(Nach anregender Lektüre)

 

Wir haben uns in der Vorstellung eingerichtet, dass traumatisierte Flüchtlinge ausschließlich als Opfer von Gewalt/Macht zu betrachten seien, obwohl sie mit ihrer Flucht dem Opferstatus partiell entronnen sind. Flucht ist eine adäquate Reaktion auf bedrohliche Auslöser. Ein differenzierter Widerstand vor, während und nach der Flucht wird von einigen Therapeut*innen thematisiert, wenn sie auf der Suche nach Ressourcen und Resilienz bei Klient*innen sind. Dennoch legitimiert die unterstellte oder wahrgenommene Bedürftigkeit die vorwiegende Betrachtung als Opfer. Die rhetorische Änderung des Opfers in eine überlebende Person im Machtgefälle der therapeutischen Situation kann keine andere Betrachtung als die eines Opfers hervorbringen, weil in unserem Denk- und Sprachsystem die leidende Person stets als Opfer illegitimer Gewalt konzipiert wird. Einer solchen einseitigen, oftmals lebenslangen  Festlegung soll hier mit einer anderen Akzentuierung widersprochen werden. Es geht folglich darum, die Selbstwahrnehmung von Flüchtlingen in eine Beziehung zur Fremdzuschreibung zu bringen. Im Allgemeinen passen diese beiden Sichtweisen nicht zueinander.

Die psychotherapeutische Konzentration auf den Opferaspekt bei traumatisierten Flüchtlingen könnte seine Berechtigung erhalten, wenn man die Flucht als Vermeidung von Widerstand bewertet, als hilfloses Ausgeliefertsein und biologischer Reflex, dem bewusste Akte fehlen. Jede Flucht aus gewohnten und sicheren Bezügen bedeutet Verlust. Flucht und Neubeheimatung kann jedoch auch als Entzug von menschlicher Ressource und von Fähigkeiten sowie Wissen gedeutet werden, als notwendige und bewusste Entscheidung vor allem, wenn Flucht massenhaft stattfindet. Die Menschen als Flüchtlinge stellen einem Regime oder gewalttätigen Machthaber ihre Leben mit allem, was dazu gehört, nicht mehr zur Verfügung. Sie wollen nicht mehr Verfügungsmasse willkürlicher Handlungen sein. Der Zweck, der ihnen aufgezwungen wird, macht sie zu Objekten. Mit der Flucht erobern sie sich wieder den Subjektstatus. Iris Därmann hat diese Verweigerung am Beispiel der Sklaverei als Undienlichkeit beschrieben. Flüchtlinge, die sich entziehen, unterscheiden sich von jenen, die weiterhin, dem Regime zustimmend, ausharren. Das bedeutet, dass neben der Sicherung des eigenen Lebens im nahen oder fernen Hintergrund ein gewisses Potenzial an Widerständigkeit und Verweigerung angenommen werden kann. Dies gilt besonders, wenn Betroffene im Exil sich politisch engagieren.

Die jüngste Ausgabe von „Mittelweg 36“ beschäftigt sich mit den differenzierten Formen von Widerstand, die unterhalb der Schwelle zur Revolution, des Umsturzes und der Rebellion liegen und die nicht nach ihren Erfolgen bemessen werden können, weil sie nach Foucaults Worten zwangsläufig erscheinen, wenn Gewalt/Macht willkürlich ausgeübt wird, ja die Macht erschafft notwendig Gegenmacht. Widerstand ist folglich überall dort zu finden, wo Menschen von illegitimer Gewalt betroffen sind, gleichsam als menschliche Zwangsläufigkeit. Widerstand findet seinen Ausdruck individuell in sehr unterschiedlichen Formen und prägt eine Biographie. Daher können Normenverstöße im Sinne von kriminellen Handlungen nicht als Widerstand gewertet werden, weil ihr Zweck im Selbstbezug liegt und ein Beispiel oder Vorbild in einem notwendigen sozialen Sinne nicht erreicht wird.

Unterhalb der Schwelle zum organisierten Widerstand existiert die Kategorie der Zivilcourage, die im Privaten oder öffentlichen Raum stattfindet, Mut erfordert und die Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen. Jan Philipp Reemtsma hat dies treffend beschrieben. Zivilcourage tritt ebenso für „höhere“ moralische Werte ein wie der selbstaufopfernde Widerstand gegen Tyrannen. Es ließen sich die unterschiedlichen Formen von Widerständigkeit durchaus auf einem Kontinuum feststellen und festhalten, wodurch eine Dynamik des Widerstands angenommen würde, die zum Verständnis von Entwicklungen in die Richtung eines situativ und spontan gesteigerten Widerstands beitragen könnte.

Die Gründe für oder gegen unterschiedliche Formen von Widerständigkeit sollen hier nicht erläutert werden. Sie sollten als individuell adäquat akzeptiert werden. Hier soll es um das sinnvolle Aufspüren von Widerständigkeit im Leben von traumatisierten Flüchtlingen gehen, was zur Verdrängung der Opferrolle beitragen wird, wie meine Erfahrungen mit politischen Flüchtlingen mich gelehrt haben. Die Qualifikation als Widerstand ist ein bedeutsamer Teil von Stabilisierung und Anerkennung. Wer einer absoluten Macht/Gewalt ausgeliefert ist, wird oft der absoluten Ohnmacht übergeben. Aber wohl nicht in allen Fällen. Ein kurdischer Flüchtling gab auf die Frage, ob man ihn im Folterverhör elektrisch traktieren solle, zur Antwort: “Das weiß ich nicht. Ihr seid die Fachleute.“

Widerstand ist somit der graduell unterschiedlich abgestufte Erhalt der eigenen Würde trotz aller Versuche, diese zu zerstören. Das Gleiche gilt für Sprechen mit Mitgefangenen trotz Verbots oder die Hilfestellung  an verletzten Gefangenen oder das Teilen der Minirationen, die jeweils dem Vernichtungswillen entgegengesetzt werden.

Die Emanzipation aus dem Opferstatus ist das zentrale Ziel von kommunikativer Behandlung, damit die vom Betroffenen wahrgenommene und einverleibte Fremdzuschreibung als Opfer sich nicht dauerhaft in einer traumatisierten Person absiedelt. Dazu erscheint es erforderlich, den unterschiedlichen Formen der Widerständigkeit die Anerkennung nicht zu versagen. Wenn man die unterschiedlich gewichteten Widerstandshandlungen auf einem Kontinuum verzeichnet, dann ergibt sich ein individuell generiertes Muster an Mut und Widerstand. Historisch tritt ein Bewusstsein in den Vordergrund, dass die willkürliche Macht/Gewalt gerade die Katastrophen produziert, die sie verhindern will.

Beispiele:

Zwangsarbeiter in Nazideutschland haben die Produktion „kriegswichtiger“ Waffen verlangsamt oder sabotiert und dadurch einen Nahrungsentzug provoziert.

Deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter in Rüstungsfabriken der Nazis ließen sich, ohne krank zu sein, krankschreiben, weil sie sich nicht dem Regime ohne Pausen zur Verfügung stellen wollten und den Krieg nicht verlängern wollten.

Ludwik Fleck, ein polnischer Biochemiker und Arzt im öffentlichen Gesundheitswesens, der nach Buchenwald verschleppt worden war, wurde beauftragt, einen Typhus-Impfstoff für Angehörige der SS herzustellen. Als er mit der Produktion größerer Mengen begann, impfte er etliche Gefangene des Lagers mit wirksamer Vakzine und sandte wirkloses Material an die SS.

Zwei Frauen, die in einer U-Bahn zu Zeugen einer Attacke zweier Rassisten gegen einen iranischen Flüchtling werden, werfen sich schreiend zwischen Angreifer und Flüchtling, bis sich die Rassisten ablassen.

Wer Verbrechen des Staates oder von Unternehmen veröffentlicht, wie es so genannte whistleblower machen, setzt sich über Staatsloyalität, Amtseide und Verschwiegenheitsverpflichtungen hinweg. In diesen Fällen drohen inadäquate Sanktionen, obwohl sonst Anzeigen von Verbrechen zu den Bürgerplichten zählen. Die Anonymität der whistleblower steht gegen die Anonymität, die Verbrecher in Anspruch nehmen.

Im Zusammenhang mit Unterstützungshandlungen für afroamerikanische Sklaven soll auf das Beispiel der Harriet Tubman verwiesen werden.

Die Begleitung von Flüchtlingen zu Behörden und Institutionen enthält einen präventiven Aspekt, weil willkürliche Handlungen und abwertende Bemerkungen dadurch verhindert oder gelindert werden können.

In diesen Beispielen drückt sich die individuelle Bandbreite widerständigen Verhaltens aus. Sie zeigt sich im Arbeitsalltag und in Begegnungen mit Machtverhältnissen, damit diese nicht vollständig zu Ohnmachtsverhältnissen werden.

Nun ist die Situation von Häftlingen und Gefangenen zu unterscheiden von einer Haltung, die als freie Entscheidung und unter Inkaufnahme von Sanktionen den Mut zur Zivilcourage aufbringt. Die selbstbezogene Entscheidung stellt bei Flüchtlingen zuerst Distanz zur Aufnahmegesellschaft her, vertraut der sprachlich gewohnten Umgebung von Landsleuten im Exil, sucht Haltepunkte in der Steilwand des Exils. Die Distanz hat nichts mit Trauma zu tun. Es ist die natürliche Reaktion auf Unbekanntes. Wer Distanz aufgibt, entwickelt allmählich Vertrauen. Das gilt für beide Seiten und setzt wohlwollende Erfahrungen voraus.

         Wenn ich mich an vergangene Supervisionen erinnere, dann fällt mir auf, dass dabei unvollständige Fälle vorgestellt wurden, die in der Betonung von Leidenssymptomen die legitime Berechtigung zur Therapie von Opfern begründeten. Die Tendenz zur Widerständigkeit, die auch im Körper und in der Persönlichkeit lag, hatte - wenn überhaupt - eine marginale Rolle. Daher möchte ich anregen, diesem Aspekt einen größeren Raum zu geben. Klinische Sichtweisen mögen sich auf posttraumatische Symptome richten. Humanitäre Betrachtungen benötigen ein umfassenderes Bild einer Person und eines Subjekts. Wer aufrichtig traumatisierte Flüchtlinge aufrichtet, kann darauf nicht verzichten.