Vom Spiel der Argumente im interessegeleiteten Wissenschaftsbetrieb
Das Leiden an politischer und rassistischer Verfolgung und Lebensbedrohung ist in den Fokus der epigenetischen Forschung geraten. Mit spannungsgeladener Erwartung erhofft sich ein kleiner Teil der psychotherapeutisch Tätigen Belege für die These, dass extreme Traumata, wenn sie sich über lange Perioden hinziehen, in einem Prozess epigenetischer Methylierung zu einer Vererbung auf die folgende Generation führen (können), indem spezifische Genexpressionen in ihrer phänomenologischen Funktion gebremst, stimuliert oder ausgeschaltet werden. Extreme Traumata würden dadurch ein lebenslanges Brandzeichen erreichen, das durch Genetik vererbt werden könne. Die Linderungsstrategien durch Psychotherapie würden begrenzt ausfallen, weil die zentrale Phänomenologie des Leidens determiniert sei und das geheime Leben des Traumas verborgen bliebe.
Extreme Traumata erzeugen posttraumatisch in zahlreichen Fällen ein komplexes Leiden, in dessen Kern Demütigung, Ohnmacht und existenzielle Bedrohung stehen. Über den mit dem traumatischen Erlebnis verbundenen Schmerz erhält das traumatische Ereignis einen dauerhaften Charakter im individuellen Gedächtnis einer von Macht/Gewalt betroffenen Person. Das heißt, die Merkmale einer Opferkarriere sollen vererbbar sein, während die Merkmale einer Täterkarriere durch Beispiel, Imitation kommunikativ erfahren und dann praktiziert werden. Die Opferperspektive trifft einen Menschen plötzlich und unerwartet, die Täterperspektive setzt einen aktiven und bewussten Entschluss voraus.
Dieselben Traumatherapeuten, die vererbbare Einflüsse von Traumatisierten auf die nachfolgende Generation wünschend behaupten, weigern sich, in Betracht zu ziehen, dass jahrhundertealter Machismo und männliche Herrschaft vielleicht auch vererbbar seien. Oder hat die individuelle Unterwerfung unter das kapitalistische System nicht auch zu vererbbaren Veränderungen in den Genen geführt? Es handelt sich um prägende Einflüsse aus dem gesellschaftlichen Raum, die biologische Prozesse in Gang setzen. Und wenn wir diesen beiden Herrschaftsformen, der männlichen und der kapitalistischen, eine immanente Gewalt unterstellen, die eine posttraumatische Symptomatik (vor allem wegen der langen Dauer) in komplexer Weise hervorbringt, dann erscheint die Frage berechtigt, warum in diesen Fällen eine Vererbbarkeit mittels Epigenetik ausgeschlossen sein soll.
Wir haben der Kontroverse Epigenetik vs. kulturelle Formung kürzlich ein Remis zugesprochen. Nach den hier geäußerten Zweifeln scheint die kulturell-kommunikative Erklärung die Führung zu übernehmen. Dabei spielt die genderspezifische Orientierung der Forschung eine stützende Rolle. Es erscheint eigenartig, dass biologische Varianten der Vererbung vor allem im Nebenhoden von Männern untersucht wurden, als seien Männer in ihren Genexpressionen bevorzugt von traumatischen Erlebnissen betroffen, was Frauen als Opfer von männlicher Herrschaft zu energischem Widerspruch provozieren muss. Das bedeutet, Geist, Denken und Fühlen haben sich im landläufigen Wissenschaftsbegriff eingenistet, folgt man Mario Erdheim. Und das impliziert selektive Blindheit gegenüber den möglichen Forschungsgegenständen, die allein durch einflussreiche Interessen und Interessenten formuliert werden. Es ist auch ein Märchen, dass Grundlagenforschung frei von Interessen erfolgt. Heute ist Geld der Motor, nicht die Beseitigung von Unkenntnis.
Die Argumentation pro kulturelle Formung bedient sich ex negativo solcher Gründe, die noch wesentlich weiter ausgreifen würden, wenn man sich vom Fokus auf epigenetische Prozesse verabschiedet. Emotionale Befindlichkeiten, die über längere Zeiträume posttraumatisch andauern, werden aus Beobachtungen in willkürlicher Art biologisiert, weil damit ein Zweck verfolgt wird. Dieser Zweck kann sich auf öffentliche Anerkennung, Biopatente und/oder Entschädigung von Leiden beziehen. Der Zweck stellt eine Kausalität her, die in ihrer biologischen Gesetzmäßigkeit Bedenken auslöschen soll, obschon es eine lineare Kausalität im Feld traumatischer Erlebnisse nicht gibt, wenn man einräumt, dass eine Lebensgeschichte die Elemente zur Verfügung stellt, aus denen im Wesentlichen sich eine Disposition zusammensetzt. Gewisse Dispositionen werden vorschnell einer genetischen Vorformung zugeschrieben, die aus Beobachtungen und Statistiken gewonnen wird. Sie tragen eine Befreiung von Verantwortung in sich und sind deshalb mit Zurückhaltung zu betrachten.