Kurze Zusammenfassung

 

Posttraumatische Belastungsstörungen zeigen kein einheitliches Symptomenbild. Sie tragen eine geschichtliche Dimension der unterschiedlichen Einflussnahme in sich, wenn man die zurückliegenden 150 Jahre betrachtet. Viele Interessenten haben an der heutigen Bedeutung geschraubt, deren Ziel einer Sensibilisierung für Gewaltfolgen als missglückt bezeichnet werden muss. Die Diagnose wurde erst 1980 öffentlich, hatte aber zuvor schon so manchen Experten zu Erklärungen bewegt. Hier werden einige eigennützige und uneigennützige Geburtshelfer angeführt, bis es zur Geburt der Diagnose PTBS kam. Das, was wir heute darunter zu verstehen glauben, ist in den vergangenen Jahren mit einer verwirrenden Vielfalt von Beschreibungs- und Erklärungsversuchen versehen worden. Die psychischen Befinden von gekränkten und verletzten Menschen sind durch ihre Mehrdeutigkeit zu einem begehrten Feld der interpretierenden Wühlarbeit geworden. Aus den unterschiedlichen Deutungen resultieren zahlreiche therapeutische Schulen und im Bereich von Verwaltungen lassen sich bürokratischen Verkürzungen und Homogenisierungen psychischer Prozesse ausmachen, der letzten und ewigen terra incognita, in der Goldgräberstimmung herrscht. Diese wird durch keine künstliche Intelligenz erobert werden können. Unbezweifelt ist heute die Feststellung, dass Erlebnisse von Realität zu traumatischen Symptombildungen führen können.

Die posttraumatische Belastungsstörung hat als psychomedizinische Diagnose ihre allein therapeutische Spezifität bereits im Zusammenhang mit den Eisenbahnunfällen des mittleren 19. Jahrhunderts verloren, als sie einen forensisch getarnten Weg in die Gerichtssäle wies. Anfangs öffneten sich die Verfahren allein für physische Verletzungen. Indem Gerichte sich veranlasst sahen, Reparationsforderungen von Verletzten der Unfälle zu bewerten und Rechtsanwälte Klageverfahren gegen die Eisenbahngesellschaften anstrengten, kam das psychische Befinden von Verunglückten neben therapeutischen Überlegungen in die Sphäre des Rechts und des Anspruchs auf materiellen Ausgleich. Die Geburt des psychiatrischen Gutachters wurde hiermit eingeleitet. Die „Wissenschaft“ von den psychologischen Prozessen verlief parallel und erhielt durch die Forderungen von Anwälten einen erheblichen Schub, die im Sinne des Verursacherprinzips eine Verantwortung bei den Eisenbahngesellschaften erkannten. Die physische Gewalt auf verunglückte Körper hatte Auswirkungen auf subjektives Befinden der Betroffenen, ihre Arbeitsfähigkeit und ihr Vertrauen in die Technik. Hier als Reparation. Wenn es um Geld geht, werden die forschenden Anstrengungen intensiviert und wenn es um Ausfälle bei Soldaten in kriegerischen Handlungen geht, bieten die entsprechenden Wissenschaften ihre Dienste an.

         Die Wirkungen von Gewalt auf biographische Verläufe hatte seit dem Ancient Régime und mittels  polizeilicher Überwachungsstrategien das Augenmerk auf psychologische Effekte der Entstehung von Widerstand gerichtet, die nicht nur Gehorsamkeitsübungen und geforderte Unterwerfung verweigerten, sondern zudem in inneren Irritationen, diffusen Schmerzen, Scham und Selbstbeschuldigung eine existenzielle Zersetzung einleiteten.

         In Gerichtsverfahren ging es daher um die Beantwortung von Schuldfragen, zu deren Bewertung die Gerichte Experten heranzogen, die durch Interpretation von Zeichen und Symptomen dem unsichtbaren Inneren einer verletzten Person zu einem Zustand von „realer“ Wahrscheinlichkeit verhelfen sollten. Das letzte Wort lag bei Richtern, die aus ihrer Lebenspraxis und Erfahrung der Expertise folgen oder sie vernachlässigen konnten. Seit den ersten Reparationsverfahren sind inzwischen 150 Jahre vergangen, und man nicht sagen, dass die Ergründung innerer Befindlichkeiten nach Verletzungen die richterlichen Urteile aus dem Stadium der Wahrscheinlichkeit befreit hätten. Die Konstruktion von Plausibilitäten und die Verwissenschaftlichung von inneren Prozessen als Psychologie bedienen sich gerne des common sense oder einer Evidenz, aber auch diese gründen nicht auf Gewissheiten, sondern auf Kontingenz. Diese bezieht sich auf das Vorhandensein von Symptomkomplexen mit Subkategorien, die nicht notwendig alle vorhanden sein müssen, zugleich so sind, wie sie sind, aber auch in anderer Weise und Intensität vorhanden sein können. Dadurch werden mehrere Interpretationsvarianten möglich, wenn ein Experte die Folgen von Gewalt beurteilen soll, was die Einschätzung dadurch schwierig macht, dass die Symptome nicht dauerhaft präsent sind, sondern einzelne Symptome möglicherweise nur einmal pro Woche, alternierend zu anderen Symptomen und abhängig von internen und externen Triggern auftreten, jedoch individuelle Ängste und Alarmsignale hervorrufen.

         In den forensischen Expertisen zeigte sich auf eindrucksvolle Weise die Beziehung von biologischem Stress und jeweils kultureller Bewertung, gegründet auf einen Wissenschaftsbegriff, dem ein Erkenntniswillen zugrunde lag, zugleich unterschiedliche Interessen und eine Machtpraxis in die Definitionskämpfe eingezogen sind. Insofern waren die Eisenbahnunglücksfälle des 19. Jahrhunderts nicht nur der Beginn einer psychomedizinischen Beschreibung innerer Befinden nach Gewaltexposition, sondern ein bedeutsames Thema für Gerichte, Anwälte und Forensiker. Forensische Experten gab es zu jener Zeit nur als Psychiater/Neurologen. Dadurch blieben psychologische Experten noch Jahre außerhalb der Schranke. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Ätiologie der Veränderung des Befindens nach Gewalteinwirkung (wie auch heute) keineswegs bekannt. Es wurde viel spekuliert: Waren die individuellen Dispositionen oder eine Nervenerschütterung für die längerfristigen Symptome verantwortlich? Waren sie real oder vorgetäuscht? Da sich die posttraumatischen Symptome einer Messbarkeit entzogen, sprang die junge Disziplin Psychologie in die Bresche, die durch den Niedergang der Religionen offenblieb. Der Zugang zum Unsichtbaren, das wie alle kulturellen Merkmale aus sozialen Beziehungen entstanden war, und die Beichte waren nicht nur Charakteristika der Religion, sondern auch der neu entstandenen Therapeutik.

         Beim Militär entwickelte sich ein ähnlicher Vorgang, allerdings mit strafenden Anteilen. Die Schwäche des Soldaten, die Neurasthenie, wurde mit einem Schuldkomplex aufgeladen, was zu schmerzhaften Maßnahmen legitimierte. Therapie als Strafe und Strafe als Therapie, die mehr gefürchtet werden sollte als der Schützengraben. Überleben als zutiefst menschliche Regung wurde bei einigen Psychiatern mit Verachtung registriert, und es musste um jeden Preis verhindert werden, dass es einen Anspruch auf Überleben gab. Die aus elementarer Angst entstandenen Symptome erhielten somit einen fragwürdigen Charakter und ein bleibendes Stigma. Diese Sicht wurde nach der Heimkehr von US-Soldaten aus Vietnam reanimiert und von Entschädigungszahlungen und Renten begleitet. Hier kommen die Interessen der staatlichen Versicherungen ins Spiel, die gesetzlich zum Schutz und zur Wiederherstellung der physischen und psychischen Gesundheit verpflichtet sind. Auch sie wollten mitreden, wenn es um Definitionen und den Umfang von Diagnosen für psychosoziale Störungen ging.

Die pharmazeutische Industrie rüttelte nachhaltig an den Toren des Militärs, indem sie Medikamente anpries, die eine Entstehung von Symptomen, die kampfunfähig machten, in statu nascendi verhinderte. Intensive Forschungen wurden in den USA ausschließlich mit den finanziellen Mitteln des Militärs durchgeführt. Außer der Herstellung von Präparaten, die high für den Kampf machten, waren die Resultate zur Minimierung von Symptomkomplexen im Sinne von PTBS ziemlich mager. In Vietnam und mehr noch in Afghanistan zeigte sich eine bewusst betriebene Konkurrenz von legalen und illegalen Drogen.

Ohne die Einflüsse, die die Politik auf den Sachverhalt ausübte, ist bei diesem Thema – dem individuellen und kollektiven Trauma – kein tieferes Verständnis zu entwickeln. Staat und Politik übernehmen gern die Deutungshoheit über Gewalterlebnisse und zelebrieren sie in Denkmälern, Gedenkfeiern, Auszeichnungen und Bilderwiederholungen. Dadurch gelangen einzelne oder kollektive Opfer auf eine Weise ins kollektive Bewusstsein, von wo sie zu Identifikationen Anlass geben können.

 

Man darf daher die Vermutung äußern, dass alle Versuche, Objektivität in die Subjektivität zu bringen, sehr unterschiedliche Interessenten auf den Plan gerufen haben, deren partielle Neugier die ursprünglich klinische Diagnose nachhaltig kontaminiert hat. Selbst die Klinifizierung als professioneller Zugang hat den Charakter des Leidens und des Schmerzes in seiner sozialen Bedeutung nach Gewalterlebnissen grundlegend verändert, weil sie die Subjektivität ins Verallgemeinerte und Statistische relativierend lenkte. Gerade die Diagnose PTBS verspricht objektiven Zugang zum Inneren eines verletzten Menschen, kann aber nicht über Schutz, Wohlwollen und Empathie hinausgehen. Das verletzte Innere erhält lediglich einen neuen Rahmen. Ohne Satisfaktion, d.h. Verurteilung der Täter und dadurch Vermeidung der Straflosigkeit, ist eine Beruhigung des inneren Aufruhrs kaum zu erwarten.

Grundsätzlich können diverse Interessenten einen Nutzen aus konkreten Tatsachen reklamieren, bei Krankheitsdiagnosen oder Störungsbildern sollte ein Forschungsvorhaben oder eine Heilungstendenz erkennbar im Vordergrund stehen. Dass sich fachfremde Ideologien durch etliche Interessenten einstellen, lässt sich an der Suche nach Vätern durch Kinder, die durch Samenspender in die Welt gekommen sind, ablesen. Es wird suggeriert, dass ein Interesse am samenspendenden Vater im Wesen des künstlich entstandenen Kindes läge, obwohl die aufziehenden Eltern jahrelang für die leiblichen gehalten wurden. Hier sind Interessen im Spiel, die uns auf Ahnentafeln, Blutsverwandschaft und unsichtbare Kräfte festlegen wollen. Jene vermuteten Einflüsse aus der Genetik bleiben eine Quelle von Entlastung, wenn die Kindsbiographie zu scheitern droht und eine bessere Realität ersehnt wird. Der Samenspender wird zur Projektionsfläche für realitätsferne Sehnsüchte. Die verantwortlichen Eltern werden durch Vergleiche in eine Konkurrenz gebracht* .

Dieses Beispiel mag Fragen aufwerfen. Mir geht es um biologische Prozesse – künstliche Befruchtung einerseits, Stressreaktionen andererseits -, die im Laufe der Zeit durch unterschiedliche Interessenten in neue Bedeutungen gerückt wurden, wenn ein partieller Nutzen daraus entspringt. Die neuen Bedeutungen und ihre Anwendung können nachhaltig zu einem veränderten Selbstbild bei den Betroffenen führen. Sie stammen aus Diskursen, modischen Launen und der Wandelbarkeit abstrakter Begriffe und belegen die Notwendigkeit, den historischen Dimensionen des Wandels vom Konkreten zum Abstrakten auf die Spur zu kommen. Am Anfang stand die konkrete instrumentelle Gewalt auf einen menschlichen Körper. Mit der Erfindung der Ehre (Würde) eines Menschen entstand eine weitere Ebene, die durch verbale

Gewalt/Drohung ihre Wirkung im Abstrakten entfaltete. Das Abstrakte

und das Unsichtbare haben einige Merkmale gemeinsam, die sie mit zahlreichen Religionsphänomenen teilen. Das bedeutet für unser Interesse, dass die biologischen Grundlagen weitgehend konstant bleiben. Nur die kulturellen Deutungen unterliegen einer permanenten Veränderbarkeit und sind dadurch Gegenstand von Kämpfen innerhalb der Felder, die sich für eine interpretierende Deutung und Definitionen entwickelt haben und hohe symbolische Gewinne erwarten lassen. Diese Kämpfe sind keineswegs abgeschlossen, sondern wirken in den unterschiedlichen therapeutischen Schulen weiter und beweisen die Vorläufigkeit von Erkenntnis. Das Phänomen, das wir posttraumatische Belastungsstörung nennen und Individuen zuordnen, befindet sich in einer Kampfzone der Psy-Wissenschaften und wird konstant durch zahllose Kasuistiken in die Breite gezogen, sodass die historischen einflussnehmenden Interessenten ins Unbewusste gleiten.

* Das Beispiel eines biologischen Prozesses, der durch kulturelle Einflüsse verformt wird, stammt von Sabine Hildenbrand.