Ein Versuch

 

Ein Kontinuum ist in diesen Überlegungen kein technisches Problem, das auftritt, wenn man die Intensitäten von Gewalt/Macht graphisch veranschaulicht. Es handelt sich folglich nicht um eine alternative Systematik. Es ist in erster Linie eine andere Betrachtung psychosozialen Befindens als verwobenes Resultat eines lebendigen Lebens, zu dem alle erinnerten oder verdrängten negativen Erlebnisse gehören.

Als zentrale Wirkung eines extremen Gewalttraumas ist die nachhaltige Demütigung anzusehen, die wie ein Maulwurf oftmals die zukünftigen Handlungsoptionen aushöhlt. Wenn man von extremer Demütigung spricht, dann impliziert dies weniger extreme Varianten, die über längere Dauer zu kumulativen Wirkungen führen können und das Muster bilden, in das eine extreme Demütigung  eingepasst wird. Integrieren, d.h. Einpassen und Abgleichen, bedeutet aber nicht zwangsläufig Verstehen.

Die weniger extremen Demütigungen werden landläufig nicht in einen Störungskanon aufgenommen, weil der provozierte Stress jeweils schneller und ohne langfristige Symptome abklingt als der extreme Stress. Das darf man als willkürlich bezeichnen. Die so genannten unterschwelligen Stressbilder können jedoch (als Hypothese) kumulative Effekte hervorbringen, deren Ursprung oft nicht mehr erinnerbar ist, obwohl sich der gesamte Körper ein Gedächtnis von diesen Ereignissen geformt hat.

Indem die extreme Demütigung als eine Hauptwirkung von Gewalterlebnissen im klinischen Bereich angesiedelt wurde, konnten die unterschwelligen Demütigungen nicht Gegenstand klinischer Aufmerksamkeit werden. Zu letzteren zählen Strafmaßnahmen, Vernachlässigung, Zurücksetzung, Schuldzuweisungen, erzwungene Konkurrenz und ähnliche soziale Muster, die den Wert einer Person verringern und ein defizitäres Selbstbild erzeugen. Es handelt sich stets um Eingriffe in die Subjektivität, zu der auch alle sozialen Impulse des Individuums zählen. Solche wiederholte Verformungen der Subjektivität können als Ergebnis eine Persönlichkeit mit verminderten sozialen Qualitäten hervorbringen.

Mein Interesse gilt also den Verletzungen und Demütigungen, die jeder Mensch unterhalb eines Schwellenwertes zum Klinischen erlebt, von wo sie erst durch Summationseffekte Symptome bilden können. Jedes einzelne Erlebnis scheint verdaubar, indem es verdrängt oder scheinbar vergessen wird. Wiederholt haben einige Forscher gefordert, die psychosozialen Verletzungen durch negative soziale Kommunikation und Machtdemonstration sollten auf einem Kontinuum verzeichnet werden, um den prozesshaften und additiven Charakter der jeweiligen Wirkungen besser einordnen und vielleicht verstehen zu können. Das Kontinuum erstreckt sich von der Kränkung über die religiöse und politische Verfolgung bis zur Folter.

Ich stimme dem aus zwei Gründen zu. Ein Kontinuum vermeidet die willkürliche Setzung von psychosozialen Verletzungen mit klinischer Relevanz in Abgrenzung von solchen, die für irrelevant erklärt werden, weil sie keine unmittelbaren Folgen zeigen. Ferner vermeidet ein Kontinuum eine Hierarchisierung von Symptomen, die bei der Beurteilung von Subjektivität keine Rolle spielen sollten, weil niemand außer der betroffenen Person sicher die individuelle Schädigung erfassen kann. Die Bedrohung des Lebens und die Bedrohung der sozialen Rolle und sozialen Existenz sind gleichfalls auf einem Kontinuum festzumachen, ohne die Unterschiede zu verwischen, denn das Leben ist die Bedingung für eine soziale Existenz, durch die Werte und Normen vermittelt werden, deren Verletzungen und Missachtung als Demütigung wahrgenommen werden. Leben ist zuweilen ein Ritt auf einer ungenügend gepolsterten Klinge.

Wenn alltägliche Demütigungen und Verletzungen als ein psychosoziales inneres Kontinuum verstanden werden, die an einem Ende die schamerzeugende Zurechtweisung aufführt und am anderen Ende ein extrem traumatisches Ereignis markiert (z.B. ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung oder auf die Gedankenfreiheit), dann erleichtert diese Betrachtung ein Urteil über eine Biographie und macht sich nicht abhängig von einem Ereignis, das klinische und menschenrechtliche Dimensionen aufweisen kann. Epidemiologische Studien in den USA und in Kanada haben erwiesen, dass ein Durchschnittsleben mehrere traumatische Erlebnisse aufweist, die durch ihre ausreichende oder ungenügende Bearbeitung zum Teil der Persönlichkeit werden und unter Umständen eine therapeutische Stützung einfordern. Eine Wahrnehmung von Demütigungen auf einem Kontinuum betrachtet ein Leben und nicht ein Ereignis, hat allerdings eine bewusste Selbstwahrnehmung zur Voraussetzung. Die meisten solcher „kleineren“ Demütigungen werden rasch verdrängt, was nötig wird, damit man sich nicht dauerhaft und erstarrend mit ihnen befasst. Allerdings sind sie nicht „gelöscht“. Jeder Mensch besteht in seinem Habitus und seinem psychischen Ausdruck wesentlich aus verdrängtem Material. Ein Kontinuum zeigt zudem auf den gesellschaftlich-sozialen Rahmen, aus dem psychosoziale Verletzungen und Demütigungen hervorgehen,

Wenn man Menschen anamnestisch befragt, was ihnen an Widrigkeiten in ihrem bisherigen Leben begegnet ist, so erhält man eine Fülle von Berichten über kleinere und mittlere psychosoziale Verletzungen in Elternhaus, Schule, Vereinen mit Wettbewerben, d.h. Rivalität. In allen diesen Institutionen kann man soziale Kompetenz von Erwachsenen lernen oder durch ihr Verhalten verlernen. Rivalität, d.h. Produktion von Verlierern, wird evolutionär und daher als natürlich erklärt, weil man sie auch bei Tieren findet. Für friedliche Koexistenz ist sie schädlich und unnütz.

Auch die „kleineren“ Verletzungen (wer definiert sie?) enthalten nach meiner Erfahrung die qualitativen Charakteristika eines Traumas, wenngleich von kürzerer Dauer und geringerer Energie. Die Intensität einer Macht/Gewalt scheint somit über den weiteren Verlauf einer Demütigung zu bestimmen, ob also poststressige Symptome gebildet werden und in welcher Ausformung. Das mag für einmalige traumatische Erlebnisse mit Gewalt/Macht zu gelten. Unter Berücksichtigung eines vorausgegangenen Lebens mit „kleineren“ Demütigungen zeigen Menschen sehr unterschiedliche Wege zu Symptomen oder zu deren Vermeidung. Entscheidend für die Ausbildung gravierender Symptome scheint die permanente innere Abwehr von und Auseinandersetzung mit den Handlungen und Motiven von Tätern zu sein. Dabei geht es um eine Sinnsuche (warum macht der/die das mit mir?).

Die Berücksichtigung „mildernder Umstände“ in Gerichtsverfahren nimmt die Betrachtung eines Lebens als Quelle von Verletzungen und Ungerechtigkeiten auf. Angeklagte und Verteidiger machen geltend, dass eine strafbare Handlung das Resultat eines Kontinuums von psychischen Verletzungen sei, zumindest von ihnen beeinflusst wurde. Insgesamt sind wir alle das Ergebnis eines Kontinuums, in das sich Bruchstellen und Verwerfungen, für die nicht immer eine personelle, vielmehr eine strukturelle Verantwortlichkeit benannt werden kann, eingelassen haben. Vielen gelingt es nicht, die erlebnisbedingten Bruchstellen zu vermeiden.

Ich denke also, dass die Betrachtung eines verletzten Lebens als Kontinuum die Konzentration auf ein Ereignis vermeidet und daher ein Leben vor und nach einem extremen traumatischen Erlebnis konzipieren kann, wobei man sich im klaren sein darf, dass eine Sicherheit in der Beurteilung der vielen Einflüsse nicht zu erreichen ist.