Rasche Gedanken 

 

Wie viele Empfindungen lassen sich nach traumatischen Erlebnissen durch Sprache bezeichnen und differenziert ausdrücken? Wenn man nur noch vegetativ existiert? Wenn es sich um traumatische Erlebnisse und ihre Leiden bewirkenden Folgen handelt, scheint es nicht so viel zu sein. Ein extrem traumatisierter Mensch ringt um Worte und findet nicht zur Präzision dessen, was er fühlt und was in ihm vorgeht. Hat es da das Sandspiel oder szenische Spiel nicht viel leichter?

Ein extrem traumatisches Ereignis und seine psychischen Spätfolgen können nur aus dem Arsenal der vorgefundenen Sprache charakterisiert werden. Die vorgefundene Sprache erzwingt, Beziehungen zwischen Kausalität und begrifflichen Definitionen von Wortbedeutungen zu übernehmen. Wenn ich ein erstmalig auftretendes traumatisches Erlebnis beschreiben will, muss ich auf die sprachlichen Bedeutungen zurückgreifen, die mir andere Menschen gebieterisch und bestimmend zur Verfügung gestellt haben. Im Moment des traumatischen Schocks ist meine Sprache nur Gestammel. Mit größerem Abstand zum Ereignis ist meine Beschreibung meines Leidens an quälenden Symptomen auf die sprachlichen Begriffe angewiesen, die meine Umwelt durch Definition, Gebrauch, Konvention und Erwerb mir bietet. Für etliche Emotionen gibt es nur ein Wort und keine differenzierende Zwischentöne. (Daher werden gern Steigerungen hinzugefügt: voll, krass, super, mega). Das Gleiche gilt für alle überwältigenden Wirkungen aus der Umwelt, die mit Gegensatzpaaren nicht genau zu erfassen sind (mächtig- ohnmächtig, autonom- abhängig, usw.). Das heißt, dass durch das erworbene Sprachgitter sehr viele Impressionen und Gefühle ins Unsagbare fallen. Wo aber bleibt das Unsagbare? Nimmt es die Gestalt des Unbewussten an? Wird das Unsagbare zum Motiv für Auflehnung und Verzweiflung, weil ein diffuser Mangel an Präzision uns zum Schweigen bringt oder eine erneut aufsteigende Furcht die Zunge lähmt?

Da unser Denken nur in sprachlichen Formen Gestalt annehmen kann, ist zwangsläufig durch sprachliche Beschränkung auch unser Denken verengt. Sprache gestattet keine Denkausbrüche, nicht einmal ins Enigmatische, weil geheimnisvolle Zeichen nur Bedeutung erlangen, wenn sie in Sprache rückverwandelt werden können.

Wenn wir einräumen, dass Leiden ein komplexer Prozess ist, dann ist mit eindimensionalen Begriffen oder plumpen Dichotomien eine Darstellung nicht möglich. Auch Angst, die mit Leiden verbunden ist, lässt sich  nur reduktionistisch, ja verkürzend in Sprache fassen. Schmerzen und psychisches Leiden mit Worten zu formulieren bedient sich Vereinfachungen, die nur das Ungefähre ausdrücken. Daraus resultiert eine gewisse Unzufriedenheit.

Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Eine fremde Sprache enthält für eine bestimmte Emotion fünf Wörter, die sich graduell unterscheiden. Eine Dolmetscherin überträgt eines dieser Wörter in ihre Sprache, die nur einen Begriff bereithält. Dadurch erfährt man, was Reduktion heißt. Alle Sprachen, die eine historisch lange poetische Tradition aufweisen, liefern zahlreiche Bedeutungen für ein Gefühl und zeigen dies in unterschiedlichen Wörtern an. Bei der sprachlichen Darstellung von Leiden, die ein Flüchtling empfindet, werden im Übersetzungsvorgang vor Asylentscheidern durch emotionale Einflüsse Verkürzungen resultieren, wenn besonders Schuld und Scham ausführliche und differenzierte Beschreibungen verhindern oder die Ungeduld des Zuhörers Beschreibungen abkürzt, weil der Vortrag von Asylgründen ohne Emotionen auskommen soll.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass jedes Leiden eine soziale Komponente enthält. Leiden äußert sich averbal und sprachlich. Was wir als Leiden bezeichnen und was wir aus der Subjektivität befreien wollen, ist ein soziales Konstrukt. Es muss stets eine verursachende Kraft geben, die zu einer Mitteilung drängt. Leiden benötigt einen Adressaten, der die Wirkung der Ursachen anerkennt und Deutungen anbietet, zumeist in sprachlicher Weise. Das kann eine Ärztin oder Therapeutin sein, aber auch Freunde und Angehörige sind zur Teilung von Leiden bereit und in der Lage. Jede Mitteilung von Leiden erwartet eine Verminderung durch eröffnete Hoffnungshorizonte. Wer sich dem Leiden von konkreten Menschen zuwendet, sollte sich nicht durch Vorschriften und Misstrauen beschränken lassen.

Die Beziehung von Sprachvermögen und Dissoziation gibt zu Überlegungen Anlass. Wenn man die Begrenztheit von Sprache und Bedeutungen in Rechnung stellt, dann ließe sich Dissoziation als Abspaltung von traumatischen Erlebnissen, Teilepisoden und ihren Begleitemotionen verstehen, weil die unzureichenden Begriffe keinen sprachlichen Ausdruck finden und Halt geben. Was man nicht formulieren (in landläufige Form bringen) kann, das wird man vergessen.

Die Dissoziation wird durch Therapeuten diagnostiziert. Sie bleibt den Betroffenen, außer als Ahnung, verborgen. Dissoziation beschreibt eine vom Therapeuten erfasste oder vermutete Lücke in einer Erzählung oder von Begleitgefühlen. Beim Versuch, die Lücke auszufüllen oder das angemessene Gefühl zu aktivieren, kommt es oft zu Verrenkungen, weil es schwer fällt, dissoziierte Inhalte zu akzeptieren. Hier geht es um die Frage, ob dissoziierte Gefühle und Episoden dem Bewusstsein wieder zugänglich zu machen sind. Ich argwöhne, die Abspaltungen (eine mechanistische Metapher, die zur Beschreibung, aber nicht zur Erklärung taugt) wieder ins Bewusstsein zu heben, sind der machtgestützte und hartnäckige Versuch, Wahrnehmungen von extremer Gewalt aus ihren Verstecken zu holen, denn sie sind vor der Abspaltung reale Wahrnehmungen gewesen. Sie gelten nicht als verloren. Irgendwo im neuronalen Netzwerk müssen noch Spuren vorhanden sein, die mystifizierend um das traumatische Ereignis spuken. Vielleicht eine Illusion, denn die dissoziierten Anteile lagern in einer Deponie, wo sie kontextfrei und ohne Wiederkehr schlummern. Es handelt sich um Teilaspekte. Ohne Kontext verlieren die Dissoziationen ihre spezifische Bedeutung, nämlich auf ein gravierendes überwältigendes Ereignis mit symptomatischen Folgen hinzuweisen. Sie verweisen auf eine Unerträglichkeit. Ein Narrativ, das Lücken durch Dissoziation aufweist, verhält sich möglicherweise wie ein Mensch mit einem extrem heftigen Schmerz, der die Ursache benennen kann, die Qualitäten des Schmerzes umschreiben, aber nicht reaktivieren kann. Die konkrete Erfahrung des Schmerzes geht verloren, ist nach dem Abklingen erfolgreich dissoziiert. Niemand kann sich an die konkrete Qualität eines Schmerzes erinnern. Lebensbedrohung und extremer Schmerz sind existenzielle Infragestellungen, die sich mit einer Öffnung zur Abspaltung trösten lassen.

Aus diesen Gründen haben die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg für sich auf „nichtschuldig“ plädiert. Die eigene Bedrohung ihres Lebens hat ihre Verbrechen taktisch oder dissoziiert negiert. Es besteht wohl eine enge Beziehung von Taktik und Dissoziation, weil auch Taktik bei unübersichtlicher Komplexität einige Realitätsmerkmale auszublenden gezwungen ist. Taktik und Dissoziation haben das Ziel, ein Weiterleben zu garantieren.

Wenn man Dissoziationen nicht aus dem Verborgenen holen kann, dann stellen sie geheimnisvolle Instrumente dar, an denen sich Therapeuten abarbeiten können. Am Ende bleibt die Erkenntnis: ein traumatisierter Mensch hat wegen der Unerträglichkeit der situativen Konstellation eine Abspaltung von Gefühlen und Ereignissen zum eigenen Nutzen ergriffen. Und es bleibt die Frage, ob die Abspaltungen etwas über den psychischen Mechanismus und die Person verraten. Ferner muss darüber aufgeklärt werden, was die Dissoziation von der Verdrängung unterscheidet, die beide sich im Unbewussten verlieren und von dort Wirkungen entfalten. Dissoziationen sind höchst subjektive Schutzmechanismen. Sie zu ergründen, verbietet der Respekt vor dem subjektiven Umgang mit überwältigenden Situationen.

Menschen mit Dissoziationen können erstarren. Ihr Blick richtet sich nicht auf den Zuhörer, sondern offenbar auf vergangene Bilder, die sich einer präzisen, zumeist sprachlichen Darstellung entziehen. Ein zugrunde liegendes traumatisches Erlebnis wehrt sich in Teilen gegen eine sprachliche Schilderung, die ein bewusster Akt ist. Das Bewusstsein wird durch überwältigende Kräfte nicht erreicht und kann nicht aus eigener Kraft Anschluss finden.

Fremde Menschen oder solche, deren perfomative Eigenschaften fremd sind, können traumatische Erlebnisse verursachen. Sprache tritt immer auch als Fremdes an Menschen heran, nicht nur die Sprache mit Worten oder Gesten, sondern auch mit Symbolen. Sprache ist für jeden Menschen immer schon da. Dadurch ist Sprache ein Instrument, das mensch nutzen oder beiseite legen kann wie eine Kneifzange. Indem das Fremde, die Sprache, inkorporiert wird, sind die beschränkten Möglichkeiten des Fremden in uns, denn Wortschatz und Bedeutungen sind das Produkt kollektiver psychischer Prozesse. Dabei spielen Vermeidung und flexible Umdeutung eine wesentliche Rolle. Und mit diesen beschränkten Dimensionen des Fremden soll Realität beschrieben werden, eine Realität, zu der ein traumatisierter Mensch selbst gehört. Sprache liegt außerhalb der Realität als Instrument, weil materielle Realität ohne Sprache auskommt. Indem aber eine Sprecher*in im Sprechakt selbst zur Realität gehört und materielle Prozesse in Nervenbahnen vollzieht, verschwimmen die Grenzen zwischen Biologie und Kultur. Sprechen ist also Natur/Biologie und Kultur. Im extremen lebensbedrohlichen traumatischen Erlebnis kann das Narrativ eines traumatischen Erlebnisses stolpern, wenn es Realität beschreibend umfassen soll, weil es zwei unterschiedlichen störungsanfälligen Einflüssen unterliegen und manifeste Störungen hervorrufen kann.

Dies ist die „stille Post“, die ich an das BaMF, an Richter*innen, Gutachter*innen, Behördenmitarbeiter*innen richte, die aber eben wie bei der stillen Post nur in verzerrter Form die Adressaten findet.

Die Tage werden wieder heller!!!