Die folgenden Bemerkungen versuchen, die Gedanken im 26. Einwurf – das Weißsein und Westlichsein als Ursprung der posttraumatischen Belastungsstörung - zu differenzieren. Dabei kann es zu spekulierenden Ausflügen kommen.

Die Bewertung traumatischer Inhalte und Folgephänomene möchte sich am realen Wahrnehmbaren orientieren und nicht ausschließlich den Verletzungen der inkorporierten Wünsche und Weltbetrachtungen nachspüren und nachtrauern. Urteile und Bewertungen können dies nur begrenzt, denn die Intensität und Eindringtiefe eines traumatischen Erlebnisses wird stets in einem Übersetzungsvorgang von der sinnlichen Beschädigung in Sprache berichtet und ist von außen mit menschlichen Sinnesorganen nicht eindeutig zu verifizieren. Die subjektiven Reaktionen auf verletzende Ursachen können statistische und beschreibende Ähnlichkeiten aufweisen, die Annäherungen an das psychische Befinden repräsentieren. Sie können aber niemals Exaktheit erzielen. Dadurch öffnet sich hier eine Lücke für Spekulationen.

Die Erschütterung, die einem traumatischen Erlebnis von Willkür und Gewalt folgt, zeigt in zwei Richtungen: einmal auf die bewusst oder fahrlässig verursachenden Akteure und zum zweiten auf die Wünsche und Illusionen, die als eine fragwürdige Realität erschüttert werden. Beide Faktoren sind an den traumatischen Folgen beteiligt: die reale Gewalt und das reale Sicherheitsbedürfnis; und das unabhängig von technischen, Naturkatastrophen oder man-made-disaster. Wovon und was wird erschüttert, so dass Erschrecken und Hilflosigkeit resultieren? Es ist fraglos eine ausweglos erscheinende Bedrohung des Lebens, die hilflos macht, und das Erschrecken weist auf die unzureichende Weltbetrachtung hin: Die Welt ist nicht so, wie meine Routine mir vorgegaukelt hat.

Erschütterung von Sicherheit und Weltvertrauen (als These) enthält Anzeichen von Schichtenspezifika, wenn man sie mit Risikofaktoren in Beziehung setzt, die nicht nur berufsbedingt sein müssen. Je weniger das Leben Illusionen erlaubt (durch Armut, Diskriminierung, Chancenungleichheit, permanente Ablehnung usw.), desto geringer können die traumatischen Folgezustände ausfallen. Sie erzeugen ein pessimistisches Weltbild, das im Trauma auf andere Weise erschüttert werden kann als eine optimistische Weltbetrachtung. Ein Mittelschichtsangehöriger wird Ansprüche auf Unverletzlichkeit stellen. Er wächst mit Vorstellungen auf, die eine Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit der Welt undeutlich, blass oder unbewusst machen lassen. Die Schlechtigkeit kommt kaum in die Nähe der Wahrnehmungen. Um so größer fällt die Desillusion aus, wenn die Welt ihr gewalttätigen Gesicht zeigt. In der Familie als sozialer Prototyp wird seit Freud aus psychiatrischer Sicht ein Bild oder ein Modell erzeugt, das idealtypisch Sicherheit zu garantieren scheint. Gesundheit gibt es nur in Sicherheit, weil ein Organismus in Aufruhr Wege in die Krankheit findet.

So weist die Pyramide Abraham Maslows eine elementare Betrachtung innerer Prozesse aus, die nicht für alle Menschen in einer Gesellschaft gelten. Grund- oder Existenzbedürfnisse mögen aus primärer Abhängigkeit noch gleich sein. Ein Gefühl der Sicherheit und die Gestaltung eines Sozialbedürfnisses werden sicherlich unterschiedlich ausfallen, und die Erfahrung von Anerkennung und Wertschätzung dürfte nicht in gleicher Weise erfolgen. Die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung (was immer das ist) sind auch ungleich verteilt. Es lassen sich folglich sozial angeeignete Faktoren benennen, die das Bollwerk bilden, mit dem psychischen Traumata begegnet wird. Die behauptete Einheitlichkeit innerer Prozesse rührt aus dem Verständnis der Erfinder der Diagnose, für Freud die sprachmächtige Familienstruktur, für US-Vietnamveteranen der abgefragte Symptomenkatalog.

         Untersuchungen an Vietnamveteranen zeigten auf sehr unterschiedlich verteilte Schutzfaktoren nach traumatischen Erlebnissen, darunter fand sich: eine enge Beziehung zu den Eltern, ein Collegeabschluss, ein hoher sozioökonomischer Status und eine japanisch-amerikanische Ethnizität, die vielfältigen salutogenetischen Einflüssen unterliegen mag, immerhin ein Hinweis auf andere kulturelle Muster von Traumabearbeitung.

Selbstverständlich können Mitglieder aus allen Schichten traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sein und an den Folgen leiden, für die situative und biographische Faktoren verantwortlich sind und nicht etwa ein göttlicher Einfluss. Hier wird lediglich auf eine Lücke bei der Konzeption der Diagnose aufmerksam gemacht, die eben nicht nur psychische Symptome nach angeblich spezifischen Erlebnissen hervorbringt, sondern zugleich eine Entwicklungs- und Sozialgeschichte erzählt und von zahlreichen Risikofaktoren geprägt wird, so dass sie eigentlich nichts in der Psychiatrie verloren hat (oder dort verloren geht).

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass alle Überlegungen zu Psychotraumata, deren Phänomenologie und allumspannende Ausdehnung ein primäres US-amerikanisches Produkt sind, das die Mittel- und Oberschicht von ihren eigenen psychischen Mechanismen entworfen hat. Wer forscht, setzt auch die Maßstäbe und erhält durch seine Interessen bestimmte Resultate innerhalb der Humanwissenschaften. Die US-amerikanische Neuerfindung wurde aus diesem Grunde in der westlichen Welt mit offenen Armen aufgegriffen. Sie wurde nicht am Amazonas oder am gelben Fluss erfunden und in unser Denken integriert. Die Selbstreflexion der US-amerikanischen Intelligenz mit ihrer Öffnung für Machtfragen und politische Anliegen bringt mit überzeugender Gewissheit eine Vorstellung psychischer Verletzungen auf den Markt und stellt zugleich Universalität fest. Das begünstigt missionarischen Eifer.

Man stelle sich einmal vor, Afroamerikaner*innen hätten nach Jahrhunderten der Sklaverei oder Lynchmorden, vorenthaltener Lebens- und Bildungschancen ein psychisches Befinden beklagt und eine Diagnose im öffentlichen Gesundheitswesen gefordert, die ihnen Gerechtigkeit und Reparation zugestehen würde. Ihre Diagnose war der Blues, den man unterhaltsam genießen konnte, aber nicht als tiefe Verletzung der Menschlichkeit anerkannte. Insofern haben Gedanken und Realisationen  zu psychischen Traumata erst mit dem Verlust des Krieges in Vietnam und den sinnlosen Verlusten an Menschenleben an den Selbstbildern der amerikanischen Gesellschaft gerüttelt, die mit fleißiger Forschung und dem Anspruch auf Definitionshoheit eine Diagnose in den Diskurs einbrachte, die zugleich den gesellschaftlichen Trauerprozess (mit Hilfe von Hollywood) abkürzen und allmählich durch Umdeutungen unbewusst machen konnte. Die perverseste Art der Verleugnung ist die Pathologisierung. Indem die bürgerliche Psychiatrie sich diese Diagnose aneignete und sich ihrer bediente, war der akademische Sektor von Psychologie und Therapeutik der passende Ausdruck einer schichtenspezifischen Bearbeitung von traumatischen Erlebnissen, weil es schlicht Zugangsbeschränkungen zu Therapeut*innen gab. Für die Masse blieben Beratungsstellen reserviert oder die Kliniken für Veteranen. Etliche Oberschichtsangehörige waren vom Dienst in Vietnam befreit worden oder hatten sich erfolgreich zur Nationalgarde abgesetzt.

Daher war es das Weltbild der US-amerikanischen Ober- und Mittelschicht, das sich durch die eifrige Tätigkeit von Psychiatern, Militärs und Pharmaindustrie sowie Versicherungskonzernen (überwiegend Männern)  in einer Diagnose zu posttraumatischer Störung kristallisierte. Es entstand, so kann man ohne Übertreibung sagen, ein kulturelles Dogma, das Delphi in nichts nachstand. Es war keineswegs so, dass eine Verletzung des universellen Organismus durch Willkür und Gewalt zur Grundlage gemacht wurde. Vielmehr waren es die Vorstellungen und Absichten der Mitglieder der Kommission, die den Katalog der posttraumatischen Symptome herausgaben. Das Weltbild war offensichtlich so überzeugend, dass es bereitwillig von der westlichen Intelligenz übernommen wurde, die es mit dem Menschenrechtsdiskurs der Aufklärung verband. Das lässt sich kaum kritisieren. Bezweifeln lassen sich die universellen Dimensionen, die in Gesellschaften, die nicht das atomisierte Individuum favorisieren, Unverständnis hervorrufen. Ferner das US-amerikanische Weltbild von Überlegenheit, göttlicher Ausgewähltheit, paranoidem Sicherheitsbedürfnis und gleichzeitiger Naivität, das es von vielen Menschen dieser Erde und von deren Erfahrungen trennt. Wenn nun aber andere Menschen andere Erfahrungen von Bedrohungen und täglicher Mühsal machen, wie können dann Kategorien westlichen Erlebens und Leidens auf diese Menschen angewandt und übertragen werden? Die westliche Sicht steht in den exportierten Lehrbüchern, sie wird auf internationalen Kongressen vertreten, sie verkörpert den Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit. Nie wird über die Lücken im posttraumatischen Gedankengebäude gesprochen. Vielmehr trat eine Ausdehnung der Applikationen ein: erst die Komorbiditäten, dann die Traumatisierung des Augenzeugen und schließlich Erweiterung um atypische Symptome zur komplexen Belastungsstörung. So wurden die Lücken nach 1990 verdeckt. Lebensbedrohung ist keineswegs mehr der notwendige Auslöser für die Symptomatik. Allerdings kommen Kränkungen, Mobbing, Diskriminierung, quälende Armut und sozialer Ausschluss nicht in den Bereich klinischer Wahrnehmung, obwohl sie kumulative Wirkungen erzeugen können. Es handelt sich um gesundheitsbeschränkende Einflüsse, die nicht von den Betroffenen zu verantworten sind, gleichwohl kann ihr Inneres und Intimes zum Seziertisch werden, an dem aber eher Soziologen als Mediziner stehen sollten.

Aus der westlichen Bewertung der Rolle der traumatisierten Psyche leitet sich eine Verkümmerung der Entstehungsgeschichte menschlicher Psyche ab. Die Psyche führt kein Eigenleben neben dem Körper. Sie ist nur mit dem Körper in sozialen Situationen wahrzunehmen. Die Psyche ist ein Resonanzkörper, der sozial erfahrene sinnliche Wahrnehmungen zum Schwingen bringt. Dieser Reaktions- oder Resonanzkörper entsteht mit dem Fortschreiten des Lebens und der Wahrnehmungen. Er formt sich aus Erlebnissen, die zu Erfahrungen wurden und bildet bewusste und unbewusste Handlungsmotive. Auch der Körper reflektiert in seinem Ausdruck und seiner Haltung soziale Inputs ( z.B. krumm, grade, stolz, unterwürfig). Daher erscheint die Verkürzung von traumatischen Erlebnissen zu rein psychischen Folgephänomenen am Eigentlichen vorbeizugehen, zumal nicht nur die Entstehung psychischer Verletzungen aus dem Sozialen entspringt, auch die Folgen psychischer Verletzungen breiten sich im Sozialen aus. Daher ist wohl nach traumatischen Erlebnissen die Konzentration auf psychische Phänomene im Inneren eines Menschen in der Tat eine Verkümmerung, eine Reduktion, wenn sie sich nicht zu psychosozialen Einschränkungen des Alltagslebens bekennt. Und das bedeutet, an der Entstehung von Verletzungen genauso zu arbeiten wie an den Folgen. Dazu kann man sich aber nicht in einen Praxisraum zurückziehen. Dazu muss man zum politikbegabten Tier werden, zum zoon politikon.