Endgültige Erkenntnis muss warten lernen

 

Kürzlich wollte ich von einem Kommunikationswissenschaftler wissen, welches seine Position zur Frage sei, ob biologische oder kommunikative Gründe im Vordergrund stünden, wenn es um die Einflüsse traumatischer Erlebnisse von einer Generation auf die folgende ginge. Er überlegte kurz, dann entwand sich ihm ein Seufzer: Zwei sehr unterschiedliche wissenschaftliche Felder mit unterschiedlicher Methodik durchbohren den Berg der Unkenntnis wie Tunnelbauer aus entgegengesetzten Richtungen, treffen sich jedoch nicht, meinte er pathetisch. Die Felder sind keine Konkurrenten, können es gar nicht sein; die Konkurrenz spielt sich innerhalb der Felder ab. Kritik kann nur aus demselben Feld und mit denselben Methoden geäußert werden. Der Bäcker kann den Schuster nicht kritisieren, weil er Lederwaren statt Teigprodukte herstellt, was Chaplin in „Goldrausch“ widerlegt.

Er fand die Ergebnisse der epigenetischen Forschung noch viel zu mager, um als Erklärung für die intergenerationale Transformation von Trauma zu dienen. Trauma als multiple Wahrnehmung sei so komplex und löse in sehr unterschiedlichen Abschnitten der Gene Effekte aus, dass ein Abschaltmechanismus im Sinne einer Methylierung in und durch die Begleiteiweiße des Gens zeitgleich einsetzen müsse, um eine extremtraumatische Erfahrung für eine Vererbung auf die folgende Generation durch Verstärkungs- oder abschwächende Mechanismen zu präparieren. Zeitgleiche Effekte in der epigenetischen Reaktion auf traumatische Erlebnisse setzten eine koordinierende Instanz oder intensive Botendienste voraus, deren funktionelle Existenz nicht erwiesen sei. Wenn es um ein einziges Merkmal ginge, sei der Abschaltmechanismus nachvollziehbar. Bei komplexen lebensbedrohlichen Ereignissen müsste die Energie des „Überlebenstriebes“ für eine Koordination sorgen, was durch Wahl eines risikoreichen „Berufs“ (Soldat, Söldner, bei denen vermutlich wesentlich mehr Genexpressionen abgeschaltet sind)) zumindest in Frage gestellt würde. Auch würde der symptomarme oder symptomfreie Verlauf bei der Mehrzahl der Menschen, die einem extremen Ereignis ausgesetzt seien, gegen eine Gesetzmäßigkeit sprechen. Bei lange dauernder politischer oder rassistischer Verfolgung mit Verfolgungsvorgeschichte ließe sich eine sukzessive Beeinflussung mehrerer Genabschnitte durch den epigenetischen Apparat vorstellen, erwidere ich. Wenn also solche Überlebenden Kinder bekommen, dann könnten veränderte Genexpressionen in der folgenden Generation wirksam werden, unter der Voraussetzung, dass diese vererbbar seien. Ich weise auf meine bisherigen Überlegungen im 28. Einwurf hin.

 

Ich möge doch mal die kritische Literatur durchforsten, die beim heutigen Kenntnisstand den oftmals journalistisch aufgeblasenen Prognosen aus Nützlichkeitserwägungen nicht folgen könne und herbeiargumentierte Kausalitäten zur Grundlage von Prognosen mache, die keineswegs gesichert seien; und ich solle die Einwände zusammentragen, die eine epigenetisch verursachte Vererbung von Trauma oder Symptomen in Zweifel zögen. Bei dem aktuellen Hype keine leichte Beschäftigung, zumal eine klare Definition fehle, aus welchen kulturellen und biologischen Verästelungen sich ein Trauma, d.h. ein Leiden zusammensetze. Und wenn das Leiden episodisch zur Person gehöre und das Handeln, Fühlen und Denken beherrsche, dann ließe sich vermuten, dass mit der Inkorporierung von Bedeutungen die biologische Variante in den Vordergrund träte. Die sozialen Komponenten des Leidens können nicht als vererbbar betrachtet werden. Alles, was Sinn und Bedeutung beistellt, ist Konstruktion und daher von Vererbung ausgeschlossen. Das gilt vielleicht nicht für die Sinnsuche, deren Funktion die Herstellung einer Harmonie, eines Gleichgewichts von Innen und Außen ist. Diese Funktion wird allerdings oft verfehlt, weil der Sinn an falschen Orten und unter dem Einfluss von Partialinteressen gesucht wird. Die Versuche, eine kausale Linearität im Befinden von traumatisierten Eltern und ihrer Kindern zu behaupten, müssen als spekulativ zurückgewiesen werden.

         Die Hypothese von der erblichen Transformation traumatischer Erlebnisse von Eltern auf ihre Nachkommen mobilisiert Interessenten, die aus vergangenen Traumata Ansprüche auf Reparation begründen wollen, weil die traumatische Symptomatik in den nachfolgenden Generationen negative Wirkungen bis in die Gegenwart entfaltet. Anthropologische und soziologische Studien suchen mit statistischen Mitteln bei Zielgruppenkindern nach Genozid, Sklaverei und Verfolgung nach Zeichen und Symptomen, die eine Beziehung zu elterlichen Traumata herstellen können. Dazu werden die reduzierte Lebenserwartung, Depressionen, Angsterkrankungen, Substanzabhängigkeit, Suizidtendenz und der PTBS-Katalog als Maßstab für eine Vererbbarkeit von traumatischen Erlebnissen der Vorfahren eingeführt. Statistische Resultate aus Sozialwissenschaften sollen die mikrobiologischen Befunde stützen. Die statistischen Abweichungen im Vergleich von Kindern traumatisierter Vorfahren zu Nicht-Traumatisierten wurden anhand von Unterlagen staatlicher Ämter festgestellt, wodurch eine Hauptquelle für Fehler benannt wäre, weil staatliche Ämter an der gesundheitlichen Ungleichheit maßgeblich beteiligt sind. Kritische Überprüfungen hätten in fast allen Fällen Mängel bei der statistischen Auswertung zu Tage gefördert. Es sei noch weit von einer eindeutigen Aussage entfernt, wenn nicht geklärt würde, ob eine gesetzmäßige Vererbung von Trauma oder nur eine zufällige Wirkung epigenetischer Potenzen auf die Nachkommen im Spiel seien. Zahlen liegen nicht vor, weder bei Überlebenden des Holocaust, noch Afroamerikanern oder indigenen Völkern.

 

 

Der befragte Kommunikationswissenschaftler macht selbstverständlich aus seiner Disziplin den Goldstandard eines Urteils: Veränderungen im  Empfinden, in der Identitätsbildung, im Verhalten, in der psychosozialen Entwicklung von Nachkommen traumatisierter Eltern oder Großeltern entspringen aus kommunikativen Beziehungen, verbalen, emotionalen und narrativen. Sie haben eine historische Dimension und einen geschlossenen Horizont. Wenn Kinder von traumatisierten Überlebenden dieselben oder ähnliche Symptome bei sich feststellen, wie sie an ihren Eltern diagnostiziert wurden, dann fügen sie den Symptomen Bedeutungen zu, die nicht biologisch legitimiert sind, sondern aus kommunikativen Prozessen gebildet werden. Sinn und Bedeutung werden kulturell hervorgebracht. Sie verfolgen den Zweck einer Identität. Wenn man die gebrochene Kommunikation Traumatisierter analysiert, dann werden Stressmuster erkennbar, die Auswirkungen auf die Kindergeneration haben. Die Stressmuster können sich in sehr unterschiedlichen Weisen äußern, sie können aber auch verschlossen bleiben und Geheimnisse bilden und zu Interpretationen herausfordern. Dispositionen für Vulnerabilität, Resilienz und Ressourcen entstehen aus der lebendigen Kommunikation im Verlauf einer Lebensgeschichte durch positive oder negative Partner. Imitation und Assimilation scheinen bei intergenerationaler Symptomähnlichkeit keine Rolle zu spielen. Vielmehr würden Zeichen aus der averbalen Kommunikation zu Verantwortung und Schuldgefühlen verführen und in Konditionierung münden, was eine Nähe von Biologie (Neuronen) und Kultur beweise. Sowie sich Bedeutungen bilden, sind biologische Prozesse am Werk. Wer nur mit dem Gehirn Sinn schafft und nicht mit allen Körperzellen, muss nachweisen, wie epigenetische Aktivitäten in Nervenzellen des Gehirns sich in die Beeinflussung von Keimzellen einbringen oder wie im frühen Embryonalstadium die epigenetisch verursachten Traumamarker auf den omnipotenten Zellhaufen als psychologische Varianten alle Teilungsphasen überstehen sollten.

Die Vorstellung von biologischen Spuren des Leidens der Eltern oder Großeltern in nachfolgenden Generationen hat einen höchst emotionalen Charakter. Sie schafft eine engere Verbindung intergenerational, wenn nicht nur äußere Merkmale, sondern auch psychisches Befinden einer Vererbung unterliegen und somit einen erweiterten Determinismus begünstigen, der eine Verantwortung der Eltern für die psychische Formung der Kinder in den biologischen Raum verlagert und die kommunikativen und emotionalen Einflüsse für sekundär erklärt. Mit einer aus kommunikativen Zusammenhängen entwickelten Empathie und Reaktion auf Leidensnarrative lassen sich vermutete Phänomene deterministischer Prägung auch erklären und marginalisieren, wenn man dem Zufall oder der Kontingenz Platz lässt, die wirksam werden, wenn sich Sperma und Eizelle begegnen und die Karten wild gemischt werden.

Wenn man sich vor Augen führt, dass unzählige Menschen bis ins zeugungsfähige Alter ein oder mehrere Traumata erlitten haben, nicht nur in der südlichen Hemisphäre, dann müsste man unter der Prämisse, dass sich Traumamarker auf den Genen traumatisierter Menschen  gebildet haben, erwarten, dass Generationen direkt vom Leid ihrer Eltern prägend betroffen sein müssten. Dagegen steht die Erfahrung psychischer Schutzmechanismen, die sich kommunikativ in der Realität entwickelt haben. Die psychischen Anteile von Leiden und Trauma setzen sich aus so vielen verarbeiteten und unverarbeiteten Konfrontationen mit der Realität zusammen, dass man kaum behaupten kann, diese würden in einem mikrobiologischen Prozess in reduzierter Form vererbt. Die Reduktion der Vielfalt ist auch hier das zentrale Hindernis für eine plausible Erklärung. Reduktion ist die Basis für Tierversuche, die in Mäuseexperimenten dem Mechanismus der Vererbung von Leiden beobachtend auf die Spur kommen wollen. Die Ergebnisse können nicht überzeugen: Sie übertragen unsere Wahrnehmung auf Mäuse und deren Reaktion in unsere Wahrnehmung. Ausdrucksformen des Lebendigen und der Überlebensstrategien sind damit nicht zu erfassen, weil sie viel komplexer sind.

Leiden und psychiatrische Kategorien umfassen nicht die Krise in Menschen, die durch soziale Einbußen und ökonomischen Mangel verursacht und ausgedehnt werden. Die Hauptarbeit für ein neues Verständnis findet nicht in Laboren statt, sondern in Untersuchungen der zielgerichteten Kommunikation unter Menschen, d.h. wie sich komparativ Hierarchien von Menschengruppen bilden und den Bereich der Wissenschaften und der Grundlagenforschung beeinflussen. Hierarchien sind der zentrale Bestandteil von Gewalt und Traumatisierung.

Anschlussfähig an diese Behauptung muss eine philosophisch-historische Betrachtung bewertet werden, die von Shannon Sullivan[1] erarbeitet wurde und in den Mittelpunkt der Kontroverse Epigenetik versus interessengesteuerter Diskurs die Beobachtung rückt, dass es stets weiße Überlegenheit war, die diskriminierend Minderheiten[2] definierte, aktiv traumatisierte[3] und vernichten wollte. Dazu musste ihnen eine niedere Entwicklungsstufe und ein minderwertiger Charakter „nachgewiesen“ werden. Dem Hype um die Epigenetik käme im gesellschaftlichen Diskurs die Bedeutung zu, mit den Mitteln der Wissenschaften eine Sichtweise zu etablieren, die den Überlegenheitswert der weißen „Rasse“ zu unterstreichen in der Lage wäre und ein Feld eröffnen könnte, das zuvor die Eugenik in gefährlicher Nähe zum Sozialdarwinismus eingenommen hatte. Die Debatte sei von einer rassistischen Interessenlage beherrscht, wenn determinierende Aspekte berücksichtigt werden müssten. Determinismus drängt zur Homogenität.

Ich zeige meinen Text dem Kommunikationswissenschaftler. Er überfliegt meine Ausführungen und sagt: „Da hättest du dir aber mehr Mühe geben können.“ Kleinlaut und trotzig stelle ich den Text auf meine website. Er ist ja nur eine Anregung für weitere Überlegungen und Forschungen, eine Vorspeise gleichsam.



[1] Shannon Sullivan (2013) Inheriting Racist Disparities in Health: Epigenetics and the Transgenerational Effects of White Racism. Critical Philosophy of Race: Vol. 1, No.2, S. 190-218.

[2] Als Minderheiten werden in gewalttätigen Begegnungen durch weiße Rassisten afrikanische Sklaven, indigene Völker Amerikas, Australiens und der Südsee, so genannte Ungläubige, Juden in Europa, Homosexuelle, „Asoziale“, Sinti/Roma erfasst. Ihnen unterstellt man, dass sich in einem epigenetisch vererbten Leiden ihre Minderwertigkeit im „Survival of the Fittest“ offenbare. Die Traumata des Erstkontaktes mit weißen Rassisten vererbten sich bis heute fort.

[3] Beispielhaft: Pember, M. A. (2015). Trauma may be woven into DNA of Native Americans. Indian Country Today Media Network, 20.