Eine alternative Betrachtungsweise des Themas Trauma und Folgestörungen ist die eines Metabolismus, d.h. einer Wechselwirkung von Innen und Außen, einer Verkörperung, Verinnerlichung und Verstofflichung von realer Umwelt, die nicht in gleicher Weise exkorporiert wird, sondern nur in verwandelter Form in Erscheinung tritt. Atmung ist das plastische Beispiel, bei der Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid ausgeschieden wird. Imitation und Erziehung als Dressur können als relative Ausnahmen betrachtet werden, weil in diesen Fällen der Output wie der Input ausfällt oder im Ergebnis bewusst und konstant gleich ausfällt.
Indem Erlebnisse der Welt verstoffwechselt werden, sind sie in einem anderen Aggregatzustand im Körperinneren als zuvor in der äußeren Welt. Und sie erfordern eine andere Betrachtungsweise auf die Bedingungen der Welt nach der Umwandlung im Körper, als sie vor dem Erleben einnahmen. Man darf davon ausgehen, dass eine psychisch genannte Verletzung das Verhältnis zur Welt verändert, wenn sie inkorporiert wird. Die Betrachtung eines Ereignisses erhält zwei Formen: eine sinnliche, gefühlsmäßige und kognitive als primäre Wahrnehmung und eine, die eintritt, wenn man das Ereignis im Körper aufgenommen hat und dann über das manipulationsbereite Gedächtnis dasselbe Ereignis bewertet. Das sind die Perspektiven des Betrachters und die des Betroffenen. Sie weisen erhebliche Differenzen auf und es ist fraglich, ob die beiden Perspektiven sich soweit annähern können, dass ein gegenseitiges Verständnis resultiert.
Im traumatischen Erleben dringen äußere Kräfte in ein Individuum ein und entfalten über die Sinnesorgane stoffliche Wirkungen. Äußere Ursachen und innere psychische Wirkungen bilden einen individuell unterschiedlich ausgeprägten Komplex, den Psychotherapie mit einer Fragmentierung handhabbar zu machen bemüht ist. Das wäre so, wie wenn man gegen die Zunahme der Wirbelstürme die Häuser stabiler bauen würde. Dämme und Deiche sind aber keine Lösung der zu Grunde liegenden Probleme, die von der Klimakrise verursacht werden.
. Es erscheint unzweifelhaft, dass Ursachen und Folgen von Gewalt und Willkür eine neue Betrachtung dieses Komplexes erforderlich machen, die eine Aufspaltung von Ursache und Wirkung als ahistorisch und wenig zielführend vermeidet. Eine solche Betrachtungsweise eines Metabolismus von Körper und Umwelt hätte zudem den Vorteil, dass die Ursache und die nachfolgende Symptomatik weitgehend ohne moralische Kategorien auskommen. Moral mit Bezug zur Gewalt hat ambiguente Facetten: z.B. legale, illegale, zerstörerische, „pädagogische“, überlebensnotwendige, rituelle, systemische, strukturelle, retraumatisierende und erinnerungsfördernde. Einige dieser Gewaltformen finden unsere Zustimmung, andere verletzen uns. Jeder Mensch ist nolens volens Teil eines Gewaltsystems. Wir begegnen hier dem zentralen Problem der Psychosomatik als der individuell unterschiedlichen Verstoffwechselung von Gewaltanteilen.
Allerdings verlagert die klassische Psychosomatik den Prozess des Stoffwechsels vorwiegend ins Innere eines Menschen, als wechselseitige Beeinflussung von Körper und Psyche, wobei der ursprüngliche Anlass oder Konflikt als Außenreiz sich nicht mehr eindeutig zu erkennen gibt, so dass eine gebrochene Kausalität resultiert. Auch große Anteile des Unbewussten gehen auf äußere Erlebnisse zurück. Gerade bei den Störungen nach biographischen Erschütterungen wäre eine Verkürzung auf Stoffwechsel im Inneren eines Körpers der unzureichende Ansatz, weil die Rolle des verursachenden Außenreizes in den Hintergrund psychosomatischer Überlegungen träte. Ein innerer Konflikt als Resultat einer massiven Ungerechtigkeit würde im falschen Feld nach Heilung suchen.
Stoffwechsel treten ein, wenn ein z.B. Haut- oder Bedrohungsreiz in neuronale Erregung umgewandelt wird. Bei Umwandlungsprozessen von physikalischem Reiz in ein chemisch-physikalisches Resultat aus Synapsen, Neurotransmittern, Hormonen, Rezeptorenzahl muss Energie aufgewendet werden, die vom System zur Verfügung gestellt wird. Das bedeutet, dass eine geringe posttraumatische Symptomatik auf geringe Energiequellen und deren stoffliche Grundlagen (Mineralien, Hormone usw.) oder einen Mangel an reaktionsfähigen Stoffen zurückzuführen sein kann. Solch ein Mangel würde eine unzureichende „Verdauung“ eines traumatischen Erlebens bewirken. Die Nahrungsaufnahme durch die Darmwand ist ja gleichfalls abhängig von Enzymen, Emulgatoren und Transporteiweißen als Voraussetzung für metabolische Prozesse der Inkorporierung. Lebende Organismen sind in konstanter Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Das ist der Grund, warum Menschen sich der Natur zurechnen müssen, was die meisten nicht ertragen können.
Man darf also davon ausgehen, dass Metabolismus ununterbrochen geschieht, d.h. wir registrieren pausenlose Effekte von Außen nach Innen und umgekehrt, ohne dass sie konstant bewusst sind. Das Verhältnis von Umwelt zu Innenwelt ist in dauerhafter Bewegung, die auch das Verhältnis von Bewertungen der Innenwelt zur Umwelt kennzeichnet. Gegen eine Überforderung des menschlichen Systems durch dauerhafte Einflüsse gibt es vermutlich Selektoren, die eine Schutzfunktion erfüllen. In diese allgemeine Betrachtungsweise stürzen traumatische Erlebnisse ein, die einen besonderen Stellenwert beanspruchen, weil ihre Folgephänomene über längere Zeiträume Persönlichkeitsveränderungen bewirken können. Vielleicht übersehen wir, dass die gleichförmige Arbeit eines Postbeamten auch zu einer Veränderung der Persönlichkeit führen kann. Metabolische Prozesse bedeuten eben stets Veränderungen, weshalb es keine Identität mit sich selbst geben kann. Allerdings muss man einräumen, dass posttraumatische Zustände deshalb als störend oder quälend wahrgenommen werden, weil sie Selbstbestimmung, Motivation und eigene Gedankenspiele behindern oder unmöglich machen. Gewalt und Willkür zeigen toxische Wirkungen im Inneren eines Menschen.
Metabolismus ist ein biologischer Prozess mit vielen Ingredentien. Kulturelle Übereinkünfte streben nach einer Homogenisierung und Reduktion der biologischen Prozesse. Offenbar wollen Menschen sich nur ungern biologischen, d.h. wenig beeinflussbaren Prozessen ausliefern, weshalb die Zwangsläufigkeit der Biologie und ihrer inneren Logik abgewehrt, verdrängt oder geleugnet wird. An der Coronakrise und der so genannten Schönheitschirurgie lassen sich alle diese Mechanismen ablesen. Die existenzielle Bedrohung durch biologische Prozesse muss von zahlreichen Menschen schlicht geleugnet werden, so wie Kleinkinder meinen, dass man sie nicht sehen kann, wenn sie sich die Augen zuhalten.
Man muss sich nun vor Augen führen, wie aus einem biologischen Prozess eine Diagnose wurde, denn es handelt sich um einen artifiziellen Vorgang eines Transfers. Am Anfang war die existenzielle Bedrohung aus der Umwelt, dann die biologische Stressantwort mit vielfältigen Körperäußerungen. Diesen Komplex darf man nicht pathologisieren. Die Trauma genannte Verletzung beginnt unmittelbar nach dem Abklingen der Stressantwort oder erst mit einer Verzögerung, wenn der existenziellen Vernichtungsdrohung eine kulturelle Bedeutung zugeordnet wird, von der betroffenen Person oder ihrer Umgebung, und wenn die Registrierung durch Sinne und Gehirn Ereignis und provozierte Emotionen in inneren Monologen reproduziert und in Sprache und in historische Individualmatrix zu fassen sich bemüht. Dabei kommt es zu Berührungen von Biologie und Kultur. Die beteiligte Biologie, die zur Symptombildung führt, kann man nur pathologisieren, wenn man sie als Wucherung oder Ungleichgewicht konzipiert. Will man dies nicht, dann erstreckt sich die Pathologie als Psychopathologie auf den kulturell erzeugten Anteil von Sozialisation und sprachlichen Bedeutungen in Verbindung mit extremer Bedrohung.
Die katalogisierten Symptomatiken nach dem Abklingen der Stressantwort entspringen einem Bedürfnis nach Verständnis und Kommunikation in den Denkkollektiven, die als Experten Definitionen hervorbringen. Diese münden dann in eine Diagnose, die z.B. mit Bezug auf die posttraumatische Belastungsstörung eine Reduktion darstellt, obwohl sie aus vielen sehr unterschiedlichen Teilaspekten zusammengesetzt ist. Das bedeutet, dass die Störung oder Krankheit vor allem das Resultat gesellschaftlich unzureichend erzeugter Werte ist, dessen stoffliche Basis noch nicht vollends bekannt ist.
Wenn die Resultate metabolischer Prozesse als Folge von Gewalterlebnissen Gegenstand juristischer Bewertungen werden, erhalten sie einen neuen Beurteilungsstatus, der trotz weitgehender Unsichtbarkeit Juristen zu Urteilen herausfordert, die auf Plausibilität und Glaubhaftmachung basieren, denn die subjektiven Äußerungen der metabolischen Prozesskette müssen berichtet und ggflls von Experten in zirkulären Schlussfolgerungen bestätigt werden. Berichte über den erfolgten Metabolismus reinszenieren den Verletzungsablauf vor Behörden, Gerichten, Experten. Das wird seit den Eisenbahnunglücken des 19. Jahrhunderts (trotz der Retraumatisierungsgefährdung) von den Traumatisierten in Kauf genommen, wenn damit Entschädigungen verbunden sind. Richter sind somit Mediatoren bei der unterschiedlich verstandenen Entschädigung, die von einer Entschuldigung, Versöhnung, finanziellem Ausgleich bis zur Haftstrafe reicht. Die Berichte traumatisierter Personen setzen ihrerseits bei Richtern und Zuhörern einen Metabolismus in Gang, dessen Ergebnis eine andere Ebene erreicht als bei der traumatisierten Person. Zuweilen wird dies fälschlich sekundäre Traumatisierung genannt. Man kann daher feststellen, das traumatische Erlebnis vagabundiert durch unterschiedliche Menschen und löst Veränderungen aus, die allein aus der gemeinsamen Sprache eine gewisse Übereinkunft gestatten, wozu Vertrauen in die Bedeutungen von Sprache Voraussetzung ist. Man ist nun eigentlich verpflichtet, über die Rolle der Sprache bei der Vermittlung metabolischer Prozesse intensiv nachzudenken, wenn man es denn wollte. Es besteht einfach ein großer Unterschied zwischen dem Metabolismus einer traumatisierten Person und dem Metabolismus eines Richters, der einen sprachlichen Bericht bekommt und dessen Vorstellungskraft größer oder kleiner ausfallen mag.
Ich denke, traumatische Erlebnisse über den Ansatz des Metabolismus zu verstehen, bietet mehr Chancen als das kausale Modell, das eine direkte Beziehung von Erlebnis zu Symptomen herstellt, was heute in der Absolutheit als widerlegt gelten kann. Zudem erleichtert dieser neue Ansatz die Öffnung für Prozesse, die nicht ausschließlich im Psychologischen liegen, sondern eine materielle Basis im Sozialen erhalten. Metabolismus ist von stofflicher Materie und Energie abhängig, die in unterschiedlicher Weise von menschlichen Körpern zur Verfügung gestellt wird. Dadurch bestimmt der individuelle Metabolismus die Ausprägung der Symptome. Epigenetische Einflüsse lassen sich zudem leichter in das neue Modell integrieren. Ferner erfassen metabolische Prozesse vielleicht besser das, was man Subjektivität und qualitative Differenz nennt. Quantitative Modelle der Statistik kann man locker vernachlässigen, wenn der Umschlag in Qualität ausbleibt. Wesentlich aber scheint zu sein, dass die Wechselwirkungen zwischen Außen und inneren Bearbeitungen deutlich machen: der Mensch ist nicht über oder außerhalb der Natur. Er ist Teil der Natur und leitet von daher seine Ansprüche auf Universalität ab, wovon NGO im Traumafeld profitieren könnten.
Man mag nun fragen, wo bei dieser Betrachtung von Stoffwechselprozessen das Leiden von Menschen nach traumatischen Erlebnissen bleibt. Nun, es ist ein komlexes Geschehen, das als Leiden wahrgenommen wird. Das Leiden an definierten Erlebnissen setzt sich synergistisch zusammen aus: aus dem Gleichgewicht geratener Physiologie, kulturell erzeugten Bedeutungen, die dem Ungleichgewicht verliehen werden, reduzierter Funktionalität im Alltag, sozialer Bewertung und der Klage über eine subjektiv empfundene Ungerechtigkeit. All diesen Einflussfaktoren liegt ein Metabolismus, eine innige Beziehung von Innen und Außen, zugrunde, sodass man sagen kann, Leiden als negative Emotion wird durch einen komplexen Mechanismus von Stoffwechselprozessen verursacht. Leiden ist hiernach kein luftiges und immaterielles Geschehen. Die genannten Einflüsse auf den Stoffwechselprozess sind kaum zu messen. Man versucht im Allgemeinen, die Resultate des Metabolismus zu messen. Wenn aber die Einflüsse sehr unterschiedlichen Feldern angehören, scheint eine Messung aussichtslos. Man sollte endlich damit aufhören, Fragebögen, Persönlichkeitstests, Intelligenztests, Einstellungs- und Charakterstudien als Messinstrumente zu komplexen Phänomenen aufzufassen. In eine biographische Medizin, die lebensgeschichtlich bedeutsame Erlebnisse ausleuchten möchte, gehen so viele Unwägbarkeiten ein, dass subjektive Berichte, freiwillig oder gefordert, keine „objektiven“ Resultate hervorbringen können, ohne den Wissenschaftsbegriff ins Weltall des Beliebigen zu verbannen.
Zwar sind diese Deutungsversuche noch sehr allgemein. Nach meiner Überzeugung lohnt sich jedoch eine Vertiefung, um aus Pathos und Leidensklischees herauszutreten, die sich kulturell verfestigt haben. Trauma und seine Folgen als Leiden sollen keineswegs geleugnet, aber von der kulturhistorischen Fesselung durch das Heilige befreit werden.