Komplexe Kausalität
Die Seife rutscht unter der Dusche aus der Hand, weil sie nass und glitschig ist. Wir alle kennen diesen Vorgang. Daher ist der kausale Zusammenhang einleuchtend. A verursacht B. Die Beschaffenheit der Seife ist der hinreichende Grund für das Entgleiten. Die Hauptarbeit besorgt die Gravitation.
Die Erfahrung einer andauernden Demütigung im Rahmen existenzieller Bedrohung führt nach landläufiger Auffassung (seit ca. 1980) zu langwährenden Symptomen unterschiedlicher Ausprägung. Diese sind in übersichtlicher Weise aus der Vorstellung und Erfahrung von Experten in ihrer Unsichtbarkeit katalogisiert worden. Niemand möchte die fortdauernden Symptome ertragen, die an einen passiven und mit Leiden verknüpften Status gebunden sind. Sie werden Trauma, Störung, Krankheit genannt. Eine Kausalität zwischen Erniedrigung und nachfolgenden Symptomen halten wir für gegeben, wenngleich nicht alle extremen Ereignisse von allen Menschen erfahren werden und gänzlich in der bewusst abrufbaren Erinnerung bleiben, aber in angenäherten oder ähnlichen Erlebnissen zum Leben gehören. Das heißt nicht, dass mutwillig erzeugte, angewandte Gewalt zum Leben gehören muss. Sie verletzt oder beschädigt ein Ding oder eine Person. Und fordert die Frage heraus, ob die Gewalt und Demütigung notwendig waren, wenn man das Resultat betrachtet, und wie das Gewaltpotential sich in einem aktiven Körper versammelt hat, wenn es nicht um Überleben geht, sondern allein um Macht über Körper und Seele.
Unsere antizipierende Vorstellung von angst- oder panikgetriebenen Verhalten mit geschilderten entsprechenden Symptomen lässt uns allerdings scheinbar sicher sein, dass eine solche Begründung richtig ist, weil wir alle die mannigfaltigen Aggregatzustände der Angst und Furcht kennen.
Aus allgemeiner Erfahrung wissen wir, dass eine solche Kausalität nicht zwingend eintritt. Nach definierten Erlebnissen können Menschen zusammenbrechen oder nach kurzer Zeit wieder unauffällig funktionieren. Daher kann niemand mit hinreichender Sicherheit eine kausale Beziehung zwischen Ereignis und nachfolgender Symptomatik herstellen. Man wird zwischen Fortissimo und Pianissimo der Symptomantworten unterscheiden müssen. Eine mechanistische Beziehung anzunehmen, wäre nicht in die Logik der Erfahrung (Evidenz) eingebettet.
Es ergeben sich Einflussfaktoren, welche die Zeit, die wahrgenommene Intensität, die kulturelle Zugehörigkeit, die Semantik der sprachlichen Ausdrucksform und eine Reihe anderer Faktoren umfassend betreffen, wobei die soziale oder antisoziale Situation nach dem Ereignis bedeutsame Rollen in der Selbstwahrnehmung einer traumatisierten Person spielen. Bei dem Prozess, den wir traumatisches Erlebnis nennen, kommt es zu einer physischen Beeinflussung des Inneren eines Menschen und seiner Sinne sowie neuronaler Strukturen samt Synapsen und Transmitter durch äußere Einwirkung, die im Allgemeinen von anderen Menschen intendiert wurde oder aus Zufall resultierte.
Das heißt: Hat eine Gewalteinwirkung oder existenzielle Bedrohungssituation den Körper eines Menschen (Tieres) erreicht, wird der weitere Vorgang von Sinnesorganen und Nerven übernommen. Zu diesem Zeitpunkt ist das, was wir reaktive Psyche nennen, noch gar nicht in Aktion. Wenn wir die Gewalteinwirkung antizipieren, z.B. durch verbale Drohung oder Gefangenschaft, wird je nach Bewusstseins- und Erfahrungszustand eine von der Psyche geleitete neuronale Vorbereitung als neuronale Verknüpfung hergestellt. Diese Vorbereitung kann von Stärke oder Resignation gekennzeichnet sein, von Widerstand oder Selbstaufgabe. Wenn wir davon ausgehen, dass den psychologischen Vorbereitungen neurobiologische Prozesse zugrunde liegen und die unmittelbare Einwirkung von bewusst erlebter Gewalt ebenfalls neurobiologische Reaktionen hervorruft, dann müssen wir die Struktur der Neurobiologie betrachten, um zu Klarheit zu gelangen.
Es muss folglich dem neurobiologischen Mechanismus zugerechnet werden, dass unterschiedliche Verhalten nach traumatischen Erlebnissen auftreten. Obwohl Menschen über Gehirn und Neuronennetzwerke verfügen, tritt die Ausdrucksweise dieser Netzwerke nach traumatischen Verletzungen nicht in derselben Weise als Emotion, motorische Handlung oder Symptome zutage. Man darf folglich nicht davon ausgehen, dass im Arbeitsmechanismus des Neuronennetzwerkes eine hinreichende Begründung für eine unterschiedslose Reaktionsweise nach traumatischen Erlebnissen liegt. Das bedeutet, dass ein rein biologischer Determinismus ausscheidet. Biologie ist immer beteiligt, wenn es um lebendige Prozesse geht. Bei dem Phänomen, das wir Trauma nennen und ins Innere eines Menschen verlegen, müssen wir jedoch auf einen Alleinerklärungsanspruch verzichten. John R. Searle kann dies alles besser und überzeugender erklären.
Man darf daher folgern, dass weitere Faktoren die Unterschiedlichkeit der Reaktionen und Folgeverhalten bewirken. Wenn mit einer gewissen Distanz (nach der peritraumatischen Situation) das eigene Bewusstsein traumatische Verletzungen registriert oder zu erfassen sucht, werden unterschiedliche Selbstbetrachtungen, Fragen und Bedeutungszuschreibungen einsetzen. Nun beginnt der psychische Prozess durch Aktivierung von Neuronenpotenzialen, mit der ein Trauma Teil der Person durch Gedächtnisaktivität wird. Dieser Prozess ist abhängig von vorausgegangenen Erlebnissen und deren (erfolgloser) Integration. Hier beginnt also Subjektivität, die in ein Leiden und eine individuell generierte Erzählung mündet. Dieser Prozess und sein weiterer Verlauf sind ferner abhängig von Zwecken, die mit der Veröffentlichung von erlebter Ungerechtigkeit, Erniedrigung und Kernverletzungen angestrebt werden, also: Gesundheit, Anerkennung, Reparation und Bestrafung des Verursachers. Sind diese vier Zwecke nicht erfüllt, führt das Trauma ein Maulwurfsdasein im Bewusstsein. Das Bewusstsein gräbt neue Gänge als neue Betrachtungsweisen desselben Traumas. Diese sind von der Wahrnehmung des diskursiven Zeitgeistes beeinflusst und von Menschen, die sich um den/die Traumatisierte/n gruppieren.
Wir gehen davon aus, dass es unterschiedliche Betrachtungen von komplexen Ereignissen gibt, die nicht nur passive von aktiven Folgehaltungen differenzieren, sondern auch viele unterschiedliche Betrachter konstituieren. Verdränger, Verleugner, Resignative, Kämpfer, Widerständler sind nur einige davon. Therapeutische Unterstützung wollen nur wenige, wenn sie ihren Status quo ante wiederherstellen wollen, obschon dies zweifelhaft ist, weil es auch in der erbarmungswürdigen Lebendigkeit kein Zurück gibt. Es gibt nur neu zusammengesetzte Situationen (außer bei Robotern).
Aus dem geschilderten Ablauf und den genannten Gründen findet im Allgemeinen eine lineare Kausalität zwischen traumatischem Ereignis und dem Folgeverhalten und Folgeempfinden nur mit verkürztem Denken, einäugiger Betrachtung und formaler, ritualisierter Empathie statt. Dabei ist noch völlig offen, was eigentlich verletzt wird. Vermutlich handelt es sich um evolutionäre Normen, die Koexistenz und Kooperation ermöglichen und von anderen sozialen Normen unterschieden sind. Wie der Mechanismus verläuft, bleibt derzeit gleichfalls unergründet. Die mikrosystemischen Bestandteile lassen sich benennen, ihre innere Beziehung, die komplett unbewusst bleibt, bewirkt zum großen Teil die individuelle Reaktivität nach extremem Stress, und diese Reaktivität ist aus Zufällen und nicht steuerbaren Prozessen entstanden. Keine künstliche Intelligenz kann Zufälle berechnen.