Folter und Gedächtnis - Erinnerungsmedizin gegen den Missbrauch des Gedächtnisses (1999)

von Sepp Graessner

 

 

Kognitive Fähigkeiten  (sind) untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozeß des Gehens erst entsteht. Daraus folgt, daß meine Auffassung der Kognition nicht darin besteht, daß diese mithilfe von Repräsentationen Probleme löst, sondern daß sie vielmehr in kreativer Weise eine Welt hervorbringt, für die die einzige geforderte Bedingung die ist, daß sie erfolgreiche Handlungen ermöglicht: sie gewährleistet die Fortsetzung der Existenz des betroffenen Systems mit seiner spezifischen Identität.

(F.J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, S. 110)

 

Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastrationen), die grausamen Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) - alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.

( F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II,3)

 

  In meiner letzten Zeit im Behandlungszentrum sind mir Probleme aufgetaucht, wie man mit den politisch motivierten Flüchtlingen und Folterüberlebenden umgehen solle. Auf diese Gruppe sei nicht leicht der individualpsychologische Ansatz ohne sorgfältige Beachtung der speziellen ethnisch-kulturellen Hintergründe und Regeln anzuwenden, weil die Patienten Auseinandersetzungen mit ihrer Persönlichkeit ständig entwichen in ein kollektives Korsett politischer Weltanschauungen. Der Psychotherapeut prallt an der Wand ideologischer Parolen und Versatzstücke ab. Er sieht sich der Forderung ausgesetzt, das politische Glaubensbekenntnis seiner Patienten zu teilen oder Misstrauen zu erregen. Misstrauen aber gerät in Wechselwirkung, Behandlung stagniert, Beziehung bricht ab oder wird ausgesetzt.

 

Für jeden Menschen gilt, was Folterüberlebende im Exil in besonderem Maße betrifft:Entwurzelung und Orientierungsmangel, Sinnkrise und Zerfall der vormals organischen, natürlichen Gemeinschaften, erzwungene Mündigkeit angesichts von allzu vielen verschwommenen Optionen, all dies sind geschichtliche Kräfte, die der einzelne auch als persönliches Problem erfährt, deren Ursachen jedoch nicht primär in seiner individuellen Biographie liegen, sondern dieser vielmehr in umgekehrter Weise den Rahmen vorzeichnen (FR 24.11.93).

 

 

Arbeit mit Extremtraumatisierten ist in erster Linie Erinnerungsarbeit, für Patienten, Behandler und Dolmetscher. Die Erinnerungsarbeit benutzt als Instrument das Gedächtnis. Es ist das empfindsamste Sinnesorgan des Menschen. Wahrnehmung ist ohne Gedächtnis flüchtig.

 

Es stellt sich die Frage, welchen Stellenwert bei der Überwindung des Foltertraumas die politische und kulturelle Identität hat und wie  eine Behandlung ergänzt werden könnte, die mit einem Individuum konfrontiert wird, das Ich-Stärke aus einem kollektiven Selbstverständnis (als Surrogat?) bezieht, wenngleich dadurch eine rein individuelle Bearbeitung des Haft- und Foltertraumas verstellt oder erschwert wird, da sich aktivierbare Ressourcen aus dem Kollektiv und nicht aus dem Individuum herleiten.

Grundsätzlich sind kollektive Selbstbezüge, die auch konstituierend auf die Entwicklung einer Persönlichkeit wirken, unvermeidlich. Historiker sagen, jemand sei Kind seiner Zeit. Kollektive Selbstbezüge verlangen ein auf kollektive Handlungsmuster orientiertes kollektives Gedächtnis. Dieses konstituiert sich zumeist durch eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Gewalt, die wir lernen nennen. Lernen erfolgt zu einem guten Teil durch Drohung oder Angst vor Strafe (zumindest was den Zeitpunkt des Lernens betrifft).

  Ein Patient ist immer auch z.B. Deutscher, Mannrolleninhaber, konservativ, gebildet usw. Es handelt sich dabei um Qualitäten, die das Individuum nicht aus sich selbst produzieren kann, die es nur aus kollektiven Zusammenhängen erfährt, erinnert und inkorporiert. Das ist bei den Folterüberlebenden nicht anders. Auch er/sie hat einen Anteil eines kollektive Gedächtnisses, das (eingehüllt in Illusionswolken) vom Kampf um (vermeintlich) universelle Rechte bestimmt ist, für die er/sie adäquat oder inadäquat gehandelt hat. Die Beurteilung, was angemessen ist, bringt uns in große Probleme.

  Ob politische Überzeugungen einen Halt bieten oder diesen vorgaukeln, ist relativ unerheblich unter zwei Gesichtspunkten:

1) Die politische Identität des Patienten ist eng mit seinem historischen Selbstverständnis als Gruppenmitglied verbunden. Der Folterer sucht im allgemeinen die geschichtliche Orientierung des Opfers, d.h. den Weg zu seinem Selbstverständnis, zu zerstören. Das betrifft sowohl das historische Selbstverständnis des Individuums unter der Folter als auch das kollektive nach einer Entlassung aus Haft, in der ein Gefolterter wie ein Botschafter des Misstrauens wirken muss.

Die Wiederaneignung der kollektiven Geschichte  einer Gruppe, die gegen Unterdrückung aufsteht, durch Erinnerung der individuellen Handlungsmotive und -formen und ihrer Rahmenbedingungen ist also eine wesentliche Antwort auf die Folter. Jede Rekonstruktion der Elemente von Selbstvergewisserung ist eine Antwort auf die Folterer.

 

2) Enge Bindungen an quasi-religiöse Ideologien finden zumeist statt, wo die eigene Geschichte als eine Kette von Niederlagen oder Leiden erlebt wird. Zur Überwindung des Leidens braucht es Opfer, die dargebracht werden an das quasi-Göttliche. Der Folterüberlebende, wenn er nicht erst als Reaktion auf individuelle Verfolgung und Folter sich politisiert (i.S. von radikalisiert =verwurzelt), erlebt sich als Opfer, dessen Sinn er nur integrieren kann, wenn er zumeist der erlittenen Folter eine Bedeutung in der historischen Dimension Geopferter oder Märtyrern zuordnen kann. Der einzelne Folterüberlebende stellt sich damit in eine Reihe von erinnerten Menschen oder Gruppen, die ein ähnliches Schicksal hatten. Er/sie verlängert somit einen ausgewählten Aspekt der Geschichte seines/ihres Volkes oder seiner/ihrer Gruppe im Gedächtnis seiner/ihrer Freunde und Verwandten, d.h. eines umschriebenen sozialen Umfeldes. Aus diesem Umfeld erfährt er/sie allerdings auch eine primäre Traumatisierung, indem er/sie sich gezwungen sieht, politisch Stellung zu beziehen. In Kurdistan oder einem Palästinenserlager gibt es die Freiheit zur öffentlichen politischen Stellungnahme oder zur Abstinenz nicht. Für unsere Patienten kann es tödlich sein, keine Position zu beziehen, wie es tödlich sein kann, eine bestimmte Position einzunehmen. Die Freiheit der Wahl, der individuellen Entscheidung, die Behandler in Anspruch nehmen, ist den Patienten fremd geworden.

  Die Unterstützung des Opfers, den Anschluss an ihr soziales Umfeld in kritischer Betrachtung wieder zu finden, an dessen ungeschriebene Gesetze und Traditionen, ist daher in der unterstützenden Arbeit von großer Bedeutung. Dabei muss der Opfercharakter für die Existenz bewusst werden.

  Soll man dann folglich einen durch und durch geprägten Nazi in seinen ungelöschten Grundmustern stützen, der sich als Opfer von z.B. sowjetischer Misshandlung erfährt? Erst einmal ja. Weil ein Nazi, der sich dauerhaft als Opfer betrachtet, ein gefährlicherer ist, als wenn er den Opferaspekt seiner jüngsten Geschichte bearbeitet. Ohne Verarbeitung des Opferaspektes hat solch ein Mensch nie die Chance, sich vom Nazismus abzuwenden. Wir wissen, dass gerade auch Folterer  ihre menschenrechtsverletzende Energie aus einer Phase nehmen, in der sie bewusst zu Opfern gemacht wurden (s. Ausbildung zu Folterern in z.B. Griechenland). Überhaupt scheinen militärische oder paramilitärische männliche Formationen einen individuellen Opfercharakter vorzubereiten, aus dem sich ungehemmt Misshandeln und Töten entwickeln können.

Es wird erkennbar, dass das kollektive Gedächtnis durchaus nicht nur positive, gleichwohl konstitutive Elemente enthält: So ist der Antisemitismus wohl gleichfalls im kollektiven Gedächtnis lokalisiert. Das Symbol des Kreuzes für die Hinrichtung Jesu aktualisiert stets aufs Neue die Form der Misshandlung Jesu durch Römer und Juden. An zahlreichen Hälsen hängt das Kreuz als Erinnerung an und Option für eine grausame Bestrafung und die damit verbundene öffentlichkeitswirksame Aussage (J. Schoeps 1994).

 

  Geschichte ist in erster Linie selektive Erinnerungsarbeit. Jeder Mensch akzentuiert die jeweils ihm bedeutsamen Teile der Vergangenheit. Was als bedeutsam gesehen wird, ist nicht allein vom Individuum, seinem Interesse und seinen Emotionen zu verantworten, sondern muss als gesellschaftlich bedingt betrachtet werden (P. Burke 1991). Gemeint ist damit, dass es eine gesellschaftliche oder kulturelle Matrix gibt, die als soziales Gedächtnis bestimmte Erinnerungen selektierend produziert, verformt, entstellt. So ist es z.B. die Matrix von der sozialen Gerechtigkeit, die aus einem Bandenführer wie Robin Hood einen Widerstandshelden macht, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Die Gegner Robin Hoods hatten kein Interesse an einer Legendenbildung, Robin Hood hat niemals einen Ghostwriter bemüht, um seine Geschichte aufzuschreiben, und dennoch bleibt er über Jahrhunderte eine sympathische Figur, weil er einem Grundmuster von sozialem Gedächtnis genügt. Das heißt, soziales Gedächtnis orientiert auf eine gewünschte Zukunft.

  Legenden aus dem Reservoir des sozialen Gedächtnisses erlauben eine Identifikation. Dabei scheint unerheblich, ob die ursprüngliche Legendenfigur, wenn es sie überhaupt gab, bestimmte Eigenschaften hatte, die ihr zugesprochen und weitererzählt werden.

  Im Falle von Folterüberlebenden ist die Identifikationsfigur eine Person, die unter der Folter niemand verraten hat. Jedes Volk oder jede politische Gruppe hält solche "Helden" parat. Alle mir bekannten gefolterten Patienten bis auf einen reklamieren für sich, dass sie standhaft verräterische Auskünfte verweigert hätten. Zugleich aber erfahren wir, dass der überwiegende Teil der Folterüberlebenden durch Verrat inhaftiert und gefoltert wurde. Wie passt das zusammen?

 

  Unter der Folter kommt es zu einem eigentümlichen Wettstreit zwischen individuellem und sozialem Gedächtnis. Der Folterer will Zugriff zum Gedächtnis des/der Gefangenen, und diese/r wehrt sich mit  Elementen des sozialen Gedächtnisses (Tradition) seiner/ihrer Gruppe, Partei oder seines/ihres Volkes. Das soziale Gedächtnis umhüllt gleichsam schützend das individuelle, wo Namen, Orte, Telefonnummern usw. bewahrt werden. Soziales Gedächtnis ist mit Moral nicht ausreichend beschrieben, weil, ergänzend zu den abstrakten Kategorien der Moral, zum sozialen Gedächtnis stets der Vorgang der Einprägung mit seinen Gefühlsqualitäten gehört. Beide Formen von Gedächtnis sucht der Folterer durch  Schmerz und Drohung zu trennen. Der im Gehirn registrierte Schmerz bildet Barrieren zwischen den Erinnerungsinstanzen. Psychische und physische Gewalt anwendend, verfolgt diese Mnemotechnik (abusus memoriae) das Ziel, das Band zwischen Ratio und Mneme zu zerreißen, um kollektive Gedächtnisinhalte nach Belieben auswechseln zu können, sagt D. Hardt in seiner Einleitung zu "Die Erfindung des Gedächtnisses" (1991). Wahrscheinlich löst der Folterer auch beide Erinnerungsleistungen auf, sodass bei einem Folterüberlebenden sowohl das kollektive als auch das individuelle Gedächtnis beschädigt werden, besonders wenn ein Folterüberlebender der geforderten Kooperation nachgibt. Dann zeigt die Scham den Selbstverrat an. Kollektives Gedächtnis schwebt nicht im Raum und erlaubt einen Zugriff nach Belieben. Es ist Teil der Kultur, die auch repressive Strukturen in den Individuen verankert.

 

Gedächtnis und Erzählen sind keine computerähnlichen Speicher, aus denen abgerufen werden kann, was erforderlich erscheint. Gedächtnis erscheint vielmehr nach modernen Erkenntnissen als eine konstruktive und produktive Leistung des Gehirns ohne sichere Lokalisation. Es scheint, als ob alle Hirnanteile Gedächtnisleistungen übernehmen können.

  Gedächtnis ist in nicht geringem Maße, freilich nicht quantifizierbar, kulturell abhängig. Daraus resultiert ein Problem, das wir am besten an den islamisch sozialisierten Patienten veranschaulichen können:

Perser, Palästinenser, Araber und Kurden kennen weder eine Reformation, Aufklärung noch eine die allgemeinen Menschenrechte proklamierende französische Revolution (B. Tibi 1991). Beim Islam handelt es sich um eine Religion, die mit ihrer theozentristischen Sicht nicht nur einen Absolutheitsanspruch vertritt, sondern auch die Freiheit der Subjektivität nicht zulässt. Individualrechte und Subjektivität sind aber wesentliche Voraussetzungen, Inhalte und Ziele von europäisch entwickelter Psychotherapie (und Psychotherapeuten). In der europäisch entwickelten Psychologie/Medizin liegt nicht nur die Geschichte der abendländischen Wissenschaften/Techniken, die der Islam nicht teilt, in beiden verkörpert sich auch der Zugriff zum Unbewussten, das im Islam die Sphäre Allahs ist. Europäische Wissenschaften sind für solche Patienten schon a priori suspekt, weil sie Kolonialismus, Bevormundung und Zerstörung des Glaubens repräsentieren.

  Im Koran, der Verkündigung, ist das Individuum als Ziel menschlicher Handlungen nicht existent. Wohl aber die Gemeinschaft der Muslime (umma). Auf dieses Kollektiv sind alle Bestrebungen gerichtet. Da auch Handeln im Sinne von Politik den Gesetzen des Islam unterliegt, ist Politik den kollektiven Zielen verpflichtet. Kollektive Ziele sind in zahlreichen Ideologien und Gesellschaftstheorien festgeschrieben, die in der islamischen Welt zur inneren Abwehr feudalistischer Strukturen dienen. Die Bekenntnisse meiner Patienten zu kollektiv orientierten Ideologien und deren oftmalige Wiederholung nehmen in deren Verständnis Elemente der Scharia (islamisches Recht) auf und werden mit dem Absolutheitsanspruch versehen, der durch die Religion vorgebahnt und daher nicht fremd ist.

 

  Seit langem bekannt ist die Rolle, die Gedächtnis, Erinnern und Erzählen für den Aufbau und den Erhalt einer individuellen Identität spielen. Die kognitive Psychologie operiert mit dieser Tatsache. Die kulturell vermittelte Beziehung von Gedächtnis-Inhalten und  -Wertigkeiten liegt darin, dass sich eine individuelle Identität entwickeln kann. Die soziale Autobiographie einer Gesellschaft oder einer revolutionären Volksbewegung, ihre Geschichtsentwürfe und ihre Prozesse der Selbstvergewisserung, ihre unumstößlichen Gesetze usw. sind nur durch Gedächtnisleistungen denkbar und verständlich. Dieses nicht vererbbare Gedächtnis, das kulturelle, hat einen unmittelbaren Einfluss auf das individuelle (Assmann, Hoelscher 1988).

  Soziales Gedächtnis braucht Mediatoren, im allgemeinen Eltern, Großeltern, Idole. Kultur ist Gedächtnis und bietet einen Rahmen, in dem sich individuelle Identität, die gleichfalls gedächtnisgebunden funktioniert, entfaltet.

  So sind z. B. Jahreszahlen im Gewimmel der Erinnerungsarbeit in allen Kulturen, in denen sie eine Bedeutung haben, nur Chiffren, die als Zuordnungserleichterung (vor allem schriftlich operierender Kulturen) fungieren. Diese Art der Zuordnungen spielt aber z.B. in ländlichen Regionen des Libanon keine Rolle, da hier Kommunikation nicht datenfixiert und damit nicht abstrahiert stattfindet. Überhaupt erscheint die Abstraktionsfähigkeit von Flüchtlingen und Folterüberlebenden aus dem Nahen und Mittleren Osten eingeschränkt.

 

Soziales oder kollektives Gedächtnis nimmt jedoch nicht nur unter der Folter Schaden, sondern auch im Exil. So wirken nicht nur die Umstände der Flucht sondern auch die Einflüsse des neuen Kulturrahmens (Ausländerfeindlichkeit) als "misleading postevent informations" (W. Hell 1993), die Erzählungen der Fluchtgründe.verzerren können.

  Das soziale Gedächtnis funktioniert für eine Gesellschaft oder umfassende politische Bewegung, so S.J. Schmidt (1991), wie ein Immunsystem für den Körper, indem es Eigenes von Fremdem unterscheidet, was für die individuelle Identitätsbildung (Aufbau eines Selbst und Ich-Struktur) entscheidend ist.

  Das Exil in einer fremden Kultur muss daher zwangsläufig das Differenzierungsvermögen auflösen, zumindest verwirren. Damit verschieben sich zugleich die Zeithorizonte, die einer Kultur eigentümlich sind und die überhaupt Kultur begründen, wenn sie von den Mitgliedern als synchron erlebt und akzeptiert werden. Betroffen ist also auch der individuelle Zeithorizont, der zusätzlich in seiner identitätsstiftenden Kontinuität unterbrochen wird durch die Neuorientierung in einem neuen Zeithorizont. Eine bis dahin funktionierende Zeitorientierung muss als Erinnerungsarbeit und zugleich als Auslöscharbeit neu formuliert werden. Kann ein individuelles Gedächtnis dies posttraumatisch tolerieren?

Die schwierige Aufgabe, besonders für einen Asylbewerber (im Gegensatz zum Touristen), besteht darin, dass seine für ihn kohärente Geschichte (Autobiographie) auch im Gedächtnis (=Wahrnehmung) eines Verwaltungsrichters kohärent konstruiert werden muss, unabhängig davon, welche desorientierenden Einflüsse gewirkt haben, auf beide Parteien. Ein "Gedächtnis der Angst" wirkt beim Asylbewerber allerdings nachhallender.

  Die Jahreszahl "1933" sagt fast allen Deutschen etwas, aber auch unterschiedliches. Im Zusammenhang mit dem Asylrecht kann kollektives Gedächtnis bei einigen Menschen die Bedrängung von politisch Verfolgten (re)konstruieren, obwohl die "erinnernden" Personen 1933 noch gar nicht bewusst gelebt haben.  Gespräche mit libanesischen Kindern machen dies deutlich: Die Kinder schildern Bürgerkriegsszenen aus Beirut in allen Details als eigene, sie bestimmende Erfahrungen, obwohl sie erst nach der Flucht der Eltern in Deutschland geboren wurden (R. Ghadban 1990).

   In Verbindung mit dem Asylrecht führen unterschiedliche kollektive Gedächtnisse zu unterschiedlichem Handeln. Flüchtlinge von damals werden eher ein soziales Gedächtnis befördern, das den Schutz von Flüchtlingen bewahrt. Nicht zufällig wird das Asylrecht in Deutschland erheblich eingeschränkt, als dieses soziale Gedächtnis verblasst, weil die Mahnenden gestorben sind. Die Leistung von Innenminister Kanter: Er hat alle Deutschen zu Komplicen seiner Erbarmungslosigkeit gemacht.

 

  Die oftmals hochgradige Verschlechterung des Gedächtnisses nach Folter ist eine bekannte Tatsache. Dabei scheint es unerheblich, ob körperliche oder überwiegend psychische Folter angewandt wurde.

  Bei Menschen, die ihre erlittene Folter einem politischen Kampf zuordnen, regeneriert sich das soziale Gedächtnis deutlich schneller und wirksamer: Es schützt auch noch im Exil, obgleich der Ort des sozialen Gedächtnisses, die Heimat, als wesentliches Regenerationselement entfällt. Der illusionäre Ort Heimat hat schlicht Zugehörigkeit gewährt. Um so mehr treten vordergründige Ausprägungen des sozialen Gedächtnisses in den Vordergrund, was auf Unterstützer oft pathetisch wirkt: Gedenktage, Mythen, Videofilme, Fotos, Embleme, Poesie und Musik. Ein diffuses Heimweh ist der Ausdruck des "schmerzenden" sozialen Gedächtnisses.

 

  Gedächtnis hat die Eigenschaft, dass es Vergangenes zur Gegenwart macht und auf die Zukunft orientiert. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass von manchen Ereignissen, an denen wir beteiligt waren, nur noch das Gefühl erinnerbar ist, das sie hinterließen. Die auslösenden Ereignisse zu präzisieren, gelingt nicht mehr. Sie sind in den Details vergessen worden. Es gibt im Gehirn Querverbindungen zwischen Ereignissen und konsekutiven (vorauseilenden) Emotionen, wobei die Emotionen bisweilen direkter erinnert (aktiviert) werden können als die Anlässe (Substitutionsthese der Gedächtnisspuren). Wenn nun gefühlsmäßige Bewertungen bestimmten Ereignissen assoziiert werden können, weil es dafür neuronale Konnektivitäten gibt, dann ist es vorstellbar, dass Gedächtnisinhalte, die als Vergangenes gegenwärtig werden sollen, durch emotionale Konnektivitäten verstellt werden, weil an das Ereignis eine existentielle Not gekoppelt war. Der Schutzcharakter der emotionalen Konnektivitäten löscht das Ereignis aus, vielleicht nicht komplett, aber verdrängt es in Vergessensnebel. Die Wahrheit des ursprünglichen Ereignisses kann in bewusstem Zustand nur noch unter taktischen Gesichtspunkten geprüft werden. Sehr wahrscheinlich spielen hemmende biochemische Reaktionen an den Synapsen eine bedeutende Rolle. Das Ereignis will nicht ins Bewusstsein treten. Das wäre ein mögliches Schema ungenügender Erinnerung bei gleichzeitigem Fortwirken des ursprünglichen Ereignisses in Alpträumen und flash-backs.

  Einleuchtend erscheint dieses Muster, wenn wir die negativ empfundene Emotion "Angst" in Zusammenhang mit Prüfungssituationen stellen. Die blockierende Wirkung der Prüfungsangst ist vielen bekannt. Sie wird allgemein akzeptiert.

 

  Im Rahmen eines therapeutischen Gespräches geht es neben der Erinnerung an die traumatischen Rahmenbedingungen auch um die Funktion des Vergessens und des Vergessenen. Selektive Erinnerung oder Identifikation mit Legendenfiguren führen zwangsläufig an den Verstecken vorbei, in denen das Gedächtnis Teile der Vergangenheit als Vergessenes sedimentiert hat. Hinter dem formelhaften Erinnern von revolutionären Handlungen vermuten wir zu Recht Verborgenes und Vergessenes. Die Schwierigkeit besteht darin, den stabilisierenden Wert des kollektiven Gedächtnisses zu akzeptieren und die Masken des individuellen Vergessens davon zu trennen, ohne als Unterstützer verletzend zu sein.          

 

  Wir wissen nicht, wie Vergessen zustande kommt und ahnen nur die Funktion des Vergessens. Welches Vergessen können wir also zulassen, da doch vielfach der Wunsch des Patienten darin besteht, Hilfe beim Vergessen zu erhalten und nicht beim Erinnern?

 

  Nach Maurice Halbwachs sind Erinnerungen abhängig von den sozialen Zusammenhängen, in denen der Erinnerungsinhalt zustande kam. Entfällt der Gruppenzusammenhang, verstümmeln die Erinnerungen oder verlöschen.

  Bei unterstützender Arbeit mit Extremtraumatisierten stehen wir immer wieder vor der Frage, wie es zu bewerten sei, dass Patienten wesentliche biographische Angaben zögerlich oder erst unter Abschiebedruck und zudem ungeordnet oder bruchstückhaft machen. Ist es allein die Scham (kulturabhängig), die Verbindung mit dem erlittenen Schmerz oder ist es das fehlende, lebendige Muster des kollektiven Gedächtnisses im Exil oder überhaupt andere Muster von Erinnerung, die zu einem zweifelnden Verhältnis von Behörden zur Biographie eines Asylsuchenden und Folterüberlebenden führen? Sind die Erinnerungslücken nur ein Trick? Werden arglos biographische Fragmente verschiedener Personen, also auch von deren Haft- und Foltererlebnissen, als eigene Erlebnisse kombiniert und integriert, weil sie in ein bereitgestelltes Muster kollektiver Erinnerung passen? Inwieweit sind solche Lücken oder fragmentierten Angaben Ausdruck posttraumatischer residualer Beschädigung? Und inwieweit fördert die Tatsache des Exils, d.h. der Trennung von Heimatgeschichte, in der sich das soziale Gedächtnis spiegelt, die Identifikation mit Elementen des kollektiven Gedächtnisses als Überlebensstrategie? Damit Exil Sinn erhält? Wie weit ist Wahrheit zu verbiegen, um dennoch Wahrheit zu bleiben? Darf nicht Lüge zur Wahrheit treten, wenn das Leben in Gefahr gerät? Das Leben ist nun mal das höchste Gut. Das kollektive Gedächtnis hält viele Beispiele bereit, in denen ein Trick, eine Lüge Überleben oder Sieg (Troja) garantierte. Nehmen wir die Geschichte, in der eine Befreierin die Wachmannschaften eines Häftlings täuschte, um Zutritt zur Zelle des Häftlings zu erlangen. In der Oper "Fidelio" findet ein kollektives Gedächtnis angenehme Identifikation, obschon keiner der Zuhörer/Zuschauer je in der Lage der Leonore war, die sogar ihre Geschlechtsidentität verleugnete. Man schätzt und würdigt, was man selbst gern täte, wenn ..... (Zum Glück gibt es im Parkett ein Konditional.)

 

  Durch seine moralsetzende Wirkung ähnelt das kollektive Gedächtnis den Mythen. Mythen sind das Gerüst moralischer Orientierung und damit Teil des kollektiven Gedächtnisses.

  Naturwissenschaftler haben gesagt, individuelles Gedächtnis und kollektives Gedächtnis könne man nicht gegenüberstellen, weil es für das eine ein Organ gäbe, für das andere jedoch nicht. Selbstverständlich ist der Ort beider Gedächtnisformationen das individuelle Gehirn. Sie haben jedoch beim Lernen und Wahrnehmen sehr unterschiedliche Funktionen. Ich gehe (als These) davon aus, daß es im menschlichen Gehirn eine Struktur gibt, die, wie Hinderk Emrich sagt, in Gestalt des Hippocampus, der für die kurzfristige Verarbeitung von Gedächtnismaterial zuständig ist, eine ständige Abgleichung zwischen gespeicherten Regularitäten und neuen Sinnesdaten produziert. Der Hippocampus stelle so für die Wahrnehmungen ein intern mitlaufendes Weltbild zur Verfügung; er sei aber auch in der Lage, Gedächtnisstrukturen zur Konfliktvermeidung umzuarbeiten, vorige Strukturmuster zu "vergessen" (FR, 14.12.93, H-W. Zerrahn). Dieses interne "Weltbild", das die Bedeutungen von Sinnesdaten gewichtet und mit anderen Engrammen verknüpft, kann man sich sehr wohl als Ort des sozialen Gedächtnisses vorstellen. Es ist der Angriffsort des Folterers.

 

   Was also enthält das kollektive Gedächtnis zur Stabilisierung eines Patienten im therapeutischen Prozess? Inwieweit ist das individuelle oder autobiographische Gedächtnis zwar für deutsche Richter an Verwaltungsgerichten interessant, für den Erinnerungmediziner aber lediglich gleichwertig neben dem kollektiven Gedächtnis, das ein Patient einer anderen Kultur lebt und mit seinem individuellen Gedächtnis in dauerhafter Abgleichung in Beziehung setzt?

  In den Heimatländern meiner Patienten würden Extremtraumatisierte und therapeutische Unterstützer idealtypisch ein verwandtes kollektives Gedächtnis teilen. Zumindest hätten die Chiffren der posttraumatischen Überlebensstrategie eines Patienten eine Chance gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Verständnismatrix. Im Exil ist dies anders. Hier müssen Unterstützer erst durch das Dickicht ihrer Unkenntnis und ihrer Vorurteile kriechen, bevor sie mit Hilfe des Dolmetschers, der ihnen im Idealfall ihre metaphorische Schlechtsichtigkeit lindert, an den Kern dessen gelangen, was hier kollektives Gedächtnis genannt wird. Nach der Kriechtour entdeckt der Unterstützer nicht etwa einen strahlenden Helden, den er zu kennen glaubt, sondern einen von seiner Geschichte abgespaltenen Menschen, der verzweifelt seine individuelle Geschichte sucht. Er erinnert sie oftmals tatsächlich nicht! Da dem Patienten der Zugang zu seiner persönlichen Geschichte verstellt ist (woran die erlittene Folter den Hauptanteil hat), sucht der Unterstützer, um nicht zu retraumatisieren, nach Elementen des kollektiven Gedächtnisses, weil das kollektive oder Gruppen-Gedächtnis im erlittenen Folterakt das Überleben garantierte, zumindest als Widerstandskorsett diente. Dabei reicht die Bandbreite des kollektiven Gedächtnisses von Filmhelden über die Mühen der Großeltern, eine Arbeit zu finden, bis zu den Verfolgungsschicksalen von Bekannten, die der Patient jeweils nur aus Bildern oder Erzählungen kannte, also nicht als individuelle Erinnerungen zur Verfügung hatte, die gleichwohl Empfindungen, Handeln und Verhalten bestimmten.

   Interessant sind hier die Unterschiede in verschiedenen Kulturkreisen, die den Einfluss der Zeit und des Ortes auf individuelles Gedächtnis und auf das kollektive Gedächtnis unterschiedlich akzentuieren. Bei westafrikanischen Patienten (z.B. Burkina Faso) fällt auf, dass ihr soziales Gedächtnis beim Entstehungsmythos ihres Familiennamens beginnt und dann bruchlos bei den Erlebnissen der Großeltern sich fortsetzt, bis die Patienten beim Erzählen in die Gegenwart gelangen.

  Immer wieder stelle ich fest, dass die örtliche und zeitliche Zuordnung von persönlich erlebten Ereignissen, die Patienten zustießen, unseren Wünschen nach exakter Zuordnung nicht entsprechen. Folglich sind die Urteile der Gerichte und Behörden ungenügend, weil sie nicht berücksichtigen, dass Widersprüche im individuellen Gedächtnis bei Flüchtlingen gar nicht ausbleiben können. Woher aber rühren die Widersprüche? Fragen wir wiederum den Soziologen Maurice Halbwachs, der im KZ Buchenwald von Nazis ermordet wurde, was die Frage des kollektiven Gedächtnisses in zweifacher Weise zu uns bringt. In seinem unvollendeten Manuskript über das kollektive Gedächtnis sagt Halbwachs, dass Gedächtnis und Urteil spezifischen sozialen Bedingungen unterliegen, die gleichsam den Rahmen abgeben, in dessen Zusammenhang erinnert und gedacht wird: innerhalb kollektiver Vorstellungen, die allerdings von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Klasse zu Klasse, Gruppe zu Gruppe bezeichnend sind. Der Begriff der wirklichen Zeit hängt vom kollektiven Gedächtnis ab, das, unendlich vielfältig, das Bild der vergangenen Geschehnisse rekonstruiert, es bewahrt und zugleich den Vorstellungen und Erwartungen anpasst und eingliedert, die der Vergangenheit und der Gegenwart jeweils entgegengebracht werden: Tradiertes bleibt sich nicht gleich, und das Neue ist im Vergangenen enthalten (H. Maus 1991, Geleitwort zu M. Halbwachs). Datierbare Erinnerungen der Individuen orientieren sich an einem sozialen Zusammenhang, dank dessen sie der Erinnerung erst fähig sind. Jedenfalls wird man einräumen müssen, dass ein kollektives Gedächtnis kein Steuerungsinstrument des Verstandes darstellt. Wie ließen sich unterschiedliche Entwicklungen bei Kindern derselben Familie erklären: das eine Pazifist, das andere Kommunist, das dritte Faschist?

Vor allem die Folteranamnese ist schwer zu rekonstruieren, weil der erinnerungsfördernde Stimulus, der Folterer, fehlt. Die Erfahrung ist gleichsam eingehüllt in einen irrealen Raum. Er, der Folterer,  hat die erfahrenen Zeiteinheiten bestimmt. Als individuelle Erinnerung ist die Foltererfahrung stark an die desorientierende Bedingung gebunden, die sie konstituiert hat. Die unter Emotionen erinnerte Zeiteinheit der Folter lässt reale Zeiteinheiten dehnen und vermutlich verfälschen. Vernichtungsangst führt im Gehirn zu einer Verlangsamung der Zeiterfahrung (Popper, Eccles 1977, Dialog IX), die durchaus im Exil die Synchronisation von Zeiterleben und Uhrzeit (Kalender) verändern kann. Auf jeden Fall ist die erlebte Zeit in einer anderen Kultur von anderer Zeitdauer und anderer Gegenwart sowie anderer sozialer Bedeutung.

Die massiv beunruhigende (dauertraumatisierende) Tatsache, daß der Folterer straffrei ausgeht, lässt die Erinnerung des Folterüberlebenden blockieren. Das in seinem kollektiven Gedächtnis gespeicherte Muster von Gerechtigkeit wehrt sich gegen die Erinnerung, wenn Satisfaktion nicht erreicht werden kann. Gedächtnis hat ein Ziel. Es will die Vergangenheit zur Gegenwart machen, beide Zeiten verschmelzen, anders hätte Erinnerung keinen Zweck. Da tritt das kollektive Gedächtnis mit einem Gerechtigkeitsanspruch dazwischen. Das individuelle Gedächtnis passt nicht zum kollektiven. Daraus rührt der entscheidende Konflikt, zumindest im Exil, das von Folterüberlebenden als zweite Bestrafung aufgefasst wird. Innerhalb des therapeutischen Gespräches repräsentiert der Folterüberlebende zugleich auch den Folterer oder das Prinzip Macht/Ohnmacht. Wenn man davon ausgeht, dass das kollektive Gedächtnis die Widerstandselemente enthielt, die es erlaubten zu überleben, ja den Folterer erst konstituierten (Foucault), dann kann es einleuchten, dass im gestützten Erinnern der Widerstandselemente nicht nur der Folterer vertrieben wird, sondern auch neue Handlungshorizonte sich bilden. Obwohl die Widerstandselemente ihres Kontextes beraubt sind und oftmals Jahre zurückliegen, eignen sie sich auch im Zwangsexil als Handlungsmuster. Die Möglichkeit, aus dem kollektiven Gedächtnis Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, dürfte dem oft beobachteten Bild der seelischen Depression einiges von seiner Wirksamkeit nehmen und zudem ein positiver Stimulus für das immunologische System sein. In neueren Forschungen der Neuropsychoimmunologie ergaben sich (vorerst noch spekulative) Hinweise über eine Beziehung zwischen Erinnern, Lebensführung und immunologischer Abwehrlage.

 

  Zur Ausgangsfragestellung zurück: Durch das Erinnern kollektiver Gedächtnisinhalte könnte man sich eine Behandlung vorstellen, die politische und gesellschaftlich vermittelte Identitätsmuster wirksamer zu berücksichtigen sich bemüht.

Im Bereich der Psychoanalyse sind in letzter Zeit Zweifel laut geworden, die klassische Analyse könnte sich den gesellschaftlichen Phänomenen nicht adäquat stellen. Das Modell Familie als wesentlicher Bezugsrahmen, aus dem sich Identität entwickelt, reiche nicht mehr aus, um die psychopathologischen Befindlichkeiten nach dem Nationalsozialismus zu erklären. Es flössen gesellschaftliche Bedingungen in psychische Störungen ein, die aus einer individuell zentrierten Sicht der Persönlichkeitsentwicklung nicht aufgegriffen und erklärt werden könnten.

Der Freiburger Analytiker Gehad Mazaweh: Man solle nicht die Patienten danach aussuchen, ob sie mit einer geltenden Methode "behandelt" werden könnten, sondern die Methoden hätten sich endlich den geschichtlich neuen Problemlagen anzupassen. (Eine neue Problemlage in Deutschland sind nicht nur die Fremden, sondern die politisch Verfolgten, die im allgemeinen Gesundheitssystem keine Behandlung bekommen und über die nur wenig nachgedacht wird).

Tilman Moser schreibt über das Auftauchen der Politik in der Psychotherapie. Es handele sich um Gewaltsysteme, die noch ungeklärt über mehrere Generationen die gegenwärtige so beeinflussen, dass deren Identitätsfindung ohne genügende Freiheitsgrade sich zu entwickeln scheint.

 

Bei der Rekonstruktion der individuellen Foltererfahrung darf sich folglich der Blick nicht nur auf den einzelnen Menschen richten, sondern hat die gesamte Verfolgungslage eines Stammes oder einer Gruppe einzubeziehen.

 

Wenn wir nun die Überlegungen zur vom Folterer angestrebten Regression berücksichtigen, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die provozierten Verluste der Körperkontrolle auch Auswirkungen auf die Erzählungen aus dem individuellen und kollektiven Gedächtnis haben werden. Somit würden solche Erzählungen Mängel aufweisen, die mit einem Anspruch auf Exaktheit und Wahrheit zwangsläufig kollidieren müssen. Dabei muss klar gestellt werden, dass die Bedingungen des Exils eine regressive Haltung kontinuieren, folglich die Zwecke der Folter verlängern.