlich haben alle Menschen Muskeln, aber die Kraft fällt doch sehr unterschiedlich aus. Zudem sehe ich im Hintergrund des kognitiven Ansatzes eine primäre Tendenz zur Ordnung, die, wenn sie a priori nicht vorhanden ist, so doch mit den ersten Schritten zwangsläufig entsteht. Sprechen und Syntax sind das orientierende Muster. Das kognitive Paradigma kann mit der Architektenzeichnung eines Hauses verglichen werden, das niemals gebaut wird, weil es mit einer Illusion beginnt. Vielleicht leiden alle Paradigmen des „theoretischen Rahmens“ daran. Paradigma als Begriff der Wissenschaft ist in diesen Zusammenhängen eine Krone, die zwar glänzt, aber auf keinen Kopf passt.

Mehrfach und vermutlich ungenügend habe ich mir Gedanken über die Bedeutung der einzelnen Symptomkomplexe nach traumatischem Erleben gemacht. Ich bin allerdings noch nicht zur Frage vorgedrungen, in welcher zeitlichen Weise die Symptome auftreten. Sind sie alle mit einem Knall präsent und persistieren dann? Oder müssen sie durch ein akutes Stadium hindurch und können dafür sechs Wochen in Anspruch nehmen, bevor sie in quälende Erscheinung treten? Oder treten sie in abgestufter und abgeleiteter Form auf? Wird folglich die Übererregung als unmittelbare Folge einer Vernichtungsangst bereits in der peritraumatischen Situation ausgebildet, während posttraumatische Vermeidung zwangsläufig erst nach der peritraumatischen Situation einsetzen kann, weil es zur Konstruktion von Vermeidung eine neue und reflexive Haltung, einen Zwitter zwischen Bewusstsein und Unbewusstem braucht. Vermeidung ist folglich kontextabhängig und für die Orientierung im sozialen Raum primär sinnvoll. Die Grenzziehung zur phobischen Vermeidung erscheint schwierig und zuweilen willkürlich. Auch die Intrusionen brauchen eine längere Zeit, bis sie sich als Störung sedimentiert haben und sich aus dem psychischen Archiv melden. Erst die Wiederholungen (z.B. auf externe Trigger) betonen und definieren den störenden Charakter.

Intrusionen und Vermeidung können einen auf den Gedanken bringen, nach den unvermeidlichen und spontanen physiologischen Reaktionen auf bedrohliche Stressoren (heftige Erregung, Schwitzen, Steigerung von Blutdruck und Herzfrequenz) könnte es sich bei diesen abgeleiteten Symptomkomplexen um Versuche des Organismus um Neustrukturierung und Kompensation von Funktionsverlusten und von Schädigungen sowie um begleitende Schutzhandlungen handeln und nicht um neu eingetretene Defizite. Nicht jedes Symptom muss ein Krankheitszeichen sein. Einige können als Signale der Restitution angesehen werden. Und vermutlich treten solche Zeichen auch bei vielen psychischen Konstellationen auf, wo sie möglicherweise darauf hinweisen, dass ein aus dem Gleichgewicht geratenes psychisches Befinden dabei ist, ein neues (reduziertes?) Gleichgewicht zu finden, in der Weise, wie physiologische Mechanismen immer versuchen, das durch externe Einflüsse aus dem Gleichgewicht geratene oder erschütterte Seelenleben zu reparieren, neu zu ordnen und ins Gesamte zu integrieren. Es wäre somit Aufgabe von Therapie, das angestrebte neue Gleichgewicht anzuerkennen und zu unterstützen.

    Die weiteren Symptome sind Zeichen persistierender bewusster und unbewusster Erinnerungen, und sie werden als solche konzeptualisiert. Erinnerungen sind danach die Quälgeister posttraumatischer Befindlichkeiten, weil sie die meisten der normativ katalogisierten Symptome hervorzubringen scheinen. Schlafstörungen und Alpträume können logischerweise erst nach der peritraumatischen Situation auftreten. Wutausbrüche haben einen interpersonellen Kontext, der nicht allein (oder nur willkürlich) auf ein traumatisches Erlebnis zurückzuführen ist. Eine eingeschränkte Bandbreite der Affekte, die posttraumatisch nach den Klassifikationen auftritt, lässt keineswegs den Umkehrschluss zu, wer unfähig zu zärtlichen Gefühlen sei, muss dies mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung bringen. Es könnte auch schlicht der Effekt unzulänglicher Erziehung sein. Die zeitlichen Übergänge von „akut“ zu „chronisch“ haben keine klinische, sondern allenfalls versicherungsrechtliche Relevanz. Außerdem verlagern sie die Symptomatik in Selbstbeschuldigung, wenn es drei Monate nach Auftreten des Syndroms einer betroffenen Person noch nicht gelungen ist, die Erinnerungsspuren zu verdrängen oder vergessen oder sie abzuschütteln. Da kann zusätzlicher Stress aufkommen, der von den normierten vorgaben herrührt. Das Symbolisieren von Orten, Tages- und Jahreszeiten, Handlungen, sensorischen Reizen benötigt eine gewisse Zeit, bis es zu eben den Gefühlen führt, die das ursprüngliche traumatische Erlebnis begleiteten. Aber was ist denn dieses ursprünglich mit der traumatischen Situation verbundene Gefühl, wenn nicht Angst oder Furcht vor der Angst? Auch die oft zitierte Hilflosigkeit ist eine Folge der Angst und der sie begleitenden stofflichen Prozesse, die lähmend wirken, auf Denken und Handeln.

Niemand aber wird sagen: Das Erlebnis hat mir bleibende Angst gemacht, und diese Angst hat mein Leben in störender Weise verändert.

Warum eigentlich nicht? Stattdessen wird von Trauma als medizinisch-psychologischer Terminus gesprochen (darauf haben Brunner und einige andere Autoren zu Recht hingewiesen) und dabei der Begriff Angst vermieden. Diese Vermeidung hat vielleicht auch traumatisches Erleben zur Grundlage: die Faszination von Gewalt und die Unsicherheit im Umgang mit ihr und ihren Folgen. Diese Ambivalenz ist vermutlich auch, wenn sie unauflöslich bleibt, für posttraumatische Depressionen mitverantwortlich.