von Sepp Graessner

 

Der therapeutische turn der 70er bis 90er Jahre des abgelaufenen Millenniums, der sich vornehmlich auf psychosoziale Störungen konzentrierte, hat ein intensiv wachsendes Feld erzeugt. Dieses Feld hat sehr erfolgreich Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit stigmatisierenden Normabweichungen etikettiert und Normalisierung durch therapeutische Interventionen und Pharmaka empfohlen. Ohne exaktes Wissen und allein mit ordnungspolitischen Mitteln der Klassifikation und Statistik und an ein aufnahmebereites Publikum adressiert vergrößerte sich das Feld der psychologischen Pathologie. Darüber haben schon viele Frauen und Männer nachgedacht und publiziert (T. Szasz, C. Lane, F. Furedi, T. Dineen, K. Ecclestone & D. Hayes, J.L. Nolan, P. Rieff u.a.m.).

 

Das therapeutische Paradigma ist jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern nur in Verbindung und Abhängigkeit zu anderen und herrschenden Diskursfeldern zu verstehen. Jede Fokussierung auf Therapeutik verengt die Sicht auf die Vielfalt der gesellschaftlichen Wirkkräfte und die Hegemonie der Ökonomie. Dennoch hat der therapeutische turn offenbar seine Verbindung zu ökonomischen Interessen hinter der Inkorporierung von Rationalisierung, Big Pharma, neuen Berufsbildern, Abrechnungssystemen schamhaft versteckt, die nicht in seinem Wesen von Krankheit und Heilung begründet liegen, sondern dem Status quo aus Interessenpolitik und Ökonomie stabilisierend zur Seite stehen. Wenn wir uns von den folgenden drei Sätzen leiten lassen, kann deutlich werden, dass Interessen und Akteure nicht immer sicher zu identifizieren sind, weil sie mit sozialen Absichten und Eigenschaften für sich werben und dazu behauptete Werte von Wachstum, Nachhaltigkeit, Fürsorge und Freiheit hervorrufen. Unsere Ambivalenz, hergeleitet aus wohltönenden Begriffen und therapeutischen Versprechen, öffnet uns für alle denkbaren Illusionen, denen wir bereitwillig folgen wie seinerzeit in Hameln. Damals im Märchen war es eine konkrete Person, heute sind es anonyme think tanks und anonyme Durchsetzungsakteure für Paradigmenwechsel.

 

Als Grundlagenaussagen könnten folgende Sätze verstanden werden:

 

  1. Der Mensch ist verletzlich, ob physisch oder psychisch, in jedem Fall körperlich und materiell.
  2. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Dadurch ist er ein politisches Wesen.
  3. Der Mensch handelt in idealer Weise zweckgerichtet für sich und für seine soziale Umgebung. Vom Nutzen für den einzelnen Menschen soll/muss zugleich der soziale Verband profitieren.

Solche Sätze klingen einleuchtend und gut, haben sich aber trotz einer Aufklärung und eines geforderten Humanismus nicht durchgesetzt. Diese drei Aussagen enthalten nur im ersten Satz eine (vorläufige) Unveränderlichkeit. Die Aussagen 2. und 3. sind seit alters her machtpolitischen Verformungen unterworfen worden.

Die scheinbare Unveränderlichkeit der menschlichen Vulnerabilität hat den modernen Wissenschaften keine Ruhe gelassen. Jedoch: Keine Panzerung, Abschottung und kein Sicherheitskonzept können das komplexe Gebilde Mensch vor Verletzungen bewahren.

Was liegt da näher, als mittels Autorität und Expertise, verborgen hinter Interessen und Definitionskämpfen, Kategorien von Zeichen zu erfinden und zu verkünden, die eine abgestufte Betrachtung der Verletzlichkeiten gestatten und dadurch alltägliche und natürliche Beobachtungen in den klinischen Bereich ziehen? In mechanistischer Weise wird ein Schwellenwert bestimmt, unter dem Verletzungen unbeachtlich sind, während extreme Verletzungen oberhalb des Schwellenwertes therapeutische und korrigierende Behandlungen erforderlich machen wie in der klassischen Heilkunde. Durch Klassifikation von Symptomen und Zeichen lassen sich Cluster zusammenfassen, welche die Bezeichnung Krankheit oder psychosoziale Störung verdienen. Sie tauchen nach Willkür, Gewalt oder Dramen auf, enthalten Unlust, Leiden und Ungerechtigkeit und rufen nach unterschiedlichen Methoden der Linderung. Ein traumatisches Gedächtnis hält negative Erlebnisse fest und kann sie wiederholt an störende Affekte koppeln, dasselbe Gedächtnis verfährt in vergleichbarer Weise mit positiven Erlebnissen und angenehmen Affekten. Die moderne Wissenschaft hat diese Effekte von Erlebnissen zu Forschungsgegenständen erklärt, kommt aber kaum über den Kenntnisstand des Barock hinaus.

 Durch die unverwüstliche Trennung von Körper und Psyche wurde mit der Konstitution der Seele ein menschlicher Äußerungsbereich geschaffen, der nicht ohne weiteres sichtbar oder messbar ist, sondern aus der interpersonellen Kommunikation entspringt und damit Subjektivität ermöglicht und konstituiert. Auch in diesen Bereich lassen sich Normen und Abweichungen einziehen. Hinter solchen Bemühungen stehen Interessen, Neugier und Akteure, die ihre Sicht aus unbegründetem Konsens gesellschaftlich durchsetzen wollen. Eine Rückschau auf das Kernanliegen des therapeutischen turn kann deutlich machen, dass es unbestreitbare Parallelen zum Niedergang der Jugendrebellion und einer Politisierung breiter Schichten gegeben hat, die mit individualistischen Strategien in den Bereich von Störungen des Verhaltens gezogen wurden. Das DSM (Diagnostische und Statistische Manual) der US-amerikanischen Psychiatervereinigung erzielte somit innenpolitische Wirkungen. Das soziale und politische Subjekt – große Teile der Jugend und Kapitalismuskritiker - wurde mit zahlreichen Krankheitsstörungen überzogen und zum therapiebedürftigen,  vulnerablen Objekt gemacht. In diesem Zusammenhang erhielt das Wort „Opfer“ eine scheinbar verständnisvolle und entlastende Funktion, bis es nach der Jahrtausendwende von Benachteiligten entlarvt wurde und zum Schimpfwort mutierte.

Nach dem Ende des Vietnamkrieges traten wie nach allen Kriegen psychosoziale Auffälligkeiten bei Veteranen und Hinterbliebenen auf. Der US-amerikanische Widerstand der Veteranen und seine Verbindung zur Jugendrevolte leitete in so großem Stil die Pathologisierung von Verhalten ein, dass die Jugend insgesamt mit klassifizierten Störungen überhäuft wurde. Selbst das frühe Kindesalter blieb nicht verschont. Politische Einflüsse sind hier nicht zu leugnen. Wer sich mit seinen/ihren Störungen befasst, kommt nicht auf dumme Gedanken. Therapeutische Korrektur machte sich nach der Etablierung des therapeutischen turns startbereit. Fragebögen und standardisierte Kataloge und screenings waren atemlos entwickelt worden und harrten ihrer oberflächlichen, grob orientierenden Anwendung. Die Neubenennung von unzähligen Störungsbildern, die der Psychiatrie und Psychologie überantwortet wurden, trieb dann erfolgreich die vulnerablen Subjekte in die Arme der Pharmaindustrie und den politischen Charakter der Subjektivität (Friedfertigkeit und Gerechtigkeit) in den Marathonlauf der Selbstverbesserung und Konkurrenz. Die dogmatische Behauptung einer Messbarkeit und bildlichen Darstellung definierter psychischer Störungsbilder produzierte verletzliche Objekte, denen wegen ihrer Verhaltensstörungen der Subjektcharakter abgesprochen wurde. Die Verantwortung lag nunmehr allein beim Individuum. Niemand konnte und sollte als aktive Kraft identifiziert werden. Ein Zusammenspiel mehrerer Wirkkräfte hatte eine Lebenswelt entstehen lassen, die durch Optimierung, Extremanpassung, geschmeidige Teilhabe am Wohlstand und massiver Belastung auf der einen Seite sowie durch eingeschrumpftes Sozialverhalten, Armut, Verdunklung aller Perspektiven auf der anderen Seite gekennzeichnet ist.

       Zahlreiche Berufe außerhalb der Psy-Wissenschaften und ihre Ausbildungen sollen mit Techniken vertraut gemacht werden, die eine Vordiagnostik und Überweisung an ExpertInnen erlauben. Sozialarbeit ist nicht mehr hauptsächlich Arbeit an der materiellen Wohlfahrt von Klienten. Vielmehr richtet sie ihren Blick in oft übergriffiger Weise auf psychosoziale Befunde, die eine Unterstützung erleichtern oder erschweren können. Im (Vor-)Urteil oder der diagnostischen Annäherung liegt stets ein verborgener Anteil an Überlegenheit, wenn das Innere oder Intime eines Klienten über die Berechtigung von Hilfsleistungen entscheiden. Das, was unter Freunden erlaubt ist und unter reziprokem Vorbehalt steht, gilt nicht für Berufe, die sich an der Ausleuchtung psychosozialer Beschwerden beteiligen, aber keineswegs fachlich hinreichend ausgebildet sind. Umso erstaunlicher erscheint die Beobachtung, dass immer mehr SozialarbeiterInnen sich zu den Psy-Wissenschaften hingezogen fühlen. Wenn die materielle Situation von Klienten (Flüchtlinge, Asylsuchende) kaum verbesserbar ist und der Dschungel der Vorschriften undurchdringlich, dann erscheint die direkte Einflussnahme auf Geschichtsdeutung und psychische Beschwerden im kommunikativen Kontakt deutlich lohnender. Dann gelten das selbstverordnete Ethos und nicht behördliche Begrenzungen.

       Der therapeutische turn hat mit wachsenden Diagnosen und Beschreibungen von Syndromen für eine Ausdehnung der Anwendungen und Patienten gesorgt. Er hat zugleich ein methodisches Wachstum initiiert, indem Kunst, Musik, Bewegung, Gartenbau und –pflege in den Rang von Linderungsstrategien gegen psychosoziale Leiden gelangten. Expansive Tendenzen ergaben sich durch Weiterbildung, Workshops, Supervisionen. Im Rahmen von Pandemien werden Staat und Verwaltung zum Obertherapeuten, was sie eigentlich durch Gesundheits- und Seuchenpolitik sowie Vorschriften der Früherkennung und Impfung schon immer waren. Nun aber in strahlender Sichtbarkeit und mit der Fähigkeit, ein- oder auszuschließen.

Die Psychologisierung und Therapeutisierung erhält eine Weltdimension, indem ExpertInnen für Trauma und psychosoziale Verwerfungen aus ihren Kenntnissen und Überzeugungen ein ideologisches Exportgut gemacht haben, das als Voraussetzung homogene Betrachtungen von Psyche fordert. Homogenität nach westlichen Zuordnungen ist nichts anderes als eine Form der neuen Kolonisierung und der westlich inspirierten Reduktion von Leiden.

       Wer innerhalb des therapeutischen turns bewusst oder unbewusst die politische und historische Zweckhaftigkeit teilt und weiterentwickelt, wird nicht die Spannung zwischen Makroebene und Mikroebene vermeiden können und sich beiden Phänomenen stellen müssen. Klimakrise, nukleare Bedrohung, Wasserknappheit, neokoloniale Wirtschaftspolitik, globale Ungleichheit, medial vermittelte Apokalypsen aus aller Welt sind Makroeinflüsse auf viele Gesellschaften und ihre Mitglieder. Die mikropolitischen Einwirkungen, die sich gleichfalls verstörend auf das individuelle emotionale Befinden zeigen, bilden den Hintergrund für therapeutische Ansätze. Die Makroebene, auf der sich eine Neigung zu Verletzungen vorbereitet, lässt sich durch TherapeutInnen nicht beeinflussen. Daran ändern auch diverse Resolutionen von Berufsverbänden nichts. Aber die alleinige Verlagerung auf die Mikroebene, auf das traumatisierte Innere von Individuen löst keine unterschwelligen Angstauslöser auf, die von der Makroebene ausgehen. So wird Flugangst zur Krankheit erklärt, die durch Statistik ermittelt wurde. Statistik als falsche Erklärungsursache kann jedoch keine Abhilfe schaffen. Angstkrankheit konnte sich immer öfter auf die Pillenindustrie verlassen.

       Die in den 1980er Jahren entstandenen und weiterentwickelten Initiativen zur Sozialberatung in Nachbarschaft und Stadtteil hatten noch nicht das bohrende Interesse am Innenleben der Ratsuchenden. Sie wandelten ihren Charakter in dem Maße, wie definierte Problemkomplexe spezielles psychologisches Know-how erforderlich zu machen schienen und von der lautstarken Förderung der Medien profitieren konnten. Von nun an ging es um Wege zur Therapie für auffällige Kinder, Drogenabhängige, Sexualdelinquenten, Traumatisierte und Schutzbedürftige. Das Angebot schuf und befriedigte die Nachfrage. Der Markt expandierte.

 

So viele Phänomene, die den therapeutischen turn begleiten, können nicht zufällig oder durch innere Dynamiken entstanden sein.  Ihre politische Dimension lässt vielmehr einen unkoordinierten Gleichklang und eine Zweckgerichtetheit annehmen. Wohin aber treibt der auf Klassifikationen beruhende therapeutische turn, der sich in oberflächlicher Weise auf das binäre „Gut“ und „Störend“ bezieht und dazu eine Industrie für wellness und enhancement entwickelt hat, den schönen Schein zum Selbstbetrug, der den Wandel vom Subjekt zum Objekt deutlich macht? Das rasante Wachstum an Diagnosen von der zweiten Auflage des DSM bis zur fünften macht nahezu jeden zum abweichenden Störer. Über die genannten Expansionsschritte hinaus produzierten die Diagnosenkataloge eine Fülle von Daten, die das Innere von Individuen ausleuchteten und einen umfassenden Pool zur Beeinflussung und Korrektur abweichenden Denkens und Verhaltens bildeten. Daten werden zur modernen Variante der Beichte. Der Wert eines Menschen stützte sich nun auf Daten, deren maschinelle Aufbereitung zu einer radikalen Selbstauslieferung des Menschen führen wird. Jeder Mensch soll seiner Subjektivität misstrauen. Von therapeutischer Gesellschaft kann nur sprechen, wer den Machtaspekt verschweigt.

       Greifen wir nochmal die o.a. Sätze auf und korrelieren sie zur (Neben-)Rolle des therapeutischen turns:

  1. Der therapeutische turn hat aus sicher schwärmerischen politischen Subjekten durch Psychologisierung und Pathologisierung entpolitisierte Objekte gemacht oder wesentlich dazu beigetragen, weil Verantwortung in sozialen Bezügen auf individuelle Anstrengungen zur Abwehr der eigenen Vulnerabilität umorientiert wurde. Damals ging die Erzählung um, man müsse zuerst und jetzt endlich etwas für sich selbst tun und von Rebellion Abstand nehmen. Berufsverbote und ihre Androhung schlossen viele Rebellen für den verordneten Mainstream auf.
  2. Neoliberale Narrative von Wettbewerb, Effizienz, Effektivität und Konkurrenz wurden zum Selbstbild der Jugendgeneration: die Ellbogengesellschaft machte die Runde. Mit der Abnahme der sozialen Qualitäten ging viel Energie für politische Aktivitäten verloren. Die Ziele wurden verschwommener.
  3. Indem die Zwecke beruflichen und gesellschaftlichen Handelns sich auf egoistische Bemühungen von Selbstverbesserung und Optimierung konzentrierten, ging der Organisationsgrad verloren und damit das soziale Korrektiv in der Gemeinschaft. Die individuellen Anstrengungen führten über eine stressige und überlastende Selbstausbeutung direkt in die bereitgestellten Kataloge pathologischen Verhaltens und pathologischer Wahrnehmung von Realität. Überall entstanden Reha-Einrichtungen zur Behandlung von stressinduzierten Überforderungssyndromen. Der Nutzen für die Allgemeinheit steuerte auf Null zu. Ausgebrannte Existenzen konnten soziale Qualitäten nicht mehr aus sich hervorbringen. Die Verwertung solcher Menschen durch die Ökonomie hatte ihren sozialen Wert getilgt.

 

Ich habe gern mit distanziertem Blick auf meine Überlegungen geschaut. Dabei war ich bei meinen Beobachtungen frei von paranoischen Impulsen und Verschwörungsmythen.