Die Bezeichnung kPTBS ist verwirrend. Sie löst bei mir Bedenken aus, die sich auf die vorgebrachten Differenzierungsgründe zur einfachen PTBS beziehen. KPTBS begegnet TherapeutInnen in ihrer Heterogenität und macht dadurch therapeutische Ansätze schwierig, weil die subjektiven Urteile von therapeutischen Personen noch nicht in eine offizielle, „objektive“ Beschreibung und somit Vorschrift gefasst wurden. Sie wünscht sich abzugrenzen von der einfachen PTBS und vernachlässigt, dass auch die einfache PTBS ein komplexes Geschehen abbildet, das mehreren verletzten Sinneswahrnehmungen und geschädigten Persönlichkeitsmerkmalen entspringt und daher Trauma genannt wird. Die kPTBS scheint ein Supertrauma zu erschaffen, das alle Zweifel ausräumt. Der mit einem (verbalen oder instrumentellen) Gewalterlebnis zusammengehende Stress führt zu vegetativen Antworten, die ein Überleben sichern sollen. Einen Nachweis, der eine Schilderung beweisend trägt, gibt es nicht. Die soziale Konstruktion eines Traumas besagt, dass der traumatische Stress nicht vollständig abklingt, sondern in Symptomenkomplexen unterschiedlicher Intensität und Dauer sich zu erkennen gibt und wiederholt die psychosozialen Optionen beschränkt, und zwar wesentlich allein für die traumatisierte Person, zuweilen für ihre Mitwelt.
Der Katalog der zusammengetragenen Symptome im DSM-III bis DSM-5 enthält psychosoziale Poststressstörungen, die mit der betroffenen Persönlichkeit durch traumatisches Gedächtnis und sinnliche Stimuli verwoben sind. Nach dem traumatischen Stress finden wir eine Persönlichkeit, die anders ist als vor dem Gewalterlebnis. Grundsätzlich gilt diese Aussage für alle mit Stress verbundenen Erlebnisse. Während letztere als Erfahrung sedimentieren können, sind traumatische Erlebnisse nicht allen Menschen als Erfahrung integrierbar. Sie müssen dazu nämlich in allen Dimensionen verstanden und mit kulturell vermitteltem Sinn verbunden und entschärft werden.
Seit Mitte der 1990er Jahre tritt die komplexe PTBS informell neben die einfache Variante. Womit wird dies begründet? Im Wesentlichen mit der Dauer und fortgesetzten Wiederholung demütigender, schmerzhafter Verletzungen, die Hilflosigkeit hervorrufen. Die Unentrinnbarkeit über längere Zeiträume durch Zwänge wie Folter in Gefängnissen oder Polizeistationen, Geiselhaft, Gefangenschaft in animalischen Verhältnissen, sexuelle Ausbeutung und Sklavenstatus sowie fortwährende Vernachlässigung u.ä. bewirkten eine verzerrte Sicht auf Realität und interpersonelle Beziehungen. Solche Erlebnisse unterschieden sich von einfachen traumatischen Stresssituationen, die ihrerseits sich unterscheiden vom Pflegestress, Arbeitsstress, Verkehrsstress u.ä. und die spontan abklingen, wenn auch nicht völlig symptomfrei. Mensch hat also verschiedene Stufen der Verletzungsursachen bestimmt, um den Schweregrad der nachfolgenden Symptomatik zu charakterisieren und seine Spezifität zu betonen. Darin analog zu stumpfer Gewalt, die eine Prellung, eine Quetschung und eine Fraktur hervorrufen kann.
Wenn mensch sich den DSM-III- Katalog der Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung anschaut und die ersten Beschreibungen und Erzählungen von Lebensgefahr und Todesnähe anhört, so fällt wohl auf, dass die heute der komplexen PTBS zugeschriebenen Symptome auch schon für die PTBS in Anspruch genommen wurden. So scheinen allein die hohen Ziffern von Symptomträgern und das dauerhafte Ausgeliefertsein an die Symptomatik für eine Extrakategorie zu sprechen (so wie Karzinome sich in benigne und maligne unterscheiden lassen). Derealisationen, Depersonalisationen, Suizidneigung, Somatisationen, Dissoziationsstörungen waren aber schon im DSM-III aufgeführt, ferner auch Affekt- und Beziehungsstörungen. Also scheint die Intensität und Dauer der Symptome ein Merkmal der kPTBS zu sein, zentral aber ist dafür das geschilderte Ereignis und seine Wirkung bei ZuhörerInnen, deren Phantasie vor allem signalisiert, dass hier eine zerstörerische Ungerechtigkeit geschehen ist. Der sexuelle Missbrauch (im Kindesalter) mit seiner verzögerten Symptomatik ist seit Judith Hermans Publikationen das bedeutsamste traumatische Ereignis, das 1992 die komplexe PTBS in das öffentliche Bewusstsein gerückt hat. Hermans Anstrengungen wollten die posttraumatische Belastungsstörung aus dem Bereich des Militärkomplexes und der Veteranen nehmen und auf zivile Verletzungen übertragen, die es gestatteten, Ursache und Opfer klar zu unterscheiden, was bei Soldaten nicht ohne weiteres möglich ist.. Jedoch: auch die Zeichen einer Entrückung und eines Verlustes von Identität waren 1980 schon wegweisend für die Diagnose PTBS. Vermutlich wird im Jahre 2022 das ICD-11 die kPTBS als explizite Diagnose enthalten. Eine offizielle Diagnose lässt vermutlich weniger Betroffene übersehen, jedoch auch mehr Personen mit dieser Diagnose versehen.
Hätte mensch schon die Veteranen des Vietnam-Krieges gründlich untersucht und nachuntersucht, wäre mensch auf die Vielfalt der Zeichen gestoßen, die heute für die kPTBS in Anspruch genommen wird. Die diagnostischen Untersuchungen wurden mittels eines Katalogs von Symptomen und Zeichen vorgenommen. Was nicht im dogmatischen DSM stand oder sich nicht durch Fragebögen erfassen ließ, wurde marginalisiert und tauchte dann später als Erweiterung in der Diagnose kPTBS auf. Die Art der Fragebögen und standardisierten Skalen beförderte nur die Ostereier (Diagnosen) zutage, die mensch selbst versteckt hatte. Die notwendige Abgrenzung von Angst- und Panikstörungen, Depressionen, borderline Zeichen, dissoziativen Störungen, Zwangs- und Suchtverhalten, zu denen symptomatische Ähnlichkeiten bestehen, ist bei genauerer (auch historischer) Betrachtung bei der komplexen Form der PTBS genauso festzustellen wie der einfachen PTBS. Mensch darf vermuten, dass die einfache Variante posttraumatischer Befindlichkeiten obsolet geworden ist und von nun ab nur noch von der komplexen PTBS gesprochen werden sollte. Die Dauer des traumatischen Stresses kann nicht Unterscheidungskriterium sein, weil dadurch die individuelle Subjektivität und Resilienzpotenzen, mithin die Vulnerabilität vernachlässigt würden. Subjektivität richtet sich nicht nach Statistiken und Symptomkatalogen und willkürlichen Festlegungen.
Im Rahmen der diagnostischen Zeichen für kPTBS sind keineswegs alle gesammelten Symptome für eine Diagnose erforderlich. Es muss lediglich ein Mindestmaß an Zeichen vorhanden sein, d.h. explizit berichtet werden. Die Variationsbreite für eine Krankheitsbezeichnung ist dadurch deutlich vergrößert. Die existenzielle Bedrohung bei Verletzung der Integrität durch Macht und Abhängigkeit gilt als zentrale Wahrnehmung für beide Formen der posttraumatischen Störung. Eine Differenzierung schafft allerdings eine Expansion des diagnostischen Katalogs. Für Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte, Männer, Frauen und Kinder, haben diese Differenzierungen keine Bedeutung, außer vielleicht für die Dauer der Betreuungsverhältnisse. Jede chronische PTBS oder zur Chronizität neigende posttraumatische Störung lässt sich als kPTBS auffassen und fordert multimodale Therapie- und Betreuungsschritte.