Ein neues Wort ist in die Alltagssprache eingedrungen: Vulnerabilität, vulnerabel, welches die physische und psychosoziale Verletzlichkeit eines Menschen bezeichnet. In einem Interview im DLF äußerte Prof. Strohschneider den Verdacht, wir Moderne könnten uns gesellschaftlich nur noch im Modus der jeweiligen Verletzlichkeit wahrnehmen, was dann, füge ich hinzu, zur Etikettierung: Jammergesellschaft berechtigen kann. Prof. Strohschneider meinte aber wohl eine kulturell bedingte Hypersensibilität des Zeitgeistes, der überall Verletzungsfallen ausgelegt sieht, aber keine Konsequenzen aus seiner Zeitdiagnose ziehen will.
Nun bezeichnet Vulnerabilität keine Verletzung, sondern nur die Möglichkeit einer Verletzung, mithin ein Risiko. Die Möglichkeit enthält folglich eine Angst verursachende Unsicherheit, die aber durch den inflationären Gebrauch rasch zum Faktum wird. Wenn wir uns im Modus der Vulnerabilität wahrnehmen, könnte ein gesellschaftlicher Vorteil resultieren: Wir gehen behutsamer miteinander um. Allerdings erschweren die Anonymität und die große Zahl der vulnerablen Gruppen den sensiblen Umgang. Jahrelang wurden das Individuum und die Individualisierung favorisiert, Konkurrenz mit Ellbogen gefeiert. Nun soll der Gedanke einer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ausgepackt werden (außerhalb von Fußballländerspielen). Diese Widersprüche überfordern manchen Zeitgenossen.
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verweist Vulnerabilität auf die Menschengruppen, die besonders stark unter dem Virusbefall schwere und tödliche Verläufe erleiden können. Es ist mithin ein Wort, das mit der Bezeichnung von Risikogruppen eine vermehrte Rücksichtnahme einklagt. Der Begriff „Vulnerabilität“ wird aber fälschlich für spezifische Gruppen verwendet. Fälschlich deshalb, weil alle Menschen vulnerabel sind, und es deshalb keinen Sinn macht, mit der Bezeichnung „vulnerabel“ Gruppen von Alten, Vorerkrankten, Gesundheitsarbeiter*innen herauszuheben und ihnen eine Rücksichtnahme angedeihen zu lassen, die man anderen Mitmenschen nicht zugestehen muss. In diesem Zusammenhang ist das Wort, wenn es von Politikern benutzt wird, eine Aufforderung zur Sensibilität, aber auch zur Spaltung unter den Vorzeichen von Fürsorge und Aufmerksamkeit (in Frankreich: Bienveillance). Der Zeigefinger weist stigmatisierend auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Wer vulnerable Gruppen definiert, behauptet als politische Exekutive seine Macht gestützte Unverletzlichkeit und kreiert asymmetrische Situationen, entfernt sich folglich vom Gleichheitsgrundsatz und nimmt politischen Subjekten durch die dargebotene Fürsorge den politischen Aktionsraum. Fürsorgeempfänger werden zu Objekten staatlicher Entscheidungen. Care, Wohlwollen oder Fürsorge tragen in Deutschland eine Schlafmütze bis über die Augen. Diesen Aspekt sollte man nicht aus dem Auge verlieren.
Unter Bezug zu Impfkampagnen fordert die Vulnerabilität eine hierarchische Applikation, die ethisch unseren mehrheitlichen Empfindungen entspringt, nicht aber den Gesetzen. Man fühlt sich an das ritterliche „Frauen und Kinder zuerst“ erinnert. Solch ein Slogan will die mittelalterlichen Klischees nicht abschütteln. Aber auch jenseits der Pandemie bestehen viele Menschen darauf, dass ihre erlebten Kränkungen via social media, „political incorrectness“ und unbegrenzt lange im Netz stehende Angriffe auf die Ehre tiefe und dauerhafte Verletzungen repräsentieren. Wer die Medien benutzt, geht ein Risiko ein.
Man sollte daher von Vulnerabilität nur sprechen, wenn ein reflexiver Prozess von allen, zumindest von den meisten in Gang gesetzt wird. Einige für vulnerabel zu erklären und andere nicht, initiiert keine allgemeine Reflexion über die Tatsache, dass Menschen verletzlich sind und im Bewusstsein ihrer Verletzlichkeit zu Rücksicht und Schonung gegenüber allen Mitmenschen, auch transnational, verpflichtet sind.
Im Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit kann man keine Kriege führen. Daher gibt es unzählige Programme, welche die individuelle Verletzlichkeit ins Unbewusste verlegen und durch Propaganda, Überlegenheitsgedöns und Tschingderassa mit Waffen ausrüsten. Ins Unbewusste wird im großen Stil der Begriff der eigenen Vulnerabilität ausgelagert, indem die Armeen der Welt im Wesentlichen nur junge Menschen rekrutieren, die sich noch für unverletzlich halten, während die Älteren sehr wohl wissen, dass sie verletzlich sind und sich deshalb in der Etappe tummeln. Man könnte den ganzen Tag nur kotzen, wenn man Politiker von Verletzlichkeit reden hört, die aber keine Mühe haben, junge Männer und Frauen nach Afghanistan, Irak, Mali und anderswo zu schicken, wo sie sich von ihrer Unverletzlichkeit überzeugen können, einige erst in Zinksärgen. Jede Form der Befehlsverweigerung zeugt von einem wachen Bewusstsein für die eigene Vulnerabilität. Welcher Sachzwang ist in der Lage, dass man sich über die eigene Verletzlichkeit hinwegsetzt? Ich denke, nur die Notwehr. Wozu haben Menschen einen Kompass, der in allen Himmelsrichtungen „Angst“, „Erfahrung“ und „Geschichte“ anzeigt? Vulnerabilität umfasst den eigenen Körper und damit auch das, was wir Psyche nennen. Ein Alleinvertretungsanspruch auf den Begriff durch die Psychologie wäre modisch, aber unzureichend.
Von Frauen, die Mütter sind, möchte man gern ein Kollwitz’sches nachhaltiges Fühlen in Bezug auf die Verletzlichkeit ihrer Kinder, aller Kinder annehmen. Zwei Verteidigungsministerinnen Deutschlands haben solche Hoffnungen zerlegt, indem sie zu Kriegsministerinnen wurden, natürlich nur, weil die Sachzwänge zur eigenen Überzeugung mutierten, wo sie dann scheinbar keinen Zwang mehr ausüben. Heutige Politik nährt sich von den Sachzwängen, die eine frühere Politik ihr überlassen hat, damit sie lustvoll und unumkehrbar von den Sachzwängen beherrscht wird.