Wenn mensch über Psychotraumata nach Gewalteinwirkung nachdenkt und seine Winkel ausleuchten möchte, kommt mensch um eine Betrachtung des mikrosystemischen und des makrosystemischen Zugangs zum Thema nicht herum. Das ist im allgemeinen Verständnis der Abstand zwischen Biologie und kultureller Prägung, die jeweils zugleich in funktioneller Wechselwirkung stehen. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Diagnose umfasst und beansprucht scheinbar beide Enden. Sie formuliert Gesetzmäßigkeiten und deren Widerruf durch Erfahrung. Jeder Mensch werde durch passive Gewalterlebnisse so sehr erschüttert, dass er nur noch durch umfangreiche schmerzlich empfundene Symptome antworten könne. Diese Aussage widerspricht der Erfahrung und der Statistik. Aktive Gewaltausübung kann offenbar nur in Ausnahmefällen erschüttern. Insgesamt lebt PTBS von einer verunglückten Bedeutung, die wie ein Schwamm Uneinheitliches (individuelle Sozialkommunikation, individuelle Geschichte und materielle Physiologie) als unmessbare  Merkmale aufsaugt. Auf diese Problematik kam ich schon wiederholt zurück.

Das Psychotrauma, das anlässlich einer militärischen Niederlage der USA offiziell in Form des ICD-10 und des DSM-III in die psychiatrische Nosologie eingeführt wurde, hat schon Jahrtausende zuvor eine nicht-klinische Bezeichnung getragen: Katastrophe, Drama, Schmerz, Verlust, Verfolgung, Vertreibung und vieles mehr wie Armut, Hunger, Frieren oder Kindersterblichkeit.

Das Psychotrauma zeigte auch schon vor der psychiatrischen Kanonisierung biologisch generierte Symptome. Allerdings war die Beziehung zu Stress und seinen physiologischen Wirkungen und Reaktionen nicht bekannt. Das gelang erst der Wissenschaft im 20. Jahrhundert mit dem Fortschritt der Physiologie, der Endokrinologie und der Betrachtung des Körpers im technisch unterstützten Experiment. Dabei ging es nicht ohne Willkür ab, weil ein gewisser Ordnungsfanatismus normale Poststressreaktionen von pathologischen abzugrenzen sich veranlasst sah, ohne präzise Grenzen benennen zu können. Diese Unklarheit erlaubte das Vordringen machtpolitischer Einflussnahmen. Die Wissenschaft vom Stress (als Lebensbegleiter, als Motor der Ausbeutung von Selbst und Anderen oder zur Gefahrenabwehr) war und ist ein westliches Projekt. Sie ist durch einen westlichen Beobachter und Interpreten, einen Experimentator und einen einordnenden Auswerter charakterisiert. Alle diese Funktionszustände haben einen zeitlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, der festlegt, was in der Gestalt des Psychotraumas verletzt wird. Die neuronalen Prozesse sind Resultat bestimmter Erlebnisse und Wahrnehmungen. Sie sind nur als Hilfsmittel am Verletzungsvorgang beteiligt. Sie sind die Überbringer schlechter Einflüsse. Verletzt werden kann nur, was schon in codierter Form im Inneren eines Menschen vorliegt. Die sozial erworbene Phantasie kann unsichtbare Verletzungen vorgaukeln, wenn Gewinne damit verbunden sind.

So stellt sich die Frage, was im Zentrum, im Kern des subjektiven Schmerzes  als Psychotrauma steht. Wir leisten uns jetzt eine ketzerische und nicht-empirische Erklärung des Traumas:

Psychotrauma ist die erzwungene Infragestellung des sozial erzeugten und kulturell geformten Selbstbildes, in dem alle Farben, Lichtpunkte und Schatten Sicherheit und Vertrautheit zu garantieren schienen. In der US-amerikanischen Gesellschaft, die Trauma mit psychiatrischer Bedeutung auflud, handelt es sich um ein sehr verbreitetes Bild von Macht, Größe, Überlegenheit und Anspruch auf Wohlstand und Unversehrtheit. Bild und Person können verschmelzen, sodass unklar bleibt, ob das Bild die Person oder die Person das Bild regiert. Vor den Anhängern dieses Bildes kann mensch berechtigtes Unbehagen verspüren. Wenn dieses Bild plötzlich und unerwartet durch Gewalt/Macht beschädigt oder zerstört wird, soll eine Neujustierung des codierten Selbstbildes erfolgen, was nur unter Verringerung von vielfältigen Symptomen und Zeichen zu realisieren sei.

Dieses Bild in Gestalt von neuronalen Verknüpfungen trägt ein Mensch im Inneren (Körper, Gehirn). Es existiert als luftige, abstrakte Begrifflichkeit abgelöst von materiellen Bedingungen, nicht fassbar als Menschenwürde, Individualität und Recht auf Rechte. Daher ist es ein Bild, das von der weißen Mittel- und Oberschicht erzeugt wurde. Dazu gehören auch die mehrheitlich weißen Psychiater, die eine posttraumatische Belastungsstörung aus ihren Anschauungen und ihren Vorstellungen erfanden und katalogisierten. Wer neue Begriffe einführt, ohne ihre Weltverbindlichkeit zu berücksichtigen, trennt und schließt aus. Afroamerikaner und Lateinamerikaner konnten daher nicht ihre materielle Situation in den Diskurs einbringen, weil Psychotrauma 1980 ohne Materialität auskommt. Unerkannte und fehlende Materialität trägt im Westen attraktive Züge, weil dadurch der Rückgang religiöser Überzeugungen kompensiert werden konnte. Daher sind nach westlichem und weißem Verständnis weder Armut und beschränkte Lebensdauer noch Krankheit und Ausgeliefertsein an Naturphänomene als Psychotrauma im katalogischen Sinne des DSM qualifiziert worden. Wer hier hintergründige rassistische Motive erblickt, kommt vielleicht einem strukturellen Rassismus auf die Spur, den er/sie nicht nur im polizeilichen Denken und Handeln findet. Auch Diagnosen bieten als Voraussetzung für Urteile über Mitmenschen Machtpositionen, Exklusionen und Machtmissbrauch.

Abpfiff!