In den letzten Jahren seit 2015 ist die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge nach Deutschland erheblich gestiegen. Unbegleitete Jugendliche stellen ein besonderes Kapitel der Traumapolitik dar. Sie stammen zumeist aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten oder waren vor ihrer Flucht von Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Not betroffen. Sie waren vor allem Angehörige totalitärer Staaten und Regimes, die ihre Integrität und Sicherheit nicht garantieren wollten oder konnten. Unbegleitete Jugendliche genießen bis zu ihrem vollendeten 16.Labensjahr besondere Rahmenbedingen (Wohnen, Schulbildung, Betreuung usw) während ihres Aufenthalt in Deutschland. Mit dem Beginn des 17. Lebensjahres sind sie asylrechtlich Erwachsene. Wer das für willkürlich hält, hat vermutlich Recht. Jugendliche möchten aus verständlichen Gründen die Rechte aus dem Kinderschutz so lange wie möglich in Anspruch nehmen. Sind sie ohne Personalpapieren „eingereist“ oder haben ihre Papieren an Schlepper abtreten müssen oder haben sie solche Dokumente versteckt oder vernichtet, dann soll die Asylmündigkeit behördlich festgestellt werden. Bei der Altersfeststellung gilt das Mitwirkungsprinzip: Der oder die Jugendliche ist verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung zu dulden. Da aus der Beurteilung des Körperbau keine sicheren Indizien für ein bestimmtes Alter zu schließen sind, wird die sekundäre Behaarung herangezogen, die allerdings bei etlichen männlichen Jugendlichen aus hygienischen und traditionellen Gründen fehlen kann und vor allem für Mädchen eine Überschreitung der Schamschwelle bedeuten kann.

Die Interessen und Zwecke von Medizin und Verwaltungsbehörden sind also sehr verschieden oder sollten es jedenfalls sein. Es gibt außer in seuchenhygienischen Fragen keine Schnittpunkte. Sie legen unterschiedliche Maßstäbe für Wissenschaftlichkeit und Genauigkeit an, so dass einer Kollaboration generell nur abzuraten ist. Eine Kooperation setzt bestimmte Gesetzesvorgaben und richterliche Billigungen voraus. Dazu zählt auch der zulässige Widerspruch gegen Verwaltungsentscheidungen. Wenn einer Festlegung des Alters von Jugendlichen, die ohne Personalpapiere nach Deutschland geflohen oder migiriert sind, widersprochen wird, wird im Allgemeinen der medizinische Rat eingeholt. Das medizinisch begründete Urteil ist dann das letzte Wort. Danach wird ein Alter zum Faktum und zur Wahrheit der Verwaltungsbehörden. Als eine solche Wahrheit dient die Altersschätzung behördlichen Zwecken und nicht medizinisch begründeten. Allerdings entlastet die medizinische Begründung eines geschätzten Alters von jugendlichen Flüchtlingen die Behördenmitarbeiterinnen von einem Dilemma, das vom Gesetzgeber über sie gekommen ist. Denn der Gesetzgeber hat bestimmt, dass jugendliche Flüchtlinge nach dem vollendeten 16. Lebensjahr einen Asylantrag stellen müssen, damit sie zum Zwecke des legalen Aufenthaltes die Wirkungen des Asylrechts in Anspruch nehmen können. Sie fallen somit aus den Schutzbestimmungen der Kinderrechtskonventionen heraus. Das Bestimmen des Alters impliziert eine Herrschaftsattitüde.

 

Im Allgemeinen könne auch bei jungen Menschen aus anderen Kulturen und Entwicklungsbedingungen das Lebensalter mit einer Fehlerrate von plus/minus einem Jahr festgestellt werden, behaupten Experten. Die Ausnahmen sind das Problem. Exakte Altersbestimmungen verbieten sich, weil uns für eine Reihe von Herkunftsländern und -regionen die Vergleichsdaten fehlen. Schätzungen des Alters einer/s Jugendlichen erfolgen nach statistischen Berechnungen, wobei die peripheren Werte der Gaußschen Verteilungskurve, die weit vom Durchschnitt entfernt erhoben werden, komplett herausfallen, aber im Sinne einer Einzelfallprüfung Berücksichtigung finden müssten. Das Problem der Ausnahmen.
Es kann aber auch niemand verübeln, wenn man dem gesetzlichen und staatlichen Interesse sich verweigert, weil man in die Lebensschicksale von jungen Menschen nicht zu deren Nachteil eingreifen will. Der altersschätzende Gutachter kann tendenziell in Gefahr geraten, einem Henker aus nicht zu weit entfernter Zeit zu gleichen, der auch nur staatliche Aufträge erfüllt. Bedeutung erlangt die Altersbestimmung nur dann, wenn eine kritische Schwelle der Zahlen in Frage kommender Betroffener überschritten wird. Sind nur sehr wenige Adoleszenten betroffen, wird man keine gesetzliche Regelung benötigen, keine Durchführungsbestimmungen oder Lehrgänge für Beamte. Wann die kritische Schwelle überschritten ist, hängt vom Zeitgeist ab, der nie ohne willkürliche Impulse aus einem Herrschaftswillen auskommt.

 

Methoden:
 

Die am weitesten entwickelte Methode der Altersfeststellung ist die Röntgendarstellung des Skelettsystems. Dabei wird in erster Linie die Entwicklung der Handwurzel herangezogen. Forensische Bestimmungen (z.B. von altersunbekannten Leichen) benutzen ergänzend auch die Röntgendarstellung des Beckens, der Wirbelkörper und bestimmter langer Röhrenknochen sowie der Gelenke, die das Brustbein mit den Rippen bildet.
Da jungen Menschen eine derart gehäufte Strahlenbelastung nicht zuzumuten ist, wird im allgemeinen eine Röntgenaufnahme der nicht bevorzugten Hand durchgeführt und ergänzend andere Methoden hinzugezogen. In nicht seltenen Fällen von Kinderarbeit wird man kaum von bevorzugter Hand sprechen können.
Früher beliebte anthropometrische Messungen können innerhalb eines umschriebenen Kollektivs zu fragwürdigen Aussagen führen. Für Einzelbestimmungen sind sie untauglich und zudem durch rassistischen Missbrauch denunziert. Sie lassen sich auch nicht in Zweifelfällen als inneres Indiz heranziehen, wenn Vergleichsdaten vorliegen. Cesare Lombroso hat endgültig ausgedient.
 

Bei Abgrenzungsproblemen um das 16. Lebensjahr kann unabhängig von der Herkunft die Zahnentwicklung als Hinweisgeber auf das unklare Alter herangezogen werden. Beißflächenbeschaffenheit, Zahnfleischausbildung, Verlust des Milchzahngebisses, Bisshaltung u.a. können relativ genau auf das Alter schließen lassen. Eine Kooperation mit einer empirischen zahnmedizinischen Forschungseinrichtung wäre dabei notwendig.

Verfolgte junge Menschen oder solche, die eine strapaziöse Flucht hinter sich haben, wirken oft vorgealtert. Dadurch entsteht bei unerfahrenen Beamten leicht der Eindruck, es handele sich um einen älteren Menschen. Kinder, die in frühem Alter zur Arbeit gezwungen waren, weisen eine Muskelmassenstruktur auf, die sie von altersentsprechenden Kindern aus Europa unterscheidet. Daher kann ein junger Mensch aus z.B. Pakistan, der jahrelang Teppiche geknüpft hatte, ein voll ausgebildetes Handskelett aufweisen, obschon er das 15. Lebensjahr nicht überschritten hat.
Bei der körperlichen Untersuchung kann die Hautstruktur als Orientierung herangezogen werden. Pigmentierungen bestimmter Körperpartien können Aussagen machen. Narbige Veränderungen im Sinne von Keloiden treten bei schwarzen Menschen gehäuft präpubertär auf.

Es gibt eine Reihe von endokrinen Parametern, die z.T. sehr aufwendig sind und sich mit der Produktion des Wachstumshormons befassen. Auch diese Bestimmungen haben nur einen Wert, wenn Vergleichsdaten vorliegen, da die Streubreite in verschiedenen Regionen der Erde sehr groß sein kann, auch wenn genetische Determinanten wirksam sind.
Ohne eine exakte Anamnese der Belastungen der Vorfluchtzeit können alle wissenschaftlichen Nachweise in die Irre führen. Schulentwicklung mit Kenntnisrahmen, soziale Kompetenzen, Entscheidungsfähigkeit (kulturabhängig) sind nicht unwichtige Faktoren bei der Altersfestlegung. Solche anamnestischen Erforschungen überfordern die meisten Behördenmitarbeiter und fordern zudem die Unterstützung durch Dolmetscher.


Bei der heutigen Praxis der Alterseinschätzung, die sich selbst als wissenschaftlich einstuft, ist vor allem die wachsende Definitionsmacht der Arbeitsgruppe der Rechtsmediziner zu betrachten. Mit ihren Protagonisten der Charité, der Universität Münster und Hamburg sind sie dabei, einen neuen Sektor von Finanzquellen aufzutun. Sie haben die Leitlinien der Altersschätzung festgelegt und behaupten diese im "wissenschaftlichen" Diskurs.

Generell ist zu unterscheiden zwischen Alterschätzungen, die zur Frage der Strafmündigkeit vorgenommen werden, und solchen, die Jugendliche in ein Asylverfahren drängen, d.h., zur Antwort auf die Frage, ob sie das 16.Lebensjahr vollendet haben.

Dabei ergeben sich völlig unterschiedliche Verfahrensweisen. Während die Altersschätzung wegen der Frage der Strafmündigkeit nach Erwachsenenstrafrecht auf das 21. Lebensjahr konzentriert und dazu im Wesentlichen die Entwicklung des Gebisses heranzieht, bezieht sich die Frage nach der ausländerrechtlichen Handlungsfähigkeit auf die Bewertung des vollendeten 16. Lebensjahres.

Im ersteren Falle muss ein richterlicher Beschluss vorliegen, der auch eingreifende Untersuchungen legitimiert. Die Gutachten werden von Rechtsmedizinern vorgenommen, durch Röntgenaufnahmen der Handwurzel und die Expertise eines forensischen Zahnmediziners, der nach einer Panorama-Aufnahme des Gebisses den Entwicklungszustand der Weisheitszähne heranzieht für sein Urteil. Weil, wie die Rechtsmediziner sagen, ein determinierender genetischer Einfluss vorherrschend sei, spielten ethnische und ernährungsbedingte Einflüsse keine entscheidende Rolle. Die Entwicklung der Weisheitszähne sei überall auf der Welt nahezu gleich. Daher müsse man auch nicht Vergleichsuntersuchungen heranziehen, die bei den Herkunftskollektiven vorgenommen würden (und die für die meisten Herkunftsregionen nicht vorliegen). Voraussetzung sei allerdings, dass Weisheitszähne überhaupt beurteilbar angelegt und nicht verkümmert seien. Die Streubreite der Beurteilung des Handskeletts ist erheblich, wie aus den publizierten Atlanten hervorgeht. Die knöcherne Durchwachsung der knorpeligen Epiphysenfugen variiert in verschiedenen Weltregionen erheblich, so dass Schätzungen aus dieser methodischen Untersuchung keine sichere Grundlage liefern. Aus diesem Grunde hat sich die Arbeitsgemeinschaft (AG) der Rechtsmediziner auch bewusst auf das Zahnschema konzentriert. Aber auch hier ist von einer Streubreite von einem Jahr plus minus auszugehen. Es handelt sich nicht um eine Altersbestimmung, sondern Altersschätzung. Ohne die Angabe der Steubreite ist eine Schätzung wertlos, wie die AG im Deutschen Ärzteblatt selbst betont.

Im Gegensatz zu der richterlich angeordneten Altersschätzung für strafprozessuale Zwecke ist die Alterschätzung von Jugendlichen im Asyl- und Ausländerrecht ein Verwaltungsakt, der von medizinischen Laien vorgenommen wird. Es geht also nicht um Maßnahmen zur Entwicklungsverbesserung der Jugendlichen. Im Gegenteil! Dabei dürfen keine eingreifenden Untersuchungen vorgenommen werden, also kein Röntgen. Zahlreiche regionale Ärztekammern haben es für unethisch erklärt, eine Röntgenaufnahme für Verwaltungszwecke vornehmen zu lassen, da sie keine medizinische Indikation habe. (Dies gilt natürlich auch für die richterlich angeordnete!) So bleibt einem Sachverständigen die Untersuchung des Behaarungstyps, die soziale Entwicklung, die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale und die Gebissbeurteilung per Mundschau. Hierbei ist die Streubreite noch viel größer, also zwei Jahre plus minus. Die willkürliche Altersfestlegung durch einen Verwaltungsbeamten widerspricht sogar den Standards, die die AG festgelegt hat. Honi soit qui mal y pense. Diese auf angeblicher Erfahrung beruhende Maßnahme lässt sich eigentlich nur durch relativierende sachverständige Gegenstellungnahmen entkräften. Die Behördenwünsche bei Altersbestimmungen schienen bei beamteten Rechtsmedizinern besser aufgehoben.

Wenn man nun auf freiwilliger Basis eingreifende Untersuchungen vornehmen lässt, um die willkürlichen Einschätzungen der Verwaltung zu entkräften, kommt man in ein ethisches Dilemma, weil solche Untersuchungen, mögen sie auch freiwillig und nach Aufklärung erfolgen, letztlich einem Verwaltungszweck dienen.
Man kann auch nicht sagen, dass es hier Sachverständige gebe, die sich bei Tamilen genauso auskennen wie bei Menschen aus Kongo oder Angola oder Sierra Leone.
Wenn die Verwaltung ein Alter schätzt, so hat sie dies zu begründen. Die Begründung bietet dann wahrscheinlich einen Ansatzpunkt für eine Klage vor dem Verwaltungsgericht. Die Drohung mit Klage dürfte in einigen Fällen zum Rückzug der Verwaltung führen.

Die Kinderschutzkonvention der UN umfasst als Rechtssubjekte alle Kinder und Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die Bundesregierung hat die Konvention anerkannt mit der Ausnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Für sie beginnt der Erwachsenenstatus mit dem ersten Tag des 17. Lebensjahres. Das bedeutet, dass ihnen zwei Jahre Kinder(schutz)status nach Konventionsrecht und damit Entwicklungsmöglichkeiten entzogen werden. Man kann also behaupten, das deutsche Asyl“recht“ raube Kindern zwei Jahre ihrer Kinheit. Diese Diskriminierung muss im Zusammenhang mit der Vorenthaltung von Rechten für Asylsuchende insgesamt betrachtet werden. Bislang hat sich kein Kläger gefunden, der das Bundesverfassungsgericht (EuGH) wegen dieser Diskriminierung bemüht hat. Das verblüfft angesichts der wachsenden Lobby für Kinderschutz mit Bezug auf Missbrauch und sexualisierte Gewalt.

Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass Entscheidungsspielräume existieren, die Behördenmitarbeitern in Fällen von fortgeschrittener Schul- oder Berufsausbildung offenstehen. Sie sollten wesentlich häufiger genutzt werden, damit nicht nach Willkür über Menschen geurteilt wird.