Was ist davon zu halten, wenn ein Richter eine Beziehung zwischen posttraumatischer Belastungsstörung nach extremen Verletzungen und Verlusten von Impulskontrolle ablehnt, weil nicht alle Menschen mit posttraumatischen Störungen den Verlust ihrer Impulskontrolle beklagen? Wutausbrüche und Kontrollverlust sind unter den Symptomen, die posttraumatisch auftreten können, in vielen Publikationen beschrieben.

Wie könnte man gegen eine solche richterlicher Haltung argumentieren? Der Richter scheint zur Norm zu erheben, was er sich wünscht: nämlich dass die Impulskontrolle das Normale darstellt, während die Störung der Kontrolle ohne Beziehung zu vorausgegangenen Traumata, ja zum vorausgegangenen Leben überhaupt, betrachtet werden soll. Hinter der Auffassung des Richters steht der homogenisierte Mensch, der nach einem ausschließlich vernünftigen Schema handelt oder reagiert. Wer nicht nach dem Schema funktioniert, unterliegt der Kraft der großen Zahl der Funktionierenden (Statistik). Abweichungen müssen so zwangsläufig in den Bereich der Pathologie gerückt werden. Sie stören die Harmonie einer Illusion von Homogenität. Wenn die Welt auf Homogenität zutreibt, wird sie stinklangweilig. Wenn sie nicht die Differenz zulässt, wird sie zum monotonen Gefängnis. Allerdings kann der einmalige oder wiederholte Impulskontrollverlust zu Schädigungen Dritter führen, weshalb alle spontanen Impulse  gesetzlich einzuhegen sind. Wenn man den Verlust der Impulskontrolle verstehen will, muss man der biographischen Vergangenherit gebührenden Raum geben.

In erster Linie geht es um die Beantwortung der Frage, wie der Vorgang beschaffen sein könnte, der traumatisch hervorgebrachte Symptomatik mit dem Verlust der Impulskontrolle verbindet, vor allem, wenn wir uns einen Menschen vorstellen, der vor einem extremen Trauma oder einem dauerhaften traumatischen Prozess seine spontanen aggressiven Impulse zu kontrollieren in der Lage war. Dieser Mensch scheint durch das traumatische Erlebnis die hemmenden Impulse verloren zu haben. Er kümmert sich auch nicht um die Konsequenzen seines Handelns. Die Angst, die ihn zur Impulskontrolle verleitete, war zumindest für einen Moment verschwunden. Im Trauma hat er gravierende Ungerechtigkeit erlebt, er war einer Willkür ausgeliefert, und die Umwelt kam ihm nicht zur Hilfe. Der Glaube an zentrale ritualisierte Werte, die Sicherheit versprachen, zerbrach. Solch ein Mensch kann nicht einfach wieder zum naiven Glauben zurückfinden. Gesellschaftliche Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben sind in wesentlichen Positionen unverbindlich geblieben. Solch ein Mensch gibt sich neue Regeln aus seinen reaktiven Gefühlen. Wie durch Imitation übernimmt er Handlungen und Maßstäbe von jenen, die ihn traumatisiert haben. Sie waren als Potenz in gezähmter Weise immer schon in ihm. Er stützt sich ja nicht nur nicht mehr auf Impulskontrolle, auf Respekt vor körperlicher Integrität oder Respekt vor dem Eigentum, seine Koordinaten und Maßstäbe sind insgesamt beschädigt.

Zu diesem Komplex fällt mir eine Analogie ein. Analogien sind natürlich keine Beweise. Sie verdeutlichen die Grenzen der „Beweiskraft“ überhaupt.

Wenn in einem Raum, in dem sich viele Menschen befinden, ein Grippekranker pausenlos hustet, dann erkranken einige von ihnen an Grippe, vielleicht schwer, einige an einer leichten Form und einige gar nicht. Warum? Einige von ihnen verfügen über ein Immunsystem, das sie für diese Form der Grippe unempfänglich oder reduziert anfällig macht. Die Erkrankenden verfügen offenbar nicht über spezifische oder ausreichend unspezifische Antikörper gegen das Grippevirus.

In analoger Weise vollzieht sich diese Abwehr oder der Zusammenbruch der Abwehr im seelischen Bereich, dem selbstverständlich auch körperliche Prozesse zugrunde liegen. Auch das psychische Überleben verfügt über ein „Immunsystem,“ ja es ist elementar abhängig von der Existenz einer Immunabwehr.

Ich vermag allerdings nicht zu entscheiden, ob zwischen Impulskontrollverlust und einem psychischen Immunsystem eine positive oder negative Beziehung besteht. Wenn ein Mensch lernt, seine Impulse zu sozialen Zwecken zu kontrollieren, stärkt dies sein Immunsystem oder schwächt es, wenn man realisiert, dass soziale Forderungen Verzicht bedeuten, Unlust erzeugen und ein Anker an einem brüchigen Seil sind?

Was charakterisiert das psychische Immunsystem? Dieses Gebiet findet kaum das Interesse der Wissenschaft, weil es nicht mit hinreichender Sicherheit empirische Forschung erlaubt. Frühkindliche Beobachtungen, die auf die Eltern-Kind-Beziehung zielen, erlauben Vermutungen und Spekulationen. Sie mögen konsistent für den Einzelfall gelten. Verallgemeinerungen, wie mit dem Pool an emotionalen, sprachlichen und intellektuellen Prägungen in der Konfrontation mit negativen Erlebnissen umzugehen sei, müssten derart viele Einflüsse einbeziehen, dass genaue Aussagen unmöglich erscheinen. Auch ich nähere mich dem Thema mit eigenen bescheidenen Vorstellungen.

Generell sind es Ressourcen, Widerstandsfähigkeit und wohl auch Idole, die sich aus aktiven Bearbeitungen von dinglichen und personellen Wahrnehmungen oder Imitationen in der Realität gebildet haben und die ein Gerüst für ein psychosoziales Gleichgewicht zur Verfügung stellen, dessen man sich in der Gesellschaft aus Überzeugung oder Taktik bedienen kann oder eben auch nicht. Das oft negativ konnotierte Verdrängen muss wohl zu den abwehrenden Faktoren gezählt werden, deren höchste Stufe der Schlaf und das Vergessen ist. Beide Formen, zu denen auch das unbewusste Vermeiden gerechnet werden kann, dienen dem Schutz eines Ich-Kerns, der (Selbst)-Vertrauen und (Selbst)-Sicherheit benötigt, und dies kommunikativ mit Worten, Mimik und Gestik erstrebt. Verdrängen und Vermeiden sind Resultate von Lernprozessen. Das psychische Immunsystem kann man folglich genau so trainieren wie das physiologische und zelluläre. Bestimmte Begegnungen mit Situationen schärfen oder schwächen das Abwehrsystem. Ihre Integration hängt auch von dem Umfeld nach der Begegnung ab. Das Abwehrsystem ist nicht mit der Begegnung mit einem negativ konnotierten Stimulus abgeschlossen. Solange die Beschäftigung mit dem Stimulus andauert, so lange wird es auch eine begleitende Immunabwehr geben, die nicht im leeren, immateriellen Raum stattfindet, sondern von stofflichen Reaktionen begleitet ist wie jede Art von Stress. Die Dauer der gedanklichen und emotionalen Selbstbeschäftigung mit dem negativen Stimulus entscheidet über den Verlauf der Immunabwehr, die als unbewusster Prozess abläuft, in einigen Fällen durch sekundäre Symptombildungen an die bewusste Oberfläche tritt, wofür die Intensität des Stimulus verantwortlich zu machen ist. Man darf davon ausgehen, dass ein physiologisches Immunsystem durch chemische Substanzen oder den Verbrauch körpereigner Stoffe geschwächt werden kann. Dieser Effekt ist auch beim psychischen Immunsystem anzunehmen. Darüber hinaus wird das psychische Immunsystem von (sozialem) Sinn und Bedeutungen, die Sicherheit und und Orientierung gewähren, geschwächt, wenn Sinn, Bedeutung und soziale Verankerung in Frage gestellt oder angegriffen werden.

 

Impulskontrolle ist ein soziales Phänomen, das sich in physiologische Kategorien umformt und zu zentralen Stellwerten der Erregungsschwelle und Erregungsantwort führt, folglich körperliche oder physiologische Antworten auf externe Stimuli flexibel „determiniert“. Die ursprüngliche Determinierung (Programmierung) findet durch Kommunikation mit den Eltern statt und wird durch Erfahrungen im erweiterten Kreis von Kommunikationspartnern ausgestaltet. Impulskontrolle ist von der Angst vor Sanktionen bestimmt, wenn nämlich das Individuum erfährt, dass es vernachlässigt, ausgeschlossen oder gar vernichtet werden kann, wenn es seine emotional gesteuerten Impulse nicht kontrolliert. Die resultierende Angst ist Folge der Angst vor Strafe ebenso wie die mit Sanktionen belegte Wut, die bei allen Unlustgefühlen auftreten kann. Der Vorgang der Anpassung an soziale Forderungen soll folglich Überleben garantieren. Es ist die Zähmung der Spontaneität. Der Prozess wirkt nach dem Muster von Konditionierungen. Wenn ich mich nach extern festgelegten Regeln verhalte, werde ich weiterhin geliebt und nicht abgelehnt. Ich erspare mir Unlustgefühle, wenn ich den Forderungen meiner Umwelt nachkomme. Das ist vermutlich die gängige Strategie von jenem eingangs zitierten Richter und vielen anderen.

Es ist auf den ersten Blick also nicht einleuchtend, warum der Prozess der Wutbeherrschung nicht auch reversibel sein soll. Jeder gelernte Prozess kann auch verlernt werden oder situativ (zum Überleben) zum Vorschein kommen. Die Erfahrung zeigt eindrücklich, dass dies funktioniert, wenn auch zuweilen mit kürzeren oder längeren Schamempfindungen.

So ist denn der Umschlag von der Impulskontrolle zum Kontrollverlust schwer zu bestimmen. Es handelt sich um einen sozialen Prozess, der wie beim Stress von stofflichen Ausschüttungen und psychischen Vorschädigungen begleitet wird. Impulskontrollverlust kann man provozieren: durch permanente Demütigung und Ungerechtigkeit. Da zumeist die erlernte Impulskontrolle sich entladen kann in motorischer Aktivität (z.B. Baseballschläger), ist eine Kombination von Psychosomatik und Ausschaltung sozialer Kontrolle anzunehmen (in Gruppen erleichtert). Daher wurden und werden unterschiedliche Erklärungsansätze vorgestellt, die den jeweilig historischen Kenntnisstand präsentieren. Dem Verlust der Impulskontrolle geht ein stofflich-hormonelles Ungleichgewicht voraus, endokrine Einflüsse wurden favorisiert, unterschiedliche Reifungsstufen lagen zugrunde, Energie- Haushalt, -verbrauch und –stau führten zu Dysregulationen und Selbstwertbeschädigung kam als einflussreiche Metapher ins Spiel, ohne dass die Verläufigkeit der Erkenntnisse zum Abschluss kam. Im Bauchladen der Erklärungen kann jeder Interessierte etwas finden. Auch ältere Erklärungsbemühungen werden neu aufgewärmt, darunter die Theorie von der optimalen Schwelle.

Impulskontrolle ist daher immer an eine zuvor bestehende Macht gebunden, die passiv erfahren wird, also Eltern, ältere Geschwister, Erzieher, Lehrer u.a. Diese Macht hat dann im Allgemeinen keine persönlichkeitsschädigende Wirkung, wenn sie durch gerechtes und wohlwollend vermitteltes Handeln gezähmt wird. Auf Strafen beruhende Erziehungssysteme belegen das eindimensionale Machtsystem und führen gerade nicht zu einer in der Vernunft (Großhirnrinde) verankerten Impulskontrolle. Ziel von machtarmer Erziehung ist folglich, die im Hippocampus und im limbischen System verankerten emotionalen Reaktionen auf äußere Stimuli als einsehbare, d.h. vernünftige Selbstbeschränkungen mit Regionen des jüngeren Hirnanteils (Großhirn) zu verbinden. Das bedeutet auch, die Bedeutung spontaner biochemischer und hormoneller Reaktionen zu begrenzen. Unterschiedliche Menschen machen unterschiedliche Erfahrungen, die sie als Raster einverleiben und speichern. In der unglaublichen Vielzahl von Kombinationen von Erfahrungen und handlungsanweisenden Programmen (oder neuronalen  Verschaltungen) wählt eine bestimmte Richterschaft eine Norm, von der sie glaubt, sie sei für ein gedeihliches Zusammenleben unerlässlich, und diese Normen würden auch sonst alle hehren Werte repräsentieren. Wenn aber andere Völker überfallen und Kriege vom Zaun gebrochen werden, scheint dies die Norm zu sein, die das Zusammenleben nur scheinbar am besten sichert. Und da erscheint es nahe liegend, dass Menschen, die ihre Impulskontrolle nicht der Norm angleichen können oder wollen (z.B. duch chemische Substanzen), andere Formen der Wertevermittlung ergreifen oder als Widerständler abgeurteilt werden. Man sollte daher nicht ausschließen, dass Personen, denen die Impulskontrolle abgeht, im psychologischen Sinne sich identifizieren mit jenen politischen Großverbrechern (z.B. der Nazis), die von den ideellen Werten der Norm auch immer schon abgewichen sind. Sie tun nichts anderes als einem Vorbild durch Imitation nachzueifern. Denn letztlich ist die schamlose Bereicherung von wenigen nichts anderes als der scheinbar rationale Verlust von Impulskontrolle, die im sozialen Sinne vom Gleichheitsgedanken getragen ist.

Aus den Biographien von Amokläufern (mit eindeutigem Überwiegen von Männern) als Beispiel für extreme Impulskontrolldurchbrüche kann man erkennen, dass Amokläufer eine Kette von großen und kleinen Kränkungen durchlebten, bis „das Fass überlief“, bis die kumulative Traumatisierung nach unterschiedlicher Modellierung der Persönlichkeit, die nicht persönlich angestrebt wurde, zu einem Verlust der Impulskontrolle führte, die dann nicht mehr nach Strategien des Überlebens fragte, sondern vielmehr bereit war, auch das eigene Leben der Vernichtung preiszugeben. Man darf vermuten, dass traumatische Erfahrungen zum Verlust der Impulskontrolle ebenso beitragen wie auch in die Resignation münden können. (Eines der überzeugendsten Beispiele für die Flucht in die Resignation ist die Forderung, man solle Babys und Kleinkinder schreien lassen. Sie hörten dann irgendwann wegen fehlender Reaktion von allein auf.)

Eisenberg (2000) hält eine narzisstische Persönlichkeitsänderung für den Kern von unkontrollierten Impulsdurchbrüchen (S.35). Psychologische Erklärungen benötigen ein zur Verfügung gestelltes Haus, das zu bewohnen manche Patienten ablehnen: Es ist ihnen zu abstrakt und virtuell und hinsichtlich einer Theorie zu weit vom Leben entfernt. Wutausbrüche sind fern von Rationalität und mögen eine Demütigung oder Kränkung ungeschehen machen. Sie sollen einen Ausgleich schaffen. Charakteristisch seien nach Expertenmeinung folgende Züge: Ich-Schwäche, Identitätsunsicherheit, erhöhte Vulnerabilität und Kränkbarkeit, ein passiv-aggressiver Charakter und eben eine Neigung zu unkontrollierten Impulsdurchbrüchen, die zuweilen mit inszenatorischen Strategien unterstützt werden, die einem Verlust von Kontrollimpulsen nur scheinbar widersprechen. Eine antisoziale Aggression lässt sich ebenso als Verlust der Impulskontrolle verstehen wie auch als alles beherrschendes Vorhaben, das Planungen erlaubt. Es scheint also explosive und langwirkende Inpulsdurchbrüche zu geben. Solche im Grenzbereich angesiedelten Persönlichkeiten prädestinieren auch für Suizidattentate. Sie finden sich in großer Zahl unter den Personen, die sich selbst beschädigen. Es ist übereinstimmende Ansicht aller Experten, dass bei diesem Personenkreis nachhaltige Traumata als subjektiv empfundene existenzielle Bedrohungen der Persönlichkeitsveränderung vorausgingen. Über genetische Determinanten kann man derzeit nur spekulieren. Sie scheinen für Taten unter Impulskontrollverlust kaum eine Rolle zu spielen.

Jeder Mensch erlernt mehr oder weniger den Umgang mit Traumata. Die zur Persönlichkeit gehörende Wertehierarchie kann durch fortgesetzte Gewalterfahrung, die als ungerechtfertigt und demütigend erlebt wird, ins Wanken geraten (und ins Gegenteil verkehrt werden) und eine Integration der Erfahrungen in eine Hierarchie oder vielleicht besser: ein Schema erschweren oder verunmöglichen.

 

Wie kann man nun Verluste von Impulskontrolle bei traumatisierten Flüchtlingen verstehen?

Da betrachten wir zuerst die Folge einer gewalttätigen oder existenziell bedrohlichen Traumatisierung, die zu einer Belastungsstörung führen kann, dann den Verlust des sozial kontrollierenden Rahmen, ferner die Anfeindungen während und nach der Flucht sowie den Verlust stabilisierender Faktoren als Feed-back in Familie, durch soziale Rollen. Als kardinales Symptom gilt eine permanente Übererregtheit, die mit einer dauerhaften Senkung der Erregungsschwelle zusammengeht, d.h. äußere Reize führen (vor)schneller zu einer Reizantwort.. Diese drückt sich in Unruhe, Angst, Panik, Schlafstörungen, Überwachheit, Misstrauen aus. Die Übererregtheit ist die Folge von konditionierenden und prägenden Reizen, die in einer einmaligen oder wiederholten Bedrohungssituation erlebt wurden. Durch neuronale Erinnerungsimpulse wird die Bedrohungssituation immer wieder in physiologische Prozesse umgewandelt. Von Konditionierung kann man sprechen, wenn die Bedrohung und Gewalterfahrung unausweichlich erscheint, d.h. die klassischen Muster von Flucht und Kampf (oder Totstellreflex) verstellt sind und die Erinnerungsbilder den Betroffenen vor Augen führen, dass sie über keine Handlungsfähigkeit verfügten und ihre Hilflosigkeit einräumen mussten. Kommt es nun nicht zu einer Integration der Erfahrung, sondern bleibt der Prozess der Integration durch Mühsal stecken, versucht der Organismus vermutlich durch erinnernde Wiederholung des auslösenden Ereignisses eine Integration zu erreichen, (zuweilen eine phantasievolle Umdeutung). Daher bleibt die Übererregtheit erhalten, bis eine Integration gelingt. Der Traum führt ergänzend Lösungen für schwierige Probleme vor, die bei sinnvoller Deutung einer Integration hilfreich sein können. Wir hätten es in diesen Fällen mit einem circulus vitiosus zu tun. Integration meint in wolkiger Formulierung die Entschärfung des quälenden Charakters der Erinnerungen, jedoch nicht das Vergessen der Erinnerungen, also eher den Beginn eines wiedergewonnenen Vertrauens zu sich selbst und den eigenen aktiven Handlungschancen.

Dieser Mechanismus ist selbstreferentiell. Er unterhält sich selbsttätig, indem durch die Erinnerungsbilder Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet werden, die zugleich eine langfristige Prägung begünstigen. Bei Menschen mit Belastungsstörung kann man dies an erhöhten Blut- und Urinwerten ablesen, die man von Hormonen und ihren Abbauprodukten erhebt, die durch die vermehrte Adrenalinausschüttung in einer stofflichen Kaskade vom Körper gebildet werden (hier vor allem: Cortisol, Glucokortikoide und Opioide). Die Folge dieser Kaskade ist eine Senkung der Reizantwortschwelle. (Auf der Erscheinungsebene sind die Betroffenen zappelig und wippen ständig mit den Beinen. Sie sind gereizt, neigen zu Missverständnissen, mit einem Wort: Sie sind „genervt“.)

Eine dauerhafte Senkung der Reizantwortschwelle (jeder Mensch hat eine optimale Bandbreite, Reize wahrzunehmen und darauf zu antworten) macht die Betroffenen besonders empfänglich für Außenreize, jedoch auch für Reize, die sie selbst (im Gehirn) generieren. Eine Reizunterscheidbarkeit ist kaum möglich, weil die Reize selten ins Bewusstsein dringen. Die Betroffenen sagen dann: „Ich war außer mir. Ich habe mich verloren. Ich kann mich nicht sicher erinnern.“ Wenn diese Übereregtheit über längere Zeit andauert, haben die Betroffenen meist Strategien entwickelt, der Vielzahl der Reize aus dem Weg zu gehen: Sie ziehen sich zurück und meiden Situationen, in denen eine Reizdiskriminierung schlecht möglich ist. Sie ziehen sich von sozialen Situationen zurück.

Überwachheit führt bei längerem Bestehen zu einer Verarmung an Transmittersubstanzen wie z.B. Serotonin. Auch dies führt zu einer Vertiefung der Übererregtheit, vor allem zu Schlaflosigkeit. Es finden ein zunehmender Verbrauch und eine ungenügende Neubildung von Transmittersubstanzen statt.

Dadurch wird das Bedeutungsverständnis für Außenreize vermindert oder verfälscht. Eine Zuordnung von Reizen und die Suche nach einer adäquaten Antwort werden abgekürzt. Die Betroffenen lassen ihren Körper antworten, ohne das Bewusstsein vorzuschalten.

 

Im Bereich der optimalen Reizwahrnehmung und Reizantwort liegt die Verbindung zur Impulskontrolle. Innere Impulse (aus Wut, Frustration, Ohnmachtserleben) können nur zu einer adäquaten (d.h. sozial tolerierten)  Handlung führen, wenn die Antworten sich physiologisch im optimalen Band abspielen und auch in diesem Band gespeichert wurden. (Band heißt es deshalb, weil die Schwelle keine Linie sondern eben ein breiteres Band darstellt, wenn man es anschaulich macht.) Ist die Reizantwort im suboptimalen Band eingespeichert worden („Alter, was guckst du?“), wird sie meist auch unter diesen Bedingungen reproduziert, d.h. ein Blick, ein Wort führen zu Stereotypien.

 

Parallel zur Physiologie und den stofflichen Prozessen verläuft ein psychischer Prozess, über dessen „Verschaltung“ und stofflicher Ausdruck noch wenig bekannt ist. Man kennt eigentlich nur die Bezirke des Gehirns, die von Reizen angesprochen werden und reagieren(z.B. Mandelkern, Frontallappen). Und es gibt zahlreiche Ansätze für Theorien, die erklären sollen, wie der Mechanismus der Impulsbildung, Impulskontrolle und Dekompensation der Impulskontrolle verläuft.

Es handelt sich bei der Impulskontrolle um affektive Eingrenzungen (im Gegensatz zu enthemmten Affekten), um Modellierungen von nach außen gezeigten Emotionen, die als Reizantwort auf äußere Signale der Umwelt, zumeist spontan und bevor der Intellekt funktioniert, vom Organismus vorgenommen werden.

An der Entwicklung von Kindern hat man studieren können, wie Impulskontrolle gelernt wird, denn ursprünglich ist nur Lust und Unlust und daher Schreien bei Unlust. Das Erlernen von Sprache ist der wesentliche Schritt bei der Impulskontrolle. Wo wenig gesprochen oder wenig differenziert gesprochen wird, ist die Vermittlung von Instanzen zur Impulskontrolle erschwert. (nebenbei: Sprache erlaubt die „kultivierten“ Kontrolldurchbrüche als Zynismus, Herabsetzung oder Beleidigung.) Jeder Mensch bildet von sich einen Wert, den er aus Kommunikation erwirbt und in Kommunikation überprüft und ggfls modifiziert. Kränken kann man jemand nur, wenn man seinen Wert, den er als Selbstwertgefühl verwaltet, angreift und vermindert oder sein Wertsystem verunsichert. Je mehr ein Mensch gekränkt wird, desto wachsamer wird er Reize der Kränkung wahrnehmen. Die Reizschwelle wird sich senken, weil der Organismus mit der Senkung der Reizschwelle meint, Kränkungen früher zu erkennen und ihre schädliche Wirkung zu minimieren. Dadurch kommt es jedoch in fataler Weise zu einer immer weiteren Senkung der Schwelle der Reizantwort und damit der Impulskontrolle. Schädliche Impulse sind hier nicht nur Wut, sondern vor allem die damit verbundenen aggressiven Handlungen. Aus der Affektdysregulation, der Schwierigkeit, Ärger zu modulieren, aus Selbstbeschädigung und Suizidalität, abhanden gekommener Selbstwert, der Tendenz, impulsiv und risikoreich zu sein (Spielsucht) wird der Impulskontrolldurchbruch, der das Bewusstsein nicht erreicht. So jedenfalls stelle ich mir Verluste von Impulskontrolle bei Flüchtlingen, aber auch bei Einheimischen vor. Sie ist Folge von sozialen Konfrontationen. Sie braucht den als bedrohlich wahrgenommenen Anderen.

 

Freud hat vermutlich schon in „Unbehagen in der Kultur“ geahnt, dass Kultur Normen setzt, welche die ursprünglichen Impulse zähmen, dass dies aber nicht immer gelingt oder eben Formen annimmt, die dann keinen zivilisatorischen „Fortschritt“ bedeuten. Freud empfand spontane Wut jedoch nicht als Normverstoß.

Wenn bei einem wiederholt Traumatisierten die Reizantwortschwelle so weit gesenkt ist, dass auch kleinere Reize „das Fass zum Überlaufen bringen“, dann tritt ein Zustand ein, in dem die erlernten und unter Kontrolle stehenden Impulsmodifikationen nicht mehr wirksam werden, d.h. die Kontrolle über spontane Impulse versagt. Wo spielt sich der Verlust ab? Offenbar gibt es Hirnareale, die eine Zähmung der spontanen Impulse überwachen, nachdem sie von der Gesamtpersönlichkeit zuvor akzeptiert und als nützlich eingestuft wurden. Es muss sich ein nachvollziehbarer Nutzen aus dem Erlernen von Impulskontrolle gewinnen lassen. Sonst würden viel mehr Menschen die Kontrolle über ihre spontanen Impulse aufzugeben bereit sein. Ist also der Nutzen allein in der Vermeidung von Strafen zu sehen, also Folge einer induzierten Angst? Vermutlich ja. Denn eine andere Form der Einsicht in Zusammenhänge der Überlebensgarantien bekommt man als Kind oder Heranwachsender nicht angeboten. Keinesfalls ist davon auszugehen, dass eine übergeordnete Instanz im Sinne von Vernunft sich in einem bestimmten Lebens- und Lernalter bei einem Individuum vorstellt und auf Beachtung pocht. Vernunft wäre in meinem Verständnis immer nur ein Kompromiss zwischen Impulsbefriedigung und der Angst vor  Selbstvernichtung bzw. Risiko. Im sozialen Rahmen wird aus diesem Kompromiss eine Strategie zum gemeinsamen Überleben.

Grundsätzlich kann man alles, was man lernen kann, wieder verlernen. Ein dauerhafter Lerneffekt bedarf folglich besonderer Bedingungen im Vorgang des Lernens. Es sollte ein (positiv besetztes) Interesse bestehen, ein mit Affekten besetztes Vorbild, damit eine tiefe Prägung erfolgen kann. Und die ist im Allgemeinen nur dann gegeben, wenn sie von einem psychischen Prozess (z.B. der Gewissensbildung) begleitet wird. Scham kann nur auftreten, wenn die Normen bewusst gewollt, aber verfehlt wurden. Wo diese Prägung mit ambivalenten Gefühlen oder als angstvoll erlebt wird oder ohne hinreichende gerichtete Aufmerksamkeit sich vollzieht, wird der prägende Charakter eines Lernschritts oberflächlich bleiben wie eine abwaschbare Tätowierung.

Impulskontrolle wird nicht nur als gesellschaftliche Funktion gefordert, sie dient auch dem Einzelnen, indem ihm Stress erspart bleibt oder vermindert wird. Ist daher die Installation einer Impulskontrolle nur ungenügend erfolgt, bedarf es zum Verlust der Impulskontrolle nur eines geringen Aufwandes. Die dargestellten Veränderungen der Reizschwellen wären dann mühelos zu bewältigen und hätten als Gedankenmodell wenig Relevanz, wenn das zentrale Nervensystem sich gar nicht abgemüht hätte beim Prägungsvorgang.

Der Mensch, der die Kontrolle über seine Impulse einbüßt, ist außerhalb kalkulierender Überlegungen. Die Folgen seines spontanen Handelns werden nicht berechnet. Die möglicherweise übergeordnete Instanz der erlernten Impulskontrolle versagt ihre Funktion. Sie ist durch Reize ausschaltbar. Davon zu unterscheiden sind kalkulierte Verhalten, die gleichwohl die Selbstvernichtung in Kauf nehmen. Sie erfolgen im Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun, jedoch nicht von einem Überlebenswillen gesteuert oder gebremst zu werden. Hierzu zählen die geplanten, angekündigten und inszenierten Amokläufe, die eher als kalte Racheakte aufzufassen sind. Die einkalkulierte Selbstvernichtung belegt daher die Anerkennung der Verbotsnorm: Der „Amokläufer“ weiß zuvor, dass er nach seiner Tat die Schuld und seine Scham nicht aushalten will und begeht daher Suizid oder lässt sich töten.

Verlust von dauerhafter Impulskontrolle bedeutet im Kern die totale Abwendung von sozialen Lernschritten und deren Inhalten. Im Moment des Verlustes ist alles ausgeblendet, da gibt es nur noch die Person des Verlustes und einen personalen (oder fraglich: gegenständlichen) Auslöser. Eigenartiger Weise ist der Verlust der Impulskontrolle nicht mit Befreiung assoziiert, sondern immer mit Aggressionen und Autoaggressionen. Die rücksichtslose Einsamkeit im Moment des Verlustes gibt es nur in der aggressiven Variante, was die Vorstellung eines Energiestaus, der sich entlädt, nähren könnte. Depressive Reaktionen erfolgen nach meiner Wahrnehmung erst deutlich nach dem Verlust der Impulskontrolle, wenn die stofflich gesteuerten Erregungsimpulse abklingen und das Ausmaß des Kontrollverlustes ins Bewusstsein sickert, zumeist in einer Form, die an den primären Prägungsprozess erinnert (Vorwurf, Verachtung, Abwendung, Angst). Dann wird einem Menschen nach dem Verlust der Impulskontrolle deutlich, dass er nichts gelernt habe, dass seine Entwicklung stagniere und jede Bemühung um Fortschritt ohnehin sinnlos sei. Positiv enthemmte Impulskontrolle ist selten zu beobachten und wird zumeist als ausgeflipptes Verhalten, das anderen nicht schadet, charakterisiert.

Eine interessante Frage ist die nach der provozierten Aufgabe der Impulskontrolle. Kann ein Mensch dazu gebracht werden, seine Impulskontrolle zu opfern und damit seinen aggressiven Impulsen nachzugeben? Töten als enthemmtes Tun. Im Verlauf der Kindheit war noch der Imperativ „Du sollst nicht töten!“ vorherrschende Maxime. Die Aufhebung des Tötungstabus als Soldat erfolgt in einem programmierten Ritual zu Verteidigungszwecken oder zu anderen Zwecken. Das hieße doch Folgendes: Wenn Soldaten zum Verlust ihrer erlernten Impulskontrolle gebracht werden können, dann ist diese regressive Maßnahme auch jedem anderen Menschen möglich. Kann man lernen, die inhibitorischen Impulse schrittweise oder dosiert abzubauen?-----Jawohl, sagt der gehorsame Preuße. Und so mancher Richter stimmt ihm zu, andere aber auch nicht.