Dieser kleine Beitrag versucht eine Antwort auf die Frage, warum  schmerzliche Erlebnisse mit psychischen, d.h. traumatischen, Folgephänomenen  die so zahlreich sind wie die Varianten des Schachspiels und öfter und regelmäßiger auftreten als Kälte am Polarkreis, erst am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Systematik der Symptome und damit zu einer Anerkennung einer Diagnose durch Laien und Fachleute geführt haben: dem Psychotrauma und der posttraumatischen Belastungsstörung. In diesem Bereich subjektiver Wahrnehmungen wurde nun intensiv geforscht. Die Wissenschaft der US-Psychiatrie nahm sich der Subjektivität an. Dazu benötigte sie einen theoriefreien Pragmatismus, Beobachtungen in Veteranenhospitälern und jonglierende Biostatistiker. Was nahezu alle Menschen des Erdballs kennen und worüber sie sich eine Meinung gebildet haben, weil sie sich geschwächt, ängstlich, traurig, gequält fühlen, wird ihnen von der westlich inspirierten Wissenschaft abgenommen und in neue Zusammenhänge des Verständnisses eingefügt, das in einer akademischen Aus- und Weiterbildung erworben werden kann.

Vermutlich hat die Monopolstellung der Kirchen diese neue Betrachtung von Psyche lange Zeit verhindert. Wenn man in den Kirchen davon ausging, dass auch Unheil, Schmerzen, Verluste dem Wirken Gottes unterliegen, dann ist die Betrachtung psychischer Leiden als durch die soziale und feindliche Umwelt verursacht ein ketzerischer und revolutionärer Gedanke, der am Kernanliegen der Allmacht Kratzer hinterlassen konnte und daher seit Jahrhunderten bekämpft wurde. Kein Monopol gibt kampflos auf. Aber nicht nur die beschädigte Psyche wollte die Aufklärung  den Kirchen entreißen, auch die subjektiven und weitgehend verborgenen Gefühle, die zu Motiven für widerständiges oder kriminelles Handeln werden konnten, reizten die beginnende Forschung mit Billigung und im Interesse der Origkeit. Beziehungen unter Menschen und Bindungen zwischen ihnen forderten die Suche nach Kriterien für Vertrauen, Patriotismus, Treue und Zuverlässigkeit heraus. Sicher ist auch anzunehmen, dass in Zeiten von Hunger und Missernten, hoher Kindersterblichkeit, übertragbaren Krankheiten, täglicher Überlebensarbeit und vielen weiteren Beschränkungen das Reden über psychische Prozesse als Trauma als randständiges Geschwätz abgetan wurde und keine Priorität beansprucen durfte, obwohl diese Prozesse zu allen Zeiten im Hintergrund wirkten und sehr zögerlich als traumatische Erlebnisse in den Vordergrund drängten, aber allzu lange Projektionen begünstigte.

Diese traumatisch wirkenden Einflüsse brachten jedoch ein favorisiertes und von höchster Stelle gefördertes Abwehrsystem gegen psychologische Erklärungsmuster hervor, das als Männer- und Heldenbild unausrottbar schien. In quasi militarisierten Gesellschaften durchzog dieses Bild alle Bereiche des Alltags. Man konnte sich dem nur schwer entziehen. Es wurde zum allgemeinen Maßstab der Selbstdefinition. Bei solchen Helden und Männern konnte man nur Spott ernten, wenn man vereinzelt auf vulnerable Anteile in Menschen hinwies. Die innewohnende Gewalt dieses Männerbildes wurde durch die Lächerlichmachung von psychischen Verletzungen gleich mit abgewehrt. Frauen kamen nur insofern vor, als sensible Männer als weibisch diffamiert wurden.

Ein dritter Faktor, der bewirkte, dass eine gesellschaftliche Abwehr im Westen gegen die Aufklärung traumatischer Wirkungen nur im Schneckengang vorankam, liegt in der Favorisierung des technischen Verständnisses von der Physiologie vom Menschen. Er wurde trotz seiner biologischen Äußerungen als funktionierende Maschine konzipiert, die sich aus stofflichen Prozessen zusammensetzte. War einwandfreie Funktion gewährleistet, konnte man von Gesundheit sprechen. Eine solche Maschinenkonzeption war störanfällig. Das bedeutete Krankheit oder Vorstufen zur Krankheit. Da hatten es psychische Anliegen und Kräfte schwer, ihren Beitrag zum Leben zu behaupten.

Historische Betrachtungen können als Überblick ein Licht auf die differenzierten und sich wandelnden Bewertungsweisen traumatischer Erlebnisse werfen. Hier kann ich nur oberflächliche Hinweise geben. Sie können zudem verdeutlichen, welche analysierbaren Bedingungen den Willen zum Wissen bis in die Gegenwart anregten. Psychiatrisches Wissen ist nur in engen Grenzen eine medizinische Disziplin. Es setzt sich aus unterschiedlichen und oft unverbundenen Teildsziplinen zusammen, die biologische Akzente und soziales Wissen von Evidenzen umfassen, also Neurobiologie, Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Endokrinologie und weitere Humanwissenschaften. Beim Gehen mit vielen Beinen, für die auch neu hinzugetretene Störungsbilder im DSM verantwortlich sind, kommen die Psy-Wissenschaften immer wieder ins Stolpern und müssen ihre Grundlagen und Ziele (seit Wundt) in Frage stellen. Die Psy-Wissenschaften weisen eben nicht die Koordination eines Tausendfüßlers auf. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist ein solcher Stolperstein, weil sie Evidentes mit Unerklärlichem oder noch Unerklärtem vermengt und dadurch eine Wissensprogression verhindert. Es ist ja nicht so, wie wenn alle Forschungen im Traumafeld einen Fortschritt der Erkenntnis bildeten. In diesem Gebiet wird viel quantitative Wissenschaft (durch wechselseitiges Zitieren) betrieben. Vielmehr verbreiterte sich das Traumafeld, ohne eine Tiefendimension zu erreichen: Wachstum in zwei Dimensionen, das nur sinnvoll ergänzt werden kann, wenn die sozialen Implikationen aus dem Hintergrund auf die Vorbühne treten, wie es die sozialen Neurowissenschaften anstreben. Darauf hat Allan Young, ein seit 25 Jahren mit PTBS befasster Anthropologe, hingewiesen.

 

Zu allen Zeiten der Menschheit hat es psychische Traumata gegeben. Sie bezeichneten innere Irritationen und schmerzhafte Empfindungen nach Erlebnissen von Willkür und Gewalt sowie  deren über das Gedächtnis vermittelte reaktive Motivation für Handlungen oder deren Unterlassung, wofür als Erklärung die Beziehung des Lebens zu Gottheiten ausreichte. Und parallel dazu entstand ein Expertentum, das die Folgen psychischer Verletzungen ausdeutete und Strategien zur Linderung anbot. Auf den Gedanken psychiatrischer Relevanz von traumatischen Erlebnissen wäre man aber wohl weder in Altägypten, Mesopotamien, im antiken Griechenland oder Römischen Reich, noch in Asien oder in den Großkultren Lateinamerikas gekommen. Jede dieser Kulturen, die sich mit psychischen Verletzungen beschäftigte, erkannte spezifische Auslöser und gründete dieses Wissen in ihrem gesellschaftlichen Leben. Dem in Europa entstandenen psychiatrischen Wissen haftet eine Besonderheit an, die in anderen Kulturen in den unterschiedlichsten Gebieten gefunden wurde. Die europäisch fundierte Psychiatrie hat aus Alltagserfahrungen und Alltagsbeobachtungen Wissenschaft mit universellem Anspruch gemacht. Die traumatischen Auslösersituationen waren im Verlauf der Menschheitsgeschichte unterschiedlich und wandelbar. Eine Lebensbedrohung durch Raubtiere kann heute nur noch in wenigen Regionen angenommen werden. Terroristische Angriffe mit massenhaften Vernichtungspotenzialen wie am 11.9.2001 bringen andere posttraumatische Dysfunktionalitäten hervor als das Dauermorden im Holocaust oder die angestrebte Vernichtung durch Arbeit der Nazis, die Feindberührung und das Gemetzel im Vietnamkrieg oder sexualisierte, verletzungsgewillte Gewalt durch Männer. Alle diese gravierenden Ereignisse lösen Folgephänomene aus, die zu Bemühungen führen, neues und spezifisches Wissen durch Spezialisierung und Differenzierung zu erzeugen. In der Gegenwart scheint eine Vertiefung der Erkenntnisse ist allerdings nicht gefragt zu sein, weil die posttraumatischen Befindlichkeiten bereits durch das auslösende Ereignis definiert sind. Wenn Ätiologie und Definition zusammenfallen, scheint das letzte Wort gesprochen, zumal diese Verbindung an Alltagserfahrungen anknüpft. Die Störungsbilder werden mit standardisierten Fragebögen abgefragt, und die angekreuzten Symptome sind so allgemein, dass sie auch von Ungestörten benannt werden können, soweit behaviourale Ausdrucksweisen (Vermeidung) zur Unterscheidung angesprochen sind.

Das deutet darauf hin, dass die Symptome der PTBS sich auf einem Kontinuum abzeichnen, wobei der Umschlag vom anfänglich lästigen Symptom zur krankheitswertigen Störung nie sicher zu treffen ist. Natürliche biologische Prozesse als Stress mit vegetativen Begleitreaktionen wehren sich gegen Normierung. Daher sind Schilderungen vorgetäuschter posttraumatischer Beschwerden äußerst schwer zu entlarven. Lediglich die behauptete Tatsache eines traumatischen Ereignisses ist möglicherweise durch Recherchen als Ort- und Zeitüberprüfung und Zeugen zu falsifizieren.

Die posttraumatische Belastungsstörung mit ihrer katalogischen Auflistung von Begleitsymptomen kann die genannten unterschiedlichen traumatischen Ereignisse (sie sind viel zahlreicher, als allgemein berücksichtigt wird) nicht umfassend erklären, weil sie ein Ereignis oder andauernde, wiederholte Ereignisse an den kausalen Anfang der Reaktionskette stellt, so wie man fälschlich meint, das Leben beginne mit dem ersten Schultag, der für manche traumatischen Charakter hat oder, wie man zu sagen pflegte, man lerne für das Leben, ohne Hinweis, wann es denn beginne. Die offiziell anerkannte Reaktionskette beschränkt dadurch den Erkenntnisrahmen. Diese definierten Ereignisse fordern unterschiedliche Muster der Erklärung und des Verstehens. Solche Muster sind historisch in differenten Epochen angesiedelt.

Nun haben wir seit 1980 eine Beschreibung und damit Vorschrift für die psychischen Folgephänomene nach traumatischen Erlebnissen im DSM-III und den Nachfolgeausgaben. Nur sehr geringe Veränderungen haben seither stattgefunden. Das Wissen von 1980 scheint Endgültigkeit zu beanspruchen, vielleicht weil dahinter ein Stolz steht, Beteiligter an einer Revolution durch Neubewertung der Realität gewesen zu sein. Es will für die ferne Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft Geltung beanspruchen und Anwendung finden. Das ist fraglos ein lächerlicher Irrtum, der ohne eine Vorstellung kultureller Wandlungen auskommt.

Das Wissen, das sich von erlebnisbedingten Nöten und Bedrängnissen herleitet, wurde in alten Zeiten und Kulturen auf die Produktion von Kleidung, die Herstellung von Behausungen, das Verhältnis zu Gottheiten und die Bestellung der Ackerflächen gerichtet, also auf (routinierte und ritualisierte) Praxis. Das Suchen nach Naturverständnis mit kulturell geprägten Wissensformen war der beherrschende Faktor im psychischen Selbstverständnis von Gesellschaften. Es ging zu diesen Zeiten um Techniken, die ein Überleben sicherten. Das materielle, das physische Überleben rangierte an erster Stelle und war die Voraussetzung für psychisches und psychoziales Überleben. In diesen dringlichen Akzenten von Wissen war für psychiatrische Überlegungen zum Psychotrauma in unserem heutigen Verständnis kein Platz.

Das konnte sich historisch erst ändern, als nach der französischen Revolution Menschen zu Rechtssubjekten werden konnten und Militärs und Industrie die Ressource Mensch als Wert anerkannten und daher allein mit ihren Interessen einen Anspruch legitimierten, wonach dem beschädigten Mensch gerichtlich ein Recht auf Ausgleich für psychophysische Verluste zugestanden wurde. Seit den Eisenbahnunglücken (nach 1870) wurde die äußere und innere Beschädigung zum Streitfall vor Gericht, und dieser setzte Spezialisten voraus, die forensische Funktionen erfüllten. Es war zugleich der Beginn der Unfallversicherung für Arbeitsunfälle. Für eine forensische Gutachtertätigkeit musste zwangsläufig Wissen akkumuliert und auf seine Tauglichkeit geprüft werden. Es wurde eine Sprachregelung notwendig, die sich des Begriffes „traumatische Neurose“ annahm. Die forensische Psychiatrie hatte nun einen Platz in Entschädigungsfällen. Damit kam es zu innigen Schnittstellen zwischen Medizin und Justiz, wobei der Gegenstand dieser Verbindung, der verletzte konkrete Mensch, in der Kontroverse zwischen diesen zwei Erkenntnissystemen sich in Abstraktionen auflösen konnte. Jede Gutachtertätigkeit abstrahiert das konkrete Leiden, indem sie Sprache benutzt und ein anderes Erklärungssystem einführt, das lediglich als Annäherungen, nicht als Wahrheit daherkommt. Seit den Gerichtsverfahren wegen Unglücksfolgen erhielt die posttraumatische Belastungsstörung, die oft noch der Einbildung zugeordet und mit traumatischer Neurose umschrieben wurde, wenn psychosoziale Leiden beklagt wurden, einen sich erweiternden Stellenwert, wodurch der Traumadiskurs sich im Bereich der Entschädigungen und der analytisch verstandenen Psychotherapien ausbreitete.

Im I. Weltkrieg konnte an den traumatisierten Soldaten (durch shell shock im Grabenkrieg) genau studiert werden, dass eine Verbindung von psychischen respektive neuronalen Reaktionen die unterschiedlichsten Symptome, die Bewegungsapparat und Sinnesorgane betrafen, hervorgerufen hatte. Die neuronalen Reaktionen wiesen auf Aktivitäten des Gehirns, das in seiner Wirkweise noch nicht sehr erforscht war, sieht man von Urteilen über Läsionen ab. Das Gewicht der Beurteilungen richtete sich vermehrt auf die psychischen und psychosozialen Folgephänomene nach lebensbedrohlichen Erlebnissen, die als Schwächen diffamiert werden konnten (nicht nur von Ernst Jünger und den Freicorps), weil sie sich empirischen Überprüfungen entzogen. Neurologische Einflüsse und Erklärungsmuster blieben eher marginalisiert. Ein solcher Einfluss wurde erst mit dem Jahrzehnt der Hirnforschung aufgegriffen. Es lässt sich formulieren, dass die (akute) PTBS, wäre sie vor 100 Jahren präsent gewesen, nicht die besonderen Symptomatiken der Soldaten des Gas- und Grabenkriegs erfasst hätte. Das akkumulierte Wissen und die jeweilige epistemische Kultur unterlag speziellen Interessen, die nach dem  Weltkrieg von der Abwehr berechtigter Entschädigungsforderungen geprägt wurde. Das Männerbild spielte im Hintergrund eine wichtige Rolle. Theweleit hat dies tausendseitig überzeugend nachgewiesen. Er hat den psychischen Verletzungen, der juristischen Abwehr durch ein heroisches Männerbild, dem Widerwillen von Ärzteorganisationen und der historischen Betrachtung und Interpretation den literarischen Spiegel der Unmenschlichkeit vorgehalten und damit eine einflussreiche Disziplin der epistemischen Wissenskultur hinzugefügt.

Nach dem zweiten Weltkrieg kroch die psychische Verfassung der überlebenden deutschen Soldaten ins Private, weil ein öffentliches Interesse und Forderungen sich nicht erheben konnten angesichts der katastrophalen Resultate des Krieges, die nahezu alle Zivilisten zu Traumatisierten machten. Im öffentlichen Diskurs von Schuld und Sühne kam es zu einer berechtigten Favorisierung der Überlebenden des Holocaust, denen rehabilitative und finanzielle Ansprüche für psychische Verletzungen, Verfolgung und Horror zugestanden wurden, während deutsche Soldaten und Zivilisten ihr zerlumptes psychisches Kostüm in Heimarbeit flicken mussten. Psychiater, die den Nazis bereitwillig gedient hatten, wurden nun zu Gutachtern der vorgetragenen Beschwerden der Verfolgten vor deutschen Gerichten. Das war eigentlich ein schreckliches Unterfangen, denn das Denken und Diagnostizieren fast aller Gutachter war von den Kämpfen der Weimarer Republik gegen Ansprüche ( so genannte Rentenneurose) und mit der von Heldenpathos und Vernichtungswillen durchdrungenen NS-Psychiatrie kontaminiert, ja beherrscht. In Norwegen (Leo Eitinger) und den USA (z.B. William G. Niederland) suchten diese von den Nazis Vertriebenen nach Kriterien, die den psychischen Zustand nach Verfolgung und Überleben nachvollziehbar beschrieben. Das „KZ-Syndrom“ und das „Überlebenden-Syndrom“ waren Sammlungen spezifischer Symptome, die nach Lebensbedrohung in Nazi-Deutschland und durch Nazi-Gewaltherrschaft in Europa eingetreten waren. Diese Symptome wurden vor den Gerichten von deutschen Psychiatern stets angezweifelt und mit früheren Erkrankungen und Auffälligkeiten erklärt, weshalb ein Anspruch abgewiesen werden sollte. Niederland und Eitinger suchten als Gutachter in der BRD die Position der Traumatisierten in den Verfahren verständlich zu machen. Das heißt, auch hier kam es zum Versuch einer Synthese, zwei unterschiedliche Wissenssysteme zu verbinden, das Medizinische und das Juristische, worin der Antrieb für weitere Forschungen gesehen wurde, die 1964 durch von Baeyer, Häfner und Kisker auch in der BRD zur Anerkennung spezifischer Leidensphänomene nach Verfolgung und anderen extremen Belastungen führten („Psychiatrie der Verfolgten“. Psychopathologische und gutachtliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und vergleichbarer Extrembelastungen.) In der DDR war die Entschädigungsfrage auf Gegner des NS-Regimes und überlebende Kommunisten konzentriert.

In den Entschädigungsverfahren kam die forensische Psychiatrie zum Einsatz. Teile dieser Disziplin forderten erneut (nach WK I und WK II) die Betrachtung seelischer Verletzungen durch ein Ereignis, das im Bereich gesellschaftspolitischer Machtausübung und Willkür ihren Grund hatte. Für Literatur und Kulturwissenschaften lagen die Ursachen psychischer Verletzungen und Verstümmelungen außer Zweifel. Nur bestimmte Teile der psychiatrischen Profession hielten verkrampft an ihrer nationalsozialistischen Betrachtung von Körper und Seele fest, die ihr durch das Göring-Institut implantiert worden war.

Im internationalen Maßstab war die Stress-Theorie Hans Selyes, der als Ungar 1934 nach Kanada migrierte, im Nachkriegsdeutschland nur Wenigen als Basis für Psychotraumata und Anpassungsstörungen vertraut. Daher waren die Kenntnisse über psychische Einflüsse durch lebensbedrohlichen und ausweglosen Stress auch nicht in das psychiatrische Grundwissen in der BRD integriert. Millionen von Traumatisierten als Soldaten, als Flüchtlinge, als Bombenopfer, als Vertriebene stand eine Betrachtung ihrer erlebnisbedingten psychischen Gesundheitsstörungen nicht zur Verfügung. Im wirtschaftlichen Wiederaufbau war vielmehr Arbeit gefragt. Sie fiel umso leichter, als sie mit Verdrängung, Verleugnung und Relativierung der eigenen Schuld gekoppelt war. Der Satz in den Vernichtungslagern „Arbeit macht frei“, fiel nun den perversen Deutschen auf die Füße: Arbeit macht  frei von Schuldgefühlen.

Wenn man von den Arbeiten von Baeyers, Häfners, Kiskers absieht, war es eine sehr rudimentäre Forschung, die in der BRD zu posttraumatischen Beschwerden geleistet wurde.

Umso bereitwilliger wurde nach 1980 das US-amerikanische System einer psychosozialen Veränderung nach Einsätzen in Vietnam von einer dänischen und englischen Fachwelt angenommen. In der BRD war man anfangs zögerlich. Der Weltkrieg lag nun 35 Jahre zurück. Außerdem hielt man PTBS für eine für Vietnamveteranen geschneiderte Diagnose. Und in der Tat trat auch in der BRD eine Neubewertung psychischer Beschädigungen ein: Diese hatten nun eine Ursache im Erleben und war von Folgen begleitet, die zu einer gestützten Nachbearbeitung riefen. Es setzte sich in sehr kleinen Schritten die Erkenntnis durch, dass alle Menschen, die ein als traumatisch definiertes Ereignis erlebt hatte, an akuter Überwältigung ihres psychischen Systems litten. Ein Großteil wurde aber beschwerdefrei nach rund vier bis sechs Wochen oder registrierte die Folgen der Traumata in anderer Weise. Epidemiologische Untersuchungen wurden  in Deutschland als Querschnittsbetrachtungen der psychischen Verfassung der Deutschen nicht durchgeführt. Sie hätten vermutlich ergeben, dass Deutsche an posttraumatischen Symptomen ebenso litten, wie sie mehrere traumatische Erlebnisse mit Lebensbedrohung benennen konnten, die ihnen in den vergangenen Jahren widerfahren waren. Trauma als Massenphänomen, aber jede/r blieb allein mit seinem/ihrem individuellen Trauma. Es erhebt sich angesichts des Massenelends aus Furcht, Scham und Schuld die Frage, warum den inneren Verarbeitungsprozessen vielfältiger Traumata keine Aufmerksamkeit zuteil wurde, da sie sich doch im gewaltsamen Erziehungsstil, im Schweigen, im sozialen, unterwürfigen Rückzug und emotionaler Routine ausdrückten. Der NS hatte offenbar schreckliche Nachwirkungen, in jeder einzelnen Person blieb er präsent. Die ideologisch geprägten Ansichten zu seelischen Prozessen waren noch lange nach dem Krieg vom physischen Überleben überlagert und ließen allerhöchstens einen Schwarzmarkt für psychische Entgleisungen zu. Sie waren zudem höchst beschränkt: Opferbereitschaft, Angst vor Denunziation, geistige Verdunkelung, keine Experimente, Todestrieb (wenn es so was gibt), Flucht vor der Verantwortung. Die Feindseligkeit oder Indifferenz, mit der man Flüchtlingen aus dem Osten in der BRD begegnete, erlaubte eine eingeübte Verschiebung der immer noch wachen Aggressionen und die eingeübte Vermeidung von Gerechtigkeit durch ein perverses Verständnis von Eigentum.

 

Was also sind die Motive dafür, dass sich das Wissen um posttraumatische Verfassungen verfeinern und zum Antrieb für therapeutische Strategien in Deutschland werden sollte? Zwei Vorbedingungen lassen sich anführen: Erstens: im Rahmen einer zunehmenden Säkularisierung und abnehmenden Religiosität war es offenbar ein Anliegen der bürgerlichen Gesellschaft, Physis und Psyche als Bedingungen des Lebens in ihrer Abhängigkeit von einander zu betrachten. Im Falle von Störungen eines dieser Lebensprinzipien sollten wiederherstellende Maßnahmen ergriffen werden. Wenn diese zwei Faktoren störungsfrei funktionierten, konnte man von Gesundheit sprechen, wenn zugleich ein Gleichgewicht von Individuum und sozialem Rahmen garantiert war.

Die zweite Vorbedingung für das vertiefte Interesse am wachsenden Wissen ist in den politischen Implikationen anzunehmen. Psyche drückt sich in Ehrgeiz, Durchhaltevermögen, Stolz, Wohlwollen, Güte, Fleiß und vielen weiteren Phänomenen aus, bleibt aber ohne Performanz im Unsichtbaren. Da auch Ideen und widerständige Gedanken im Unsichtbaren verborgen sind, richtete sich das Interesse der herrschenden Schichten an psychischen Prozessen auf eine Beherrschung des Verborgenen und auf dessen Zugriff. Psyche bleibt trotz intensiver Agententätigkeit durch Polizeispitzel verhüllt, kann jedoch, wie man glaubte, durch forscherische Arbeit und Klassifikationen handhabbar gemacht werden. In dieser Zeit des frühen 19. Jahrhunderts rüstete sich der Zugriff nach dem Verborgenen auf: Man versuchte innere Merkmale an äußeren messend abzulesen. Es entwickelte sich die Mär von der Messbarkeit des Psychischen. Es entstanden die Kriminologie, die Psychologie, die forensische Psychiatrie, die Rassenkunde, Eugenik und die Soziologie, was nicht ohne Billigung und Interesse durch die frisch entstandenen staatlichen Instanzen möglich war.

Diese zwei scheinbar paradoxen Vorbedingungen setzen Akteure voraus: Innen- und Ordnungspolitiker sowie neugierige Wissenschaftler aus dem Bereich der Medizin, der Zellpathologie und Biologie, die zu Definitionsmächten aufsteigen. Nun war im 19. Jahrhundert, in der Folge der Aufklärung, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit noch nicht so weit, die Wandlungen der Psyche durch Erlebnisse aus der Umwelt in einen pathologischen Zusammenhang systematisch einzugliedern. Zahlreiche Akteure machten Hindernisse geltend, die einer vertieften Erkenntnis psychischer Prozesse im Wege standen. Das Individuum als Träger von Leiden hatte noch nicht den heutigen Stellenwert. Es spielte im Kaiserreich eine geringe gesundheitsbezogene, dagegen aufbegehrend-literarische Rolle, da hurrapatriotische Feuer nach der Reichsgründung die individuellen Forderungen nach Linderung der Leiden verbrannten, sieht man von der in Gang kommenden Sozialgesetzgebung ab, die einen innenpolitischen Effekt ebenso entfalten sollte, wie die Diagnose PTBS nach dem Vietnamkrieg die innenpolitische Polarisierung in den USA beruhigen sollte.

Die bundesrepublikanische und später gesamtdeutsche Realität im Umgang mit psychischen Verletzungen richtete sich auf Verfolgte des Stasi-Systems (mit spezifischen Gesetzgebungen), auf traumatisierte Flüchtlinge und auf Soldaten der Bundeswehr. Diese Gruppen kamen in den Genuss einer Bewertung durch den posttraumatischen Katalog des DSM und des ICD-10/11. Voraussetzung für Entschädigungsleistungen bei Leiden an psychosozialen Traumata war die begründete Diagnose PTBS mit chronischen Ausmaßen, die zugleich therapeutische Interventionen rechtfertigte. Dies gilt auch für Flüchtlinge, wenn sie sich den zahlenmäßig geringen Behandlungseinrichtungen anvertrauen, auf Sprachvermittler angewiesen sind und wenn sie länger währende Instabilität als Prognosen erhalten. Exemplarische Erfahrungen mit Schädigungen durch psychosoziale Traumata wurden in erster Linie mit Flüchtlingen gemacht, einer ziemlich rechtsarmen Klientel in einer asymmetrischen Beziehung. Rechtsanwält*innen der Flüchtlinge konnten höchst selten als Korrektiv für Behandlungsfehler oder Verschlechterungen in Anspruch genommen werden. Therapeut*innen und Helfer*innen mussten sich ihre ethischen Motive selbst gewähren und an den Tag legen sowie in Supervisionen überprüfbar machen.

In der gegenwärtigen Zeit sind Erkenntnisgewinne gering. Neu vorgestellte Kasuistiken posttraumatischer Phänomene ermöglichen Erkenntnis nur auf der horizontalen Ebene. Sie verbreitern den paradigmatischen Pool. Eine Vertiefung kann auf der horizontalen Ebene nicht angestrebt werden. Wir erleben eine Auseinandersetzung zwischen humanitären Geisteswissenschaften und humanitären Naturwissenschaften, was verrückt klingt, da das Humanitäre und auf Menschen gerichtete Interesse von beiden Disziplinen in Anspruch genommen wird. Allerdings können die Geisteswissenschaften inklusive der Kulturwissenschaften nur wenig zum bescheidenen Erkenntnisgewinn des Psychotraumas beitragen, d.h. zum Auftauchen und zum Wandel von Sinn, Bedeutungen und Zuschreibungen von Erlebnissen als innere Prozesse, während die Neurowissenschaften und die Genetik (Epigenetik) am ehesten in der Lage zu sein scheinen, vertikal gelagerte Erkenntnisse zu ermöglichen, wenn sie sich nicht ausschließlich auf das Gehirn beziehen, sondern anerkennen, dass traumatischer Stress sich im gesamten Körper auswirkt, also Magen, Darm, Herzarbeit, hormonelle Produktion und Verbrauch mit einbezieht und die sozialen Ausdrucksformen berücksichtigt, die ein Gewalterlebnis oder eine Bedrohung erst zum Trauma machen.

Allerdings stoßen im gesellschaftlichen Maßstab die mit traumatischen Erlebnissen verbundenen Folgephänomene heute nicht mehr auf so viel breite Abwehr wie in früheren Zeiten. Es scheint so, wie wenn einige Abwehrmechanismen sich abgeschwächt hätten, sieht man von den Verteidigern des traditionellen Männerbildes ab. Es ist ja nicht nur ein Kennzeichen konservativer und rechtsradikaler Kreise, dass heute die alten Macht- und Herrschaftsträume wieder geträumt werden, vielmehr gibt es in allen politischen Orientierungen Befürworter und Profiteure von Härte und Panzerung. Martial Arts, Waffengeklirre und elektronische Killerspiele sollen innere Verweichlichung bekämpfen und ein Nachdenken betäuben. Dagegen der griffige Slogan: Erstens kommt es anders, wenn man denkt! (FfF)

Wir haben uns also gefragt, wie die Geschichte der Erkenntnisse im Bereich psychosozialer Verletzungen verlaufen ist. Es bleiben Episoden offen. Eine historische Betrachtung kann sehr wohl den zähen Verlauf der Erkenntnisbildung andeuten. Sie kann die Disziplinen benennen, die sich in Definitionsfragen mit Vorrangforderungen einmischen. Im meinen früheren Beiträgen habe ich die Erkenntnislücken zu formulieren versucht. Hier gibt es noch viel zu tun. Aus einem Prozess, der als Psychotrauma nur scheinbar auf der Hand liegt, kann auch Wissenschaft wegen der Verborgenheit der Zeichen nur sehr langsam und begrenzt tiefere Erkenntnisse zu Tage fördern, weil kulturell begründete Widerstände Hindernisse in den Weg stellen. Man kann auch den Standpunkt vertreten, dass psychische Verletzungen, die jeder Mensch im Leben erfährt, keine weitere Ergründung braucht, woraus sich dann erfolgreiche Verdrängung, Projektion und soziale Verantwortungslosigkeit ableiten lassen.