-Skeptische Überlegungen-

 

       von Sepp Graessner

 

 

Trauma und hier vornehmlich das Psychotrauma sollen auf seine Bedeutung, Anwendung, Expansion und Definitionen befragt werden, weil, wie mir scheint, eine ungenaue oder schwammige Beschreibung Raum für unterschiedliche Interessengruppen lässt. Darunter sind sowohl Experten der Erinnerungskultur als auch Psychopharmakologen und Berufsverbände zu verstehen, die als intensiv operierende Lobbyisten das Ohr der Politik verkleistern. (An anderer Stelle habe ich mich zu der Frage geäußert, welcher wissenschaftlichen Disziplin das Psychotrauma „gehöre“ und wer Zugriff fordere: Der Hirnforscher ebenso wie die Kulturwissenschaftler, die Psychiatrie, die Rechtsprechung mit forensischen Gutachten und die Psychologie mit ihren zahlreichen therapeutischen Schulen.) Die Folgen traumatischer Erlebnisse werden hier nicht bestritten. Sie sind so real wie die Tatsache, dass kein Tag dem nächsten gleicht, weder in der allgemeinen Großkonstellation noch in der individuellen Wahrnehmung. Trauma wurde und wird zu einem Gebiet und einer forscherischen Fragestellung, in denen das subjektive Erleben objektiven Kriterien unterworfen wird. Ich habe mich immer gefragt, ob dies überhaupt ohne Willkür möglich ist und ob damit nicht im universalen Maßstab eine Homogenisierung des Subjektiven angestrebt wird, die Vielfalt auszulöschen geneigt ist. Meine Skepsis richtet sich gegen diese Tendenzen, die sich mit einer Unzahl an Büchern und Publikationen zu Wort melden.

Trauma ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein üblicher und ins Beliebige gedehnter Begriff geworden, der auf viele unterschiedliche Befindlichkeiten angewendet wird. Daher wurde zur Unterscheidung zum landläufigen Trauma, das sehr unbestimmt wirkte, das extreme Trauma in die Klassifikationen eingeführt. Nur das extreme Trauma, so wurde recht willkürlich festgelegt, hat die Macht und Kraft, nachfolgende Symptome hervorzubringen. Das extreme Trauma musste zu diesem Zwecke näher definiert und von geringer bewerteten seelischen Verletzungen abgegrenzt werden, was subjektive Reaktionen auf Stressoren unter äußere Maßstäbe bringt.

Heute haben angeblich Hunde ein Trauma, (z.B. ein Knalltrauma, was ich keineswegs ausschließen, aber nicht beweisen kann), wenn sie durch Bedrohungsszenarien (Sylvesterfeuerwerk) erschreckt werden. Aus ihrem Verhalten (Verkriechen und Vermeiden) wird auf ein Ereignis geschlossen, das sich mit Evidenz und Bestimmtheit als (psychische) Verletzung erwiesen hat. So ist es auch bei traumatischen Ereignissen, die Menschen in ihrer körperlichen Seele, ihrer seelischen Körperlichkeit und in ihrer sozialen Orientierung verletzen. Als Auslöser zählen dazu im engeren Sinne nur Herrschaftsbeziehungen ( von Menschen verursachte Desaster), die Ohnmacht hinterlassen, Demütigungen verursachen und Hilflosigkeit bereiten, d.h. es sind für äußere Betrachter oft unsichtbare schmerzhafte Empfindungen. Es sind Beziehungen unter Menschen, unter Gattungsgleichen, und es sind Bezüge zu solchen Lebensverhältnissen, die durch technische, von Menschen gemachte Rahmenbedingungen in die Welt der Menschen einbrechen. Davon strikt zu unterscheiden sind Beziehungen, die durch Verhältnisse zur unbelebten und belebten Natur gekennzeichnet sind. Zwar ist der Mensch Teil der Natur; seine Erkenntnisfähigkeit trennt ihn jedoch (nicht notwendig) von ihr. Indem er die Natur zum Objekt macht, macht er sich selbst im Bewusstsein des Subjekts zum Objekt, ein grundsätzliches Dilemma. Wenn diese Beziehungen ein katastrophales Resultat haben, können sie nach Meinung von Experten unter eine und dieselbe Kategorie gefasst werden. Nicht die Ursachen müssen nun analysiert werden, sondern allein die erzählten, erkennbaren oder vermuteten und unterstellten Folgen stehen im Zentrum des Interesses, obschon die Folgen im mentalen Bereich keine kausale und erklärende Beziehung von sich aus zu den Ursachen herstellen. Es braucht unvermeidlich den Zirkelschluss: Weil ein extremes Ereignis zum mentalen Trauma und zu Symptomen führt, ist es evident, dass die Symptome als spezifisches Merkmal auf ein externes Trauma hinweisen. Leider sind die Symptome überhaupt nicht spezifisch für einen posttraumatischen Status oder Prozess. Nicht einmal, wenn die kardinalen Kriterien des DSM-Katalogs erfüllt sind. Die Bedeutung des Zirkels darf man durchaus befragen, weil sie immer eine Instanz voraussetzt, die den Zirkel in Gang setzt, sei es eine Interessengruppe, ein Bedürfnis nach Mystik oder ein Hirnprozess. Genaues wissen wir derzeit nicht, und dies ist der Grund für die Ausdehnung des wissenschaftlichen Gerangels um die Beziehung zwischen Erleben und nachfolgenden Veränderungen oder Störungen.

Dazu tritt zur „präzisen Bestimmbarkeit“ traumatischer Zustände eine Reihe von Symptomen, welche traumatisierte Personen im Allgemeinen den Diagnostikern berichten müssen, weil und wenn sie aus einer Selbstwahrnehmung ihres inneren Erlebens stammen. Wenn dies nicht ausreicht, ergänzt Statistik das schmale Wissen um Wahrscheinlichkeit, die offene Fragen und Probleme umkurvt, ohne sie im Einzelfall beantworten zu können. Wenn aber Herrschaftsverhältnisse in ihrer missbräuchlichen Nutzung zu den zentralen Kernbedingungen für traumatische Ereignisse gehören, dann muss man, um Folgesyndrome zu vermeiden, über das Wesen und die Bedeutung von Herrschaft sprechen. In der Realität wird Herrschaft, die Ohnmacht und Hilflosigkeit verursacht, jedoch nicht in Frage gestellt. Sie ist einfach da wie die kapitalistische Produktionsweise oder die Lebensverhältnisse im kapitalistischen Rahmen. Herrschaft ist Teil der Realität, mit der man sich abfinden soll, weil ihr missbräuchlicher Gebrauch durch Gesetze und ethische Prinzipien beschränkt wird. Dabei kann sich der missbräuchliche Gebrauch von Herrschaft durchaus oft (NS, Stalinismus) auf Gesetze berufen. Es entsteht ein Dilemma, das durch die Abhängigkeit ethischer Prinzipien von der jeweiligen Kultur noch vergrößert wird.

In Supervisionssitzungen, in denen Patientenbiographien und ihre Beschwerden im Rahmen posttraumatischer Störungen vorgestellt werden, kann man sich gehörig langweilen, weil die Präsentation einer Struktur folgt, die der Auflistung im DSM-Katalog entspricht, hat Allan Young beobachtet. Die Struktur der Fragen und des Berichts sind bereits angelegt, bevor ein Diagnostiker einen potenziellen Patienten interviewt. Die verinnerlichte Struktur des Diagnostikers zwingt die Erzählung des Klienten in ein Korsett, und der Diagnostiker berichtet danach über das Korsett und nicht nur über Erlebnisse und Klagen eines Hilfesuchenden. Das Korsett einer Systematik darf man logischerweise nicht als Theorie ausgeben, weil sie keinen Ansatz für Erklärung bietet, sondern lediglich eine oberflächliche Patina darstellt. Die Systematik ist nicht mehr als ein ausgeleierter Stützstrumpf. Und das gilt für alle Arten von leitendem und stützendem Korsett, die seit der Kraepelinschen Grundlegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Welt der Wissenschaft einzogen.

Die Hintergründe für Herrschaftsbeziehungen in der menschlichen Kommunikation sind nicht leicht zu analysieren. Sie erfordern im Allgemeinen ein multidisziplinäres Vorgehen. Leichter und aus moralischen Gründen in der westlichen Welt nahe liegend erscheint die Betrachtung der Folgen von Herrschaftsbeziehungen, die sich an und in betroffenen Individuen zeigen und ihre christlich/alttestamentarische Herkunft nicht ganz verleugnen können. Sie können dann von der moralisch-rechtlichen Bewertung (Gewalt von und an Menschen) in eine Betrachtung sozialpsychologischer Art überführt werden, die den inneren Status der Opfer beschreibt, wie dies bei der erweiterten Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu beobachten ist, als es am Ende der 1970er Jahre zu einem Paradigmenwechsel (von der überwiegend rechtlichen Betrachtung zur inneren Befindlichkeit der Opfer von extremen Traumata) kam, zumindest in der nichtjüdischen Welt. Die jüdische Welt war da schon länger zweigleisig an Traumata durch Verbrechen herangegangen.

Aus verschiedenen Gründen nähern sich Definitionen eines Traumas an ein Phänomen an, das reichlich rätselhaft bleibt. Dem Begriff  des Traumas geht es wie dem Begriff der Identität, der psychologisch, soziologisch und umgangssprachlich jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Ganz vertrackt wird es, wenn wir eine traumatisierte Identität annehmen, weil sowohl Identität als auch traumatische Folgen Prozesse in ständiger Bewegung sind, parallel und sich kreuzend. Sie lassen sich nur mit Mühe in Momentaufnahmen festhalten, die dann aber keine Prognose zulassen.

Weil das Phänomen Trauma rätselhaft ist, erlaubt es Vermutungen, Spekulationen und Interpretationen, die auf ungesicherten Voraussetzungen basieren. Vor allem statistische Annäherungen entfremden sich vom konkreten Einzelfall. Allgemein tröstet uns: Erst durch diagnostische/therapeutische Intervention lüftet sich unter Umständen der geheimnisvolle Charakter eines Traumas. Bei seelisch-körperlichen Prozessen, die sich (noch) exaktem Wissen entziehen, ist man in hohem Maße auf Deutungen angewiesen. Im Rahmen einer Diagnostik von traumatischen Erlebnissen gilt die Ursache als festgelegt, wenn die Erzählung einer traumatisierten Person plausibel erscheint und Hinweise auf ein überwältigendes Erlebnis gewährt. Der Therapeut hat im Allgemeinen das Privileg des letzten Wortes zur Bedeutung eines Ereignisses, das als traumatisch eingestuft wird. Ist er kompetent, wird er das letzte Wort dem Klienten überlassen und nur den Weg dahin begleiten.

Was aber ist dies überwältigende Erlebnis, das einen Schock auslösen kann und bei einigen Menschen zu posttraumatischer Störung ihres Befindens führt? Dabei wollen wir die Frage noch unbeantwortet lassen, ob denn Befindensstörungen pathologisiert werden sollten, da sie doch nach der Definition nahezu jeder Mensch aufweisen kann, der bestimmten Gewalterlebnissen ausgesetzt ist. Wie sieht denn der störungsfreie Mensch aus? Ist er nicht furchtbar langweilig? Das Gute ist ohne das Böse nichts wert, und das Normale lässt sich ohne Störungen nicht bestimmen. Wir betrachten die Welt in Relationen. Wenn sich der Zustand dieser Welt in eines Menschen Wahrnehmung spiegelt und sich in der Seele genannten Formation behaust und einrichtet, dann kann es keine „Normalität“ geben oder die Welt, wie sie ist, bedeutet „Normalität“, es sei denn, wir flüchten in eine andere oder wehren uns gegen das „Normale“, weil sonst homogener Stillstand droht. Als „normal“ gilt dann, wer nicht wahrnimmt oder wer erfolgreich abwehrt und verdrängt. Es gibt dann kein „Verweile doch, du bist so schön“, weil die Bulldozer der Verdrängung vorandrängen und den Augenblick auf den Müll schieben, weil der Augenblick im nächsten Moment verlöscht wie eine Spur am Meeresstrand, die von der nächsten Welle überwältigt wird. Oh schreckliche Metapher!

Wenn man sich mit Blick auf „Trauma“ die definitorischen Bemühungen anschaut, die im Laufe der letzten hundert Jahre unternommen wurden, dann fällt auf, dass sie nicht an einem Strang ziehen. Vielmehr ist ein Kampf um die Definitionshoheit entbrannt, der in seiner Vielfalt Ratlosigkeit hinterlässt. Was aus dieser Vielfalt ist richtig? Wie viel Glauben und subjektive Bewertung wird durch die Vielfalt provoziert?

Solche Ratlosigkeit bezieht sich auf mehrere Beobachtungen: Nicht jedes traumatische Erlebnis führt in jedem Falle zu gravierenden Folgesymptomen. Es existiert also keine kausale Zwangsläufigkeit, die vom Ereignis zur Symptomatik führt. Die Fülle der Definitionen öffnet sich für Erweiterungen; sie sind daher im engeren Sinne keine Definitionen, sondern müssen eher Annäherungen genannt werden. Und der Anwendungsbereich der Definitionen überlässt den Diagnostikern subjektiven Spielraum, den sie zuweilen mit ihren eigenen Phantasien füllen.

Verwirrend wird der Traumabegriff durch die parallele Verwendung in Wissenschaft und Alltagsgebrauch: Danach ist Trauma (a) die Ursache für eine Verletzung, (b) die Verletzung selbst (die Wunde als Diagnose) sowie (c) vor allem die Folge einer Verletzung als Narbe oder prozessorales Geschehen. Diese Trinität entspricht in etwa dem gebräuchlichen zeitlichen Ablauf traumatischer Wahrnehmung: a) das verursachende Ereignis wird mit allen Sinnen wahrgenommen, b) die Zeit von der peritraumatischen Reaktion, d.h. der unmittelbaren (auch emotionalen) Stressantwort bis zum Abklingen oder zur Chronifizierung der Symptome (= rund 6-8 Wochen, auch als akute Belastungsstörung bezeichnet), c) das posttraumatische Marodieren von Symptomen oder von subsyndromalen Phänomenen auf der Basis von Angstimpulsen und Entwertungsgefühlen. In den Stadien a und b können durch Wiederholungen kumulative Effekte entstehen. Trauma löst sich im wissenschaftlich dominierten Feld vom konkreten individuellen Erleben und von einer Machtbeziehung hin zu abstrakten Sphären im Alltagsgebrauch: das Trauma des Krieges, das Trauma der Flucht und Vertreibung, das Trauma einer Niederlage, das Trauma der Erziehung, der Schule und der Ehe, womit jeweils ein unzulässig generalisierter Auslöser gemeint ist. Dadurch erfasst „Trauma“ fast alle Menschen und erweitert den Kreis potenzieller Klienten.

Mit epidemiologischem Interesse sind zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden, die das Ausmaß an Störungen und Gestörten einschätzen und prognostische Aussagen erlauben sollen. Sehr viele Studienergebnisse sind vage und kraftlos. Prävalenzen für posttraumatische Störungen zeigen in internationalen Studien sehr unterschiedliche Resultate: In Island und Hongkong ist die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft an Traumata zu leiden mit 0,6 deutlich niedriger als in der US-amerikanischen Population. Das liegt nicht an der kulturellen Verbreitung des Buddhismus in Island, und das liegt nicht nur an den Kriegen, die die USA führten, sondern stellt ein kulturelles und gesellschaftliches Problem dar, weil auch Frauen in den USA ähnlich erhöhte Prävalenzraten aufweisen wie Männer (12,3%, 13% resp. 6,2% oder 9,2% bei Männern und Frauen, je nach Studie), was auf die Frauenbewegung und den weiblichen Umgang mit erfahrener sexualisierter Gewalt zurückgeführt werden kann. Immer wenn gesellschaftliche Tabus ihren beschränkenden Charakter einbüßen, vollzieht sich in der Gesellschaft ein Wandel der Selbstwahrnehmung, der zuweilen auch aggressive Züge annehmen kann.

Begriffliche Abstraktionen entfernen sich vom eigentlichen traumatischen Geschehen, das ein Mensch erlebt und macht die Auseinandersetzung mit den Ursachen für Therapeuten überflüssig, wenn man sich allein den Folgen zuwendet, woraus ein moralischer Zugewinn resultiert, na, sagen wir: resultieren kann.

Ohne Zweifel wird man einräumen müssen, dass begriffliche Abstraktionen, welche die Wissenschaft aufbietet, heute durch multiplikatorische Medien so entstellt werden, dass sie wieder konkret werden, weil jeder sie benutzt und zu verstehen scheint. Darauf beruhen die evidenzgestützte Medizin und die meisten Methoden der Psychotherapie.

Freud hat sich ebenso wie Janet und die Psychoanalytiker der ersten Jahre mit Traumadefinitionen befasst. Bei der Lektüre Freuds (z.B. „Hemmung, Symptom und Angst“) lässt sich feststellen, dass die Beschreibung des Mechanismus Angst – Gefahr – Hilflosigkeit exakt den heutigen Grundlegungen entspricht. Das Auftreten emotionaler Reaktionen (Angst) vor der bewussten Wahrnehmung einer Gefahr und die konsekutive Hilflosigkeit sind in der aktuellen experimentellen Wissenschaft bestätigt worden. Freud hatte die Symptombildung nach extremen Gefährdungen als Abwehr beschrieben, die dem Schutz des Ichs dienen  und die Brüche in der Hirnbarriere verhindern oder mildern sollte. Kardiner in den USA verstand den posttraumatischen Prozess als Anpassungsversuch, der, wenn er misslingt, heute „adjustment disorder“ genannt wird..

Interessant ist wohl, dass die Psychiatrie als Spezialdisziplin sich im und nach dem I. Weltkrieg den Soldaten zuwandte bzw. zuwenden musste, die ihren „Dienst“ nicht mehr ausführen konnten. Zeitgleich in England, den USA, Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich, Italien übernahmen Psychiater die Funktion, zahlreiche Phänomene psychischer Reaktionen auf Kriegshandlungen wissenschaftlich zu ergründen und möglichst rasche Restitution zu bewirken. Im Allgemeinen ging es dabei nicht bei allen um ethisch begründbare ärztliche Handlungen. Die praktizierte Aversionstherapie verspielte bei den Soldaten den gesamten Kredit gegenüber Ärzten. Nach dem Vietnamkrieg begann eine Task Force US-amerikanischer Psychiater mit einer Systematisierung psychischer Krankheiten und Verhaltensstörungen, deren Überlegungen und Vorschläge 1980 dann im DSM-III vorgestellt wurden und dabei mit Bezug auf die posttraumatische Belastungsstörung den Blick vor allem auf Veteranen des Vietnamkrieges richteten. Übrigens: Bei der Bundeswehr sind derzeit 24 Psychiater auf 42 Stellen beschäftigt. Es scheint ein großer Bedarf zu bestehen, aber Bedarf an was?

 

Betrachten wir Trauma nach der Definition des DSM-IIIR. Sie hatte bereits einen Wandel eingeleitet, der vom DSM-III, der ersten standardisierten Nosologie psychiatrischer Krankheiten und Störungen des Verhaltens, bis heute andauert. Dadurch wurde die Definition nicht präziser, sondern drang in einer Kurvenlinie in das Alltagswissen ein, wo sie seit Jahrhunderten unter anderen Bezeichnungen bereits existierte: Schmerzliches Erlebnis, Katastrophe, Verlust oder niederschmetterndes Ereignis, Krankheit und Verletzung, Angst, umfassende und übermächtige Erregung usw. Alle diese Bezeichnungen stellten eine Beziehung zwischen einem äußeren Ereignis und der psychosomatischen Reaktion her. Allerdings ohne dem Gebietsanspruch der Psychologie zu genügen. Erst die Benennung als Trauma aber fokussierte auf das Individuum und seine Fähigkeiten zur Bewältigung dieser Beziehung sowie die feilgebotenen Empfehlungen einer Therapie durch Experten. Dadurch wurden vormals kollektive Rituale zur Besänftigung der Folgen von Unheil überflüssig. Das traumatische Individuum ging nun nicht mehr zum Geistlichen oder zur Beichte und berichtete von eigener Schuld oder Schuldanteilen, sondern es ging zum Therapeuten und beklagte (zu Recht) äußere Verursacher, die das psychische Innenleben in Unordnung gebracht hätten. Keine Konflikte zwischen Trieben, unsinnigen und unverstehbaren Gesellschaftsnormen und keine Dilemmata des existenziellen Status spielten fortan die entscheidende Rolle, sondern die Gewalteinbrüche aus der Umwelt, die Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit hinterließen. Das Konzept des Psychotraumas hatte somit einen tiefgreifenden Betrachtungs- und Perspektivwandel psychischer Verwirrungen eingeleitet und zu einer wissenschaftlichen Disziplin gemacht. Und das bezeichne ich durchaus als primären Gewinn, weil er Erkenntnis erweitert hat. Den sekundären Gewinn wird man dem Anschwellen therapeutischer Schulen, der Pharmaindustrie, den Berufsverbänden, den Medien, vor allem dem Boulevard zusprechen müssen. Kranke oder Verwirrte müssen sich mit dem tertiären Gewinn abfinden.

 

„Die Person hat ein Ereignis erlebt, das außerhalb der menschlichen Erfahrungen liegt, und für fast jeden stark belastend wäre.“

 

Eine heikle Definition, denn sie scheint von der Voraussetzung auszugehen, dass die Person bereits über entwickelte kognitive und differenzierende emotionale Fähigkeiten verfügt, mit denen sie Erlebnisse zu Erfahrungen machen kann. Für einen Säugling und dann für ein Kleinkind ist alles, was es neu erlebt, außerhalb seiner Erfahrung. Erst nach der sinnlich gestützten Integration kann aus Wahrnehmungen Erfahrung werden. (In der jüngsten Vergangenheit ist ein Streit entbrannt, ob Säuglinge und Kleinkinder ohne ein ausgebildetes Bewusstsein überhaupt traumatisiert werden könnten.) Daher ist in den neueren Ausgaben des DSM dem kindlichen Erleben von schockierenden Ereignissen, die später als Störungen imponieren, ein selbständiger Abschnitt gewidmet. Dadurch wird gegenüber dem DSM-III dreierlei anerkannt: Kinder haben (1) noch kein ausgebildetes Nervensystem, das Erlebnisse in Erfahrungen zu verwandeln gestattet, oder (2) die Wiederholung erschreckender Ereignisse in einer pathogenen Realität begünstigt eine Symptombildung oder (3) die beim Älterwerden zunehmende Einwirkung sozialer Kommunikation erzeugt erst das Selbstbild und das Bild von Realität, das von realen Erlebnissen erschüttert werden kann. Es ist ja ohne Zweifel von individueller Erfahrung im Definitionsversuch die Rede, denn ihr Mangel, Erlebnisse in Erfahrungen zu verwandeln, soll ja die therapeutische Inanspruchnahme begründen, was einer Entmündigung des sozialen Kontextes entspricht. Mit individueller Erfahrung ist das aber so eine Sache: Niemand kann ohne eine Andere oder einen Anderen überhaupt Erfahrungen machen, weder emotional noch sprachlich vermittelbare. Insofern ist das spezifizierende „individuell“ nur mit bedeutsamer Einschränkung zu gebrauchen. Es handelt sich zwar um einen individuellen Körper, der durch ein Ereignis stark belastet wird, die Folgen eines traumatischen Ereignisses werden als psychophysischer Prozess konzipiert, der Seele und Geist einschließt und Rückwirkungen auf den Körper verursachen kann. Dies ist ein komplett westlicher Ansatz, der Universalität beansprucht und daher missionieren muss.

Wenn Erziehung die Vermittlung systematisch geronnener und verstandener Erfahrungen ist und Erfahrungen von Erlebnissen abzugrenzen sind, weil den Erlebnissen noch die Durcharbeitung des Verstehens fehlt, dann ist der erste Teil des definitorischen Versuchs im DSM-IIIR von 1987 zumindest verwirrend. Etwas, das seit den Zeiten des Alten Testaments als innerhalb menschlicher Erfahrung beschrieben wurde, soll nun außerhalb stehen? Das bedeutet doch, dass die traumatischen Erfahrungen anderer Menschen erst zu personalen Erfahrungen werden, wenn das Individuum sie erlebt, und wenn sie den individuellen Erfahrungs- und Erwartungshorizont übersteigen können, dann scheint es sich um Traumata zu handeln. Somit würde Kommunikation, mit Intentionen gekoppelt, ihren Zweck verfehlen, was erkennbar ja auch sehr oft passiert. Aber hier bewegen wir uns an der Grenze von Gehorsam und Einsicht.

 

Im beispielhaften zweiten Teil der Traumadefinition werden dann die Ereignisse genannt, die außerhalb menschlicher Erfahrung liegen,

 

„z.B. ernsthafte Bedrohung des eigenen Lebens oder der körperlichen Integrität, ernsthafte Bedrohung oder Schädigung der eigenen Kinder, des Ehepartners oder naher Verwandter und Freunde; plötzliche Zerstörungen des eigenen Zuhauses bzw. der Gemeinde; oder mit anzusehen, wie eine andere Person infolge eines Unfalls bzw. körperlicher Gewalt vor kurzem oder gerade ernsthaft verletzt wurde oder starb.“

 

Hierbei handelt es sich unbestreitbar um für Menschen belastende Ereignisse, die in eine posttraumatische Belastungsstörung, deren Existenz weiteren definitorischen Kriterien unterliegt, münden können. Der Kreis der traumatisierten Menschen als Ursachen von Traumadefinitionen scheint eng um den aktiven Betrachter oder passiven Betroffenen gruppiert. Bilder von Realereignissen, z.B. Tsunami- oder Terroropfer oder ausgezehrte Flüchtlinge zählen in dieser selektiven Auswahl nicht dazu, weil ihnen nicht in gleichem Maße eine emotionale Anteilnahme gilt. Die Klassifikation reguliert folglich solche Fälle, in denen Betroffenheit resultiert und sortiert jene aus, die lediglich verbales Mitgefühl streift. Ausdrücklich werden im DSM-V, der neuesten Fassung, Grausamkeiten durch Filme, Videos, Bilder oder durch elektronische Medien als Traumaauslöser ausgenommen, außer bei Personen, die berufsmäßig damit umgehen müssen. Mich persönlich macht es betroffen, dass der Tod im Fernsehdauerbeschuss nur noch als Mord erscheint, womit der Tod allmählich den verrechtlichten Charakter eines Verbrechens annimmt.

Bestimmte Ereignisse, sagt man, tragen in sich bereits die Macht, die Zukunft eines Menschen festlegen oder einengen zu können. Im Falle traumatischer Erlebnisse sind allerdings nur negative Ereignisse angesprochen, weil auch die Geburt eines Kindes die Zukunft eines Menschen definitiv festlegt. Die begrenzende Festlegung der Zukunft ist somit nicht das Unterscheidungsmerkmal zwischen negativen und positiven Ereignissen. Auch die Veränderung der Persönlichkeit eignet sich nicht zur Differenzierung zwischen guten und schlechten Erlebnissen. Es kann daher nur das subjektiv empfundene Leiden sein, das Hinweise auf negative Erlebnisse zulässt, vor allem, wenn es andauert und konstanter oder wiederkehrender Verfolger wird.

 

Die Definition im diagnostischen und statistischen Manual der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung hat sich im Verlauf der letzten dreißig Jahre konstant erweitert. Sie ist vom Vorsatz getragen, Unklarheiten zu beseitigen und zusätzliche Beobachtungen einzufügen. Sie ist dadurch nicht präziser geworden. Vielmehr wurde der Kreis von betroffenen Personen erweitert und damit ein großes Netz über Störungen der Befindlichkeit und des Alltagslebens ausgeworfen, die  nun als Krankheiten mit einem vorerst noch unbekannten Pathomechanismus betrachtet werden und folglich nach Behandlung rufen, zugleich stigmatisieren können. Nun ist diese Form der Benennung einer Krankheit ohne Kenntnis des Entstehungsmechanismus nichts Neues: auch die Pest konnte als Krankheit benannt werden, ohne dass die Verursacher und ihre Wirkweise bekannt waren. Kenntnis des Pathomechanismus ist also nicht Voraussetzung, um ein Phänomen als Krankheit zu erklären. Allerdings sind die Grenzen zu bestimmen, die eine Krankheit zuverlässig von der Bandbreite der Befindlichkeiten abgrenzen, die als nichtkrank gelten und folglich keine Therapie, höchstens Korrekturen im Alltagsleben einfordern.

 

Abschweifung zum Burnout

 

Im Beispiel des so genannten Burnout haben sich die meisten Psychiater darauf geeinigt, dass es sich nicht um ein Phänomen handelt, das den Charakter einer Krankheit besitzt, weil die Symptomatik von Ausgebrannten so vielfältig ausfalle und verschiedenen Krankheitsbildern zugeordnet werden könne (z.B. Erschöpfungssyndrom oder Depression), dass eine genaue Abgrenzung als eigenständiges Syndrom verneint werden müsse, selbst wenn Kränkungen, Zumutungen oder Demütigungen in der Vorgeschichte stattfanden. Die Kardinalsymptome der posttraumatischen Belastungsstörung (Vermeidung, Übererregtheit, Flashbacks als Intrusionen) habe ich in anderen Artikeln als vielschichtig und keineswegs als Spezifika beschrieben. Es bedarf einer gewissen Willkür, die posttraumatischen Symptome allein und mit Sicherheit der Diagnose PTBS zuzuordnen, denn das Konzept der Komorbiditäten und anderer Dispositionen lässt durchaus alternative Deutungen zu. Weil bei der PTBS ein bestimmtes Ereignis als Auslöser zu eruieren ist, während beim Burn-out ein Prozess zur Symptomatik führt, sagt dies lediglich etwas über die externe Wahrnehmung aus. Prozesse sind wegen möglicher schleichender oder kumulativer Effekte deutlich schwieriger wahrzunehmen und als pathogen zu deuten als ein einmaliges (oder wiederholtes) extremes Ereignis. Dass PTBS in ihrer Symptomatik eine innere Verschränkung zur Depression zu haben scheint, belegt die unterstützende Pharmakotherapie, die von Hypnotika und Analgetika abgesehen, zumeist mit trizyklischen Antidepressiva erfolgt. Auch angstlösende Präparate kommen zum Einsatz, was den Eindruck vertieft, dass PTBS entscheidende Elemente von Angststörungen und der episodischen Depression entlehnt hat. Die Geschichte der klinisch gebrauchten Diagnose aus den Bedürfnissen der US-amerikanischen Militärpsychiatrie kann durchaus nahelegen, warum der neue Begriff 1980, also nach dem verlustreichen Vietnamkrieg, erfunden und der vertraute Begriff der „Angststörung“ vermieden wurde. Im selben Kontext verstehe ich die Pathologisierung der Vermeidung. Wenn Soldaten Gefahren vermeiden, ist ihre Haltung Teil einer Pathologie, die zudem stigmatisierend als Feigheit diffamiert werden kann. Psychologische Vermeidung bezieht sich immer begründet auf ein zuvor erlebtes Ereignis. Sie kann durch illegale oder befehlsgemäße Einnahme von Drogen unterdrückt werden, wie es zu allen Zeiten der Fall war und ist. Wenn die These stimmt, dass US-Militärpsychiater und andere zu einer Umdeutung von Angst und Vermeidung beitrugen, dann folgt daraus, dass sich militärische Erwägungen in die  Klassifikation psychiatrischer Diagnosen eingeschlichen hätten.

Zurück zum Burnout-Syndrom. Es schließt grundsätzlich das Erlebnis traumatischer Ereignisse und dessen Abschiebung ins Unbewusste keineswegs aus. Nicht nur, weil im Erwachsenenalter nahezu jeder Mensch Begegnungen mit überwältigenden und schwer verdaubaren Erlebnissen hatte. Es ist daher nahe liegend, die Symptomatik des Ausgebranntseins als eine Form der Identifikation mit traumatischen Erlebnissen, die menschlichem Verhalten entgegenstehen zu verstehen. Es ist also keineswegs nur die Identifikation mit der Arbeit,  den Betriebszielen oder idealistischem Selbstbild. Durch eine Übertragung der sinnlichen Wahrnehmungen aufwühlender Situationen auf eine symbolische Ebene kann im psychologischen Bereich eine Selbstbeschädigung durch Arbeit resultieren, was durch Zeitmanagement und (selbst-)ausbeuterische Strategien begünstigt wird, die den Wert einer Person aus seiner Ausbeutbarkeit bemessen. Es ist allgemeine Erfahrung, dass traumatische Folgen in Selbstschädigung münden können. Wenn man sich nun vor Augen führt, dass äußere Ereignisse in so mannigfaltiger Weise Symptome psychischer oder somatischer Art hervorbringen können, wird die sichere Zuordnung von Symptomen zu definierten Diagnosen sehr schwer und ist eigentlich nur mit willkürlichen Bestimmungen zu leisten. Die Art und Weise, wie Reaktionen auf eine pathologische und abstrakte Umwelt zu neuen Syndromen aufgefasert werden, macht es sehr schwer, an traditionellen Modellen und Erklärungsbemühungen festzuhalten. Die alten Versuche zu verstehen, wirken wie aus der Zeit gefallen. Dazu zählt in erster Linie das Modell des dynamischen psychischen Prozesses, das in westlicher Auffassung erst am Ende seiner Symptomausformung zum Therapeuten führt und nicht schon, wenn sich der Prozess noch im Frühstadium befindet, wenn er also vor der Fixierung der Symptomatik noch beeinflussbar ist.

 

Definitorische Dilemmata

 

Eine wissenschaftliche Bearbeitung ist bei allein subjektiv erlebten Wahrnehmungen nicht zu leisten. Wie sollte man, wenn man nicht den Utopien der Neurowissenschaften anhängt, forschend mit Flashback umgehen? Was heute noch als Krankheit zu bezeichnen ist, kann sich morgen in die Nichtkrankheit verschieben; und was heute noch als „normale oder grenzwertige Befindlichkeit“ betrachtet wird, kann morgen schon durch eine Vielzahl von neu hinzugetretenen Symptomen imponieren und den Weg in die Kataloge und Manuale finden. Die Grenzziehungen sind schwierig bis unmöglich. Es handelt sich eher um osmotische Prozesse, hinter denen Interessen vermutet werden können.

Im Ernst: Was soll man von einem Trotzsyndrom halten? Ist uns nicht allen eine Portion Trotz zu wünschen?

 

Trauma ist nach Fischer und Riedesser die Bezeichnung einer vitalen Diskrepanz zwischen den persönlichen Bewältigungsstrategien und bedrohlichen Situationsfaktoren. Die Einwirkungsintensität einer plötzlich und unerwartet eintretenden und willkürlichen Gewalt, die Hilflosigkeit und eine Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses hinterlässt, wird nicht explizit genannt. Möglicherweise ist die Intensität in der Differenz bereits enthalten, weil man davon ausgeht, dass ohne traumatische Erlebnisse ein Gleichgewicht zwischen Wahrnehmung und Verarbeitung besteht, was man für die meisten Menschen in Zweifel ziehen muss. Die Situation muss subjektiv als bedrohlich empfunden werden. Bewältigungsstrategien sind das Resultat sozialer Prägungen. Sie sind nur mit Vermutungen aus einer Biographie zu bestimmen. Dadurch kann jedoch kein Grenzwert bestimmt werden, wodurch ein Trauma von z.B. einer Kränkung getrennt wird, es sei denn durch mutwillige Grenzziehung. Mobbing wäre danach ein Trauma, wenn die Bewältigungsstrategien nicht ausreichen, um die willkürliche Gewalt einer sozialen und existenziellen Infragestellung zu neutralisieren und wenn die mit mobbing verbundenen Demütigungen als Bedrohungsszenarien wahrgenommen werden. Dabei ist nicht von Lebensgefahr die Rede, aber von der katastrophal empfundener Bedrohung der beruflichen und sozialen Existenz. Diese Differenz, die sich ja nicht automatisch enthüllt – wer kennt schon die Bewältigungsstrategien eines anderen Menschen? -, müsste man folglich durch Fragen und Gespräch im betroffenen Subjekt aufspüren, was die Gefahr willkürlicher und suggestiver Effekte durch therapeutische Personen erhöhen kann. So kann es schwierig sein, einem Blechschaden mit geringer Verletzung im Straßenverkehr den Charakter eines Traumas zuzusprechen. Wenn jedoch subjektiv eine Bedrohung des Lebens wahrgenommen wurde, kann eine Diskrepanz zwischen Situation und Bewältigung auftreten und durch versicherungsrechtliche Einflüsse verstärkt werden.

 

Küchenhoff hat den Begriff der Traumata verursachenden Gewalt durch den des Elends ersetzt. Das erscheint aus seiner Perspektive löblich, weil der Begriff des Elends subjektives Empfinden und soziale Genese sowie dessen Folgen in Verbindung bringt. Damit eröffnet er jedoch grenzenlose Horizonte für den Traumabegriff. Trauma entzieht sich einer Bestimmbarkeit. Aber was ist Elend? Es ist auch Armut, der Verlust an Würde und sozialer Sicherheit. Ist Elend eine Empfindung, die nach einem traumatischen Ereignis einsetzt oder ist Elend eine Zuschreibung der menschlichen Umwelt und scheinbar wertfrei? Elend ist nur durch Vergleich zu bestimmen.

 

Mein Vorschlag zur Diskussion

 

Um den inflationären Tendenzen des Umgangs mit dem Traumabegriff entgegenzutreten, will ich eine weitere Annäherung vorschlagen. Sie hat wie alle übrigen den Nachteil, dass sie ohne entscheidende subjektive Komponenten nicht auskommt. Die subjektiven Komponenten in Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung des Traumas sind nicht genetisch oder konstitutionell fixiert, sondern sind aus interpersonaler Kommunikation (nicht nur verbaler) entstanden. Lediglich der Impuls zu einem Überleben traumatischer Erlebnisse kann als biologisch programmierte Lebensbasis bezeichnet werden. Die jeweiligen individuellen Strategien fürs Überleben sind erlernte.

 

Trauma ist das Erlebnis, dem die Möglichkeit einer Negation von Wahrnehmung und Erkenntnis zugrunde liegt. Mit anderen Worten: Man sieht seinem physischen und psychischen Ende ins Auge. Trauma ist folglich, wenn man seine Vernichtung antizipiert, sich also vorstellt, nicht mehr in der Welt zu sein. Der Tod oder die Vernichtung als Möglichkeit, jeden sozialen Kontakt zu verlieren, kann durch unterschiedliche Reize aufscheinen, darunter durch Kriegshandlungen, schwere Erkrankungen und risikoreiche Operationen mit offenem Ende, todesnahe Unfälle. Es ist daher der Tod als allseits verdrängtes Thema, das die totale Negation vor Augen führt und das Bewusstsein übersteigt. Alles andere unterhalb dieser definierten Schwelle bereitet Kummer. Kummer tritt häufiger auf als Trauma, wie ich es verstehe.

Hierin enthalten ist, dass Trauma ein Erlebnis in der Biographie eines Menschen ist, das die Kontinuität des Lebens in erster Linie durch überwältigende Angst unterbricht. Das traumatische Erlebnis hinterlässt einen Menschen, der in wichtigen Dimensionen des Lebens ein ängstlicher Anderer geworden ist.

Aber ist man nach Enttäuschungen nicht auch ein Anderer? Können nicht manche elementare Enttäuschungen den Charakter eines Traumas annehmen? In ihrer auszehrenden Dauerhaftigkeit und ihren physiologischen Folgeprozessen? Der Enttäuschte sieht nach der Enttäuschung eine Welt ohne Täuschung, er sieht, zumindest in einigen Fragen, die Welt, wie sie ist. Er sieht die Hässlichkeiten, über deren Aussehen er sich zuvor Illusionen, sein „falsches“ Bild gemacht hat. Ein Teil seines Vertrauensvorrats, das positiven Erfahrungen entspringt, wird nun vom Misstrauen eingenommen. Emotional tritt eine Enttäuschung ein, wenn ein zuvor entwickeltes Bild durch ein anderes Bild zwangsweise ausgetauscht wird. Eigentlich möchte man an seinen Illusionen festhalten und sie schützen. Illusionen machen das Leben lebenswert, und sie stammen nicht aus den Individuen, sondern sind soziale Produkte wie das individuelle Bewusstsein, das zwar Sprache mit anderen verbindlich teilt, aber zu je unterschiedlichen Bewertungen von situationsbezogener Realität gelangt. Illusionen treten auf, weil sich ein Mensch im Spiel des Lebens befindet.

In welchen Dimensionen ist ein Traumatisierter denn ein Anderer geworden? Wenn man davon ausgeht, dass so genannte Identität nicht von Dauer ist, sondern sie ist eine gewordene, die sich in einer Wandlungsdynamik befindet, dann zeigt sich Traumafolge verwandt mit diesem Identitätsbegriff. Beide sind als Prozesse, als Wellenbewegungen ohne eindeutigen Abschluss zu verstehen. Wenn man sich diese Metapher gestattet, dann weiß man zugleich, dass jede Welle ihre Energie einbüßt. Das heißt, die Folgen von traumatischen Erlebnissen klingen allmählich ab. Ein anderer wird man, wenn die Anderen, mit denen man konfliktreiche Beziehungen eingeht, sich im Inneren einnisten. Eine Binsenweisheit, die aber stets besonders hervorgehoben wird: „Nach dem Ereignis war die Person nicht mehr dieselbe“.

Eine rationale wie emotionale Annäherung an extreme Traumata geht von der These aus, dass Menschen sowohl mit ihrem Verstand als auch mit ihren Gefühlen Wissen und damit Gewissheiten produzieren. Wenn beide Instrumente des Verstehens versagen, resultiert ein Prozess, der physiologisch und psychologisch generierte Symptome hervorbringt, welche die soziale Orientierung und das eigene Selbstbild in sozialen Bezügen verändern. Und dann entsteht also ein traumatischer Prozess, weil situative Ausschnitte der Realität nicht verstanden werden können. Man versteht nicht, dass Menschen einem so etwas antun, weder emotional noch rational. Das Trauma entsteht folglich, weil man die Realität, die einen verletzt, als Realität anerkennt, weil es sich somit um ein verwirrendes Dilemma handelt. Diese Herleitung ist für mich überzeugender als der Mechanismus eines extremen Erlebnisses, das wegen seiner Heftigkeit und Unerwartetheit zu einer Überwältigung des psychischen Korsetts der Integration, das alte Freudsche Modell, führt. Diese Modelle sind nur scheinbar verwandt. Die Differenzen liegen auch nur scheinbar im kognitiven Bereich des Verstehens. Bei meinem Erklärungsversuch geht es um die Bedingung, dass etwas, was noch nicht erlebt wurde, auch nicht verstanden werden kann, weder rational noch emotional. Ich stütze mich auf Beobachtungen von Kindern, die nicht verstehen, was ihnen noch nicht widerfahren ist. Der ihnen zugängliche Kontext erlaubt nicht zu integrieren, was nicht in irgendeiner Weise verständlich ist. Wenn man etwas, was auf einen eindrängt, nicht verstehen kann, sucht man nach Analogien oder Ähnlichkeiten oder Hinweisen aus bereits zuvor Erlebtem. Oder schlicht nach Erklärungen durch andere Menschen, Angehörige, Nachbarn oder Therapeuten. Das sind oftmals Menschen, die das erschütternde Ereignis auch nicht erlebt haben, aber ihre fehlende Erfahrung durch Vorstellungen und Sinngebungen ersetzen. Die traumatisierte Person ist geneigt, die fremden Sinngebungen zu übernehmen, weil sie nicht aus sich selbst Sinn findet. Sinn ist aber stets eine Zufügung oder Gabe der Anderen. Aus sich selbst kann niemand Sinn schöpfen. Sinn ist mithin ein soziales Produkt, und nur dieses kann überwältigt, erschüttert werden oder verrutschen und verloren gehen.

Sinn kann allerdings nicht ohne Strukturen verstanden werden. Sinn nach einem extremen Trauma (gemeinsam) zu finden, setzt äußere und stabile Strukturen voraus, die zu inneren Strukturen des Selbstverständnisses geworden sind. (Sinngebung ist wie Versicherungsschutz und traumatisches Gedächtnis immer nachrangig, außer in den Religionen.) Dies geschieht nicht in einem überall gleichen Maße. Es stellt sich nach der Einführung und Durchsetzung der Globalisierung und der Superiorität der Ökonomie über die Politik die Frage, ob Luhmanns Strukturen überhaupt noch gelten. Ist nicht vielmehr eine Form der permanenten Willkür im Spiel, die Strukturen des Verstehens und Handelns in atemberaubender Geschwindigkeit auflöst? Ist es vielleicht Zufall, dass die „neue Traumalehre“ mit der Einführung globaler ökonomischer Prinzipien zusammen fällt, mit neokolonialistischen und universellen Bemühungen, die von den USA ihren Ausgang nahmen? Globalisierung und Traumamanagement haben denselben Ursprung. Jedenfalls fällt auf, dass die registrierte Empfänglichkeit für psychische Verletzungen in dem Maße zunimmt, wie willkürliche Herrschaftsabenteuer in aller Welt ansteigen. Ohne Verschwörungstheorien zuzuneigen, lässt sich behaupten, dass man das psychische Trauma auch als zunehmenden Verlust bergender und stabiler Strukturen seit den 1980er Jahren verstehen kann, vielleicht sogar muss. Stabile Strukturen, wie sie in Institutionen, Arbeitsfeldern und durch begriffliche Bedeutungen bestanden haben, lösen sich von den Rändern her willkürlich und nur unter ökonomischen Gesichtspunkten einsehbar auf und hinterlassen Menschen, die auf erzwungene und willkürliche Struktureinbußen mit Symptomen reagieren. Das Symptom wäre somit die psychophysische Antwort auf fehlende Integrationsmöglichkeiten, wenn Verstehen nur in Strukturen (nicht nur, aber überwiegend sprachlichen) denkbar ist. Die Wahrnehmung solcher Einbußen hat Angstgefühle zur Folge, die wiederum die Vulnerabilität erhöhen. Dies lässt sich an den immer neuen Erfindungen von Störungen ablesen. Sie gründen in den Individuen, die allein die Verantwortung für solche Störungen zu übernehmen haben.

Nun hat das Neue immer schon zu einem Erwachen von Sehnsucht nach dem Alten und Vertrauten geführt. Der Unterschied liegt aber wohl in der Art und Weise, wie herz- und gefühlsloses Verhalten der Ökonomie (Massenentlassungen) und ihr Tempo für unausweichlich und alternativlos erklärt wird. Auch wird diese Brutalität zu einem neuen Strukturmerkmal, mit dem Individuen ihre Realität begreifen. Rücksichtslosigkeit und Brutalität werden zu inneren Ressourcen. Wo sich Strukturen des Verstehens und Handelns auflösen, entsteht ein Sicherheitsbedürfnis, das neue Zweige einer Sicherheitsindustrie entstehen lässt. Unsicherheit produziert die Vielfalt der definierten Störungen.

 

Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung unterliegt nach dem DSM-IV nicht nur Kriterien des Ereignisses (A1-Kriterium), sondern auch dem A2-Kriterium, das die Reaktion einer betroffenen Person mit intensiver Angst, Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen zeugenfrei beschreibt und für eine Diagnosevergabe fordert. Das Gefühl der Angst ist eng mit Hilflosigkeit verbunden, denn wer intensive Angst verspürt, ist erst nach einer kürzeren oder längeren Zeit in der Lage sein zu handeln und seiner Hilflosigkeit ein Ende zu bereiten. Die Hilflosigkeit folgt der intensiven Angst ebenso wie das Bewusstsein einer Gefahr, wie Freud schon feststellte. Dasselbe gilt wohl auch für Entsetzen. Furcht richtet sich auf eine konkrete Ereigniskonstellation und setzt nicht alle Handlungsoptionen außer Kraft, sondern kann sogar zu präventiven Überlegungen führen. Daraus ergibt sich für mich, dass die Folge einer Bedrohung sich in intensiver Angst ausdrückt. Dadurch wird die primäre Reaktion von Angst bestimmt, und sie ist auch leitend für den posttraumatischen Prozess. PTBS ist dadurch eine andauernde Angststörung.

 

Fassen wir das DSM-IV und DSM-V in ihren Ausführungen zur posttraumatischen Belastungsstörung zusammen. Dabei fällt auf, dass die unvollständige Sammlung von Kardinalkriterien unterhalb der Diagnose PTBS zu weiteren differentialdiagnostisch bedeutsamen Störungen führen kann. Wenn also die erforderlichen Kriterien für die Diagnose PTBS nicht gegeben sind, kann durchaus eine Behandlungsbedürftigkeit resultieren. Insgesamt erscheint PTBS (F43.1) umstellt von Erläuterungen, die im Detail zu differenzieren äußerst mühselig ist. Oftmals sind es geringe Unterschiede in den Hauptakzenten, die im DSM-V von F43.1 bis zu F43.9 reichen. So sind Angstsymptome zwangsläufig mit erhöhtem arousal verbunden. Wie aber soll man das Kriterium D1 einer PTBS von einer Angststörung unterscheiden?

Anpassungsstörungen sind die einzige Diagnose, die nicht das A1-Kriterium (Lebensbedrohung) erfordert, sondern Verluste oder Einbrüche im sozialen Bereich zum Auslöser hat (Scheidung, Arbeitsplatzverlust). Sämtliche sonstigen differentialdiagnostischen Syndrome spielen sich in der individuellen und subjektiven Psyche ab. Das wirft Fragen auf, Fragen nach einer Schuld, einer berechtigten wie unberechtigten. Eine „Schuldstörung“ gibt es aber nicht in den beschriebenen Syndromen. Diese Frage wird aus guten Gründen unbeantwortet gelassen. Sie ist weiterhin eine Domäne der Kirchen.

 

Exportgut PTBS

 

PTBS, so glauben nicht nur ExpertInnen und aufgeklärte Laien, beschreibe einen universellen Weg, den alle Menschen der Erde als Reaktion auf traumatische Erlebnisse beschreiten (E. Watters, The New York Times, 12.8.2007). Der innere Zwang psychotherapeutischer Experten, psychische Muster zu universalisieren und damit zu normieren, unterschlägt die Entstehung dieser Muster aus sozialer Kommunikation und fordert fälschlich die homogene individuelle Reaktion auf schreckliche Erlebnisse. Watters zitiert einen Traumaexperten der California State University, Gaithri Fernando, der sich nach dem Tsunami 2004 in Sri Lanka aufhielt: „Es waren keineswegs die Alpträume oder Flashbacks, die von der Katastrophe betroffene Menschen beschäftigten. Die tiefsten psychologischen Wunden für Sri Lanka-Bewohner standen nicht auf der PTBS-Checkliste, sie resultierten aus dem Verlust oder der Verwirrung der eigenen Rolle in der Gruppe.“ Das muss auch für Regionen des Vorderen Orients, z.B. Kurdistan, angenommen werden, in denen die kollektive Identität die individuelle Identität formt, bestimmt und leitet. Sowohl für Afrika als auch für den indischen Subkontinent, sehr wahrscheinlich auch für Ostasien, darf man andere kulturell präformierte Muster der Bewältigung von extremem Stress unterstellen, die in keinem Handbuch für PTBS verzeichnet sind. Allan Young sarkastisch: „PTSD has become psychiatric Esperanto. It may turn out to be the greatest success story of globalisation“. PTBS erscheint auch für Young als reale Verletzungsfolge im seelischen Bereich, aber nicht überall und zu jeder Zeit.

Der plumpe Export einer Idee oder Konzeption von einem Kulturkreis in einen anderen mag in einer globalisierten Welt für technische Innovationen gelten, nicht aber für psychosoziale Reaktionen auf gesellschaftlich hervorgerufene Stressoren. Diese Reaktionen haben im Allgemeinen eine höhere Trägheit gegenüber Veränderungen, und sie verweisen auf eine gesellschaftliche Produktion von Strategien zur Bewältigung traumatischer Erlebnisse und zuvor bereits auf die Zuordnung von Bedeutungen traumatischer Ereignisse, was zwangsläufig auch andere therapeutische Schritte impliziert, als sie in westlichen Zivilisationen angebracht erscheinen. PTBS ist eine zutiefst westliche Konzeption, wo sie durchaus ihre Berechtigung hat. Als Exportgut ist sie untauglich, nachdem sich herausgestellt hat, dass in anderen Kulturen zahlreiche posttraumatische Symptome auftreten, die in den westlichen Manualen nicht verzeichnet sind. Symptome im seelischen Bereich oder Verhalten werden auch durch die jeweilige Kultur und Geschichte geformt, nicht nur durch die Intensität oder Art einer Gewalteinwirkung. Sie haben nicht überall dieselbe Gestalt. Das gleiche gilt für den Impuls von Helfern, bei Katastrophen in fernen Regionen seelischen Beistand anzubieten. Dieser Impuls entspringt einer christlichen Prägung, dem Gebot der Nächstenliebe und dem Missionsgedanken, der im Falle posttraumatischer Folgephänomene nichts anderes bedeutet, als die Überlegenheit des westlichen Wissens in altruistisch erscheinende Verpackungen zu wickeln, frei von präzisen Kenntnissen von gewachsenen Traditionen.

Zwar kann der euroamerikanische Einsatz von Empathie und konkreter Unterstützungsbereitschaft für traumatisierte Personen hilfreich sein, als Methode der Diagnostik verfehlt PTBS ebenso wie die damit verbundenen Therapien in fernen Kulturen ihre Ziele. Ethan Watters fragt als Bilanz nach dem massenhaften Einsatz von Beratern und Traumaforschern in seinem Artikel („Suffering Differently):“ Were they bringing the wrong treatment to the wrong people?

         Selbstverständlich ist es ziemlich einseitig, sich dem menschlichen Trauma allein von den vorgefertigten katalogischen Beschreibungen zu nähern. Wir haben aber als Grundlage diese geronnenen Beobachtungen zu akzeptieren, weil sie unser Bild von Wissenschaft festlegen. Der Sprung aus diesen Vorschriften fällt zwangsläufig sehr schwer. Jeder Therapeut sollte ihn aber versuchen.