Wenn man das Psychotrauma als Negativ von wahrnehmbarer, wünschenswerter Realität, die primäre Bedürfnisse wie z.B. Unverletzlichkeit oder Vertrauen und Sicherheit befriedigt, auffasst, dann sind die nachfolgenden Symptome Ausdruck einer Enttäuschung durch die Realität. Das heißt, Menschen, die ein Psychotrauma erlitten, wurden durch die eingeübte und vorgeschriebene Vorstellung von Realität getäuscht und haben sich täuschen lassen. Dieses Feld von Täuschungen und Illusionen bahnt sich eine Schneise durch eine Gefühlspolitik, von der Erwartungen und Hoffnungen ausgehen, die Zukunft biete stets Sicherheit, ja, wir hätten Anspruch auf Sicherheit. Wir können diesen Komplex aus Ent-Täuschungen und Illusionen Traumapolitik nennen. Dieser Komplex tritt oftmals im Wechsel von Illusion und traumatischer Enttäuschung ein, ohne zu Verhaltens- oder Denkänderungen zu führen. Ohne eine Beteiligung und Mitwirkung von gesellschaftlichen Kräften und Akteuren lassen sich die Täuschungen und Illusionen nicht verstehen. Indem das Resultat solcher Täuschungen in den psychiatrischen Kanon aufgenommen und als Theater für nachfolgende Störungen das leidende Individuum mit wissenschaftlicher Expertise in den Mittelpunkt des Interesses gestellt wurde, betritt der Therapeut die Bühne, fest entschlossen, aus der Tragödie eine Farce zu machen: im abgeschirmten Raum der Probenbühne tritt er stellvertretend für Gesellschaft und Politik auf, der Spezialist für Traumaentsorgung, der mit seinen Mitteln traumatisierten Individuen zu einem leidensabgewandten Umgang mit traumatischen Erlebnissen verhelfen will. Doch wo ist der Ort, an dem man sich vom eigenen oder fremden Leiden abwenden kann?

Wenn die Realität aus Störungen der Gerechtigkeit und Unversehrtheit besteht, scheint es wenig Sinn zu machen, diese Störungen in die Individuen zu verlagern, zumal die Individuen für die Realität insgesamt keine Verantwortung haben. Die Individuen sind nur ein Teil der Realität, aus der konstant Angriffe auf Einzelne oder Gruppen geführt werden. Damit verletzende Angriffe auf Einzelne ausgeführt werden können, muss das Individuum vom Ganzen abgetrennt werden, und die Verantwortung des Ganzen für den Einzelnen muss folglich unbewusst gemacht werden. Das Ganze ist die durch verfasste Institutionen tätige Ordnungsmacht, die auf Konsens basierend Unterwerfung fordert und produziert und ihre Verantwortung oft an Versicherungskonzerne und den Medizinkomplex delegiert hat.

 

Die meisten der im Symptomenkatalog für posttraumatische Belastungsstörung aufgeführten Zeichen entspringen Affekten, die auf Situationen antworten oder durch Trigger ohne Voranmeldung auftauchen. Erniedrigung, Entwertung, Demütigung und Schmerzen gehen mit Affekten einher. Es ist keineswegs so, wie wenn im therapeutischen Prozess die Begleitaffekte eine untergeordnete Rolle spielen, während vordringlich rationale Erklärungen zu einem stimmigen Resultat durchzudringen scheinen. Der mächtigste Trigger ist das Gehirn einer traumatisierten Person. Das Gehirn führt jedoch immer die Affekte und das Bedürfnis nach rationalem Verständnis in einem Gedächtnis zusammen. Da muss es erstaunen, dass posttraumatisch einige bedeutsame Affekte nicht den Weg ins DSM gefunden haben. Das nährt den begründeten Verdacht, dass politische Erwägungen den Katalog der posttraumatischen Symptome komponiert haben. Zu den unberücksichtigten Affekten zählen wir ein Gerechtigkeitsempfinden, das sich auf einen Gleichheitsgrundsatz unter Menschen beruft, ferner Wut oder organisierte Revolte, die seit der französischen Revolution zum Repertoire der reaktiven Affekte gehören u.a. Sie bleiben, weil der Katalog der posttraumatischen Symptome ein individuelles Opfer konstituiert, auf der Strecke und entfalten denkbare therapeutische Strategien bewusst nicht. Dazu zählen wir auch die individuelle Schuld und deren gesellschaftlich geprägte Vorgeschichte und eine schwer zugängliche Scham, weil man in Gegenwart der Macht die eigene Ohnmacht und Erniedrigung zu dulden gezwungen wurde. Man könnte auch noch die traumabedingte Hilflosigkeit hinzuzählen, jene verminderten posttraumatischen Handlungsoptionen, die in vielen Fällen zu Ressentiments führen. Kennzeichen des Ressentiments ist die eingeschränkte Option an Handlungsmöglichkeiten. Eine größere Empfänglichkeit für Angstimpulse wird im Katalog zerlegt in erhöhte Erregung, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, in Vermeidung und Beziehungsstörungen, ohne dass das Wort Angst genannt werden muss. Es wurde wahrscheinlich als unangebracht eingeschätzt, weil die Zielgruppe des Katalogs Vietnamveteranen waren, deren Ängste nicht pathologisiert werden durften, sondern umschrieben werden sollten.

Was also soll man von einem Katalog halten, der wesentliche Affekte, die posttraumatisch den Rang von Symptomen erhalten könnten, vernachlässigt? (Selbstverständlich gibt es das Wesen von Affekten nicht. Sie treten reaktiv auf und bilden eine Konstellation von Situationsfaktoren und der Konfrontation mit ihnen ab. Sie sind unabhängig von Vernunft und Bewusstsein.) Hat das nicht auch Auswirkungen auf die Prioritäten, die im therapeutischen Setting akzentuiert werden?

Eine merkwürdige naive Vorstellung von Realität war von Beginn an mit der Diagnose PTSD verknüpft. Naiv deshalb, weil der Verlust von Weltvertrauen oder des Vertrauens, dass die Welt gut sei, ein kindliches Gemüt voraussetzt, das offenbar prägend für das Erwachsenenalter gilt. Es ist ein ursprünglich US-amerikanisches Gemüt, das aus unerschütterlichen Überlegenheitsempfindungen und Siegesgewohnheit gebildet wird, und Gemütsverletzungen als Majestätsbeleidigungen betrachtet. Daher erschien es folgerichtig, die Folgen des Krieges in Vietnam als pathologisch im amerikanischen Individuum anzusiedeln. Der Fall aus großer Höhe in reale Umstände musste zwangsläufig pathologische Folgen haben.

 

       Normalerweise wird an dieser Stelle auf die Intentionen der Protagonisten verwiesen, die im DSM-III 1980 die posttraumatische Belastungsstörung in die Welt setzten. Wir kennen ihren Auftrag und ihre Absichten nicht. Wenn man sich die Nichtberücksichtigung bedeutsamer Affekte gegenwärtig macht, kann man über die Arbeit der Task-Force nur den Kopf schütteln, weil es sich bei der verkürzten Einschätzung von Veteranenschicksalen nur um bewusste Vermeidung gehandelt haben kann. Schließlich gehörte der Umgang mit den genannten Affekten zur psychiatrischen Standardausrüstung. Das eben berührt die politischen Hintergründe. Warum blieben zur Charakterisierung der posttraumatischen Belastungsstörung nur jene drei Kardinalsymptome (Intrusionen, Übererregtheit, Vermeidung) übrig, die in Unterkategorien allerlei Beschreibungen von Zeichen anführen, die bei zahlreichen anderen Syndromen oder im „normalen“ Leben anzutreffen sind? Warum fielen die posttraumatische Existenzangst, die zahlreichen Schuldkomplexe wegen verbrecherischer Handlungen, die Scham oder die Wut aus der Bestandsaufnahme von Zeichen heraus? Warum meinten die Schöpfer der Diagnose die vorgeschriebenen Symptome nur im Individuum zu finden? (Zuweilen wird die Forderung, dem Ganzen ein Opfer zu bringen mit dem Status, ein Opfer zu sein, verschmolzen)

Es erscheint uns richtiger, die posttraumatischen Symptome auch und vor allem in der Gesellschaft zu suchen, wo sie natürlich nicht in Einzel- oder Gruppensitzungen zu behandeln wären. Der Therapeut wäre in diesem Falle die Politik, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden müsste, wobei einzuschränken wäre, dass auch Politiker*innen als Träger posttraumatischer Symptome anzusehen wären. In der gesellschaftlich inszenierten Erinnerungskultur finden sich alle möglichen Hinweise auf Intrusionen, von Denkmälern über namentlich genannte gefallene Soldaten bis zu Gedenkfeiern, von musikalischen Werken, bildnerischer Darstellung bis in die Literatur und Poesie. Der „Held“ wird wie das „Opfer“ gesellschaftlich definiert. In jeder Gesellschaft finden wir Tabuthemen, die auf kollektive Vermeidung verweisen. Schuld wird verdrängt und Scham überspielt. Und so manche Unruhe und Empörung können wir dem Kardinalsymptom der gesteigerten Erregung zuordnen. Man kann also feststellen: Jede Gesellschaft erfüllt die Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung. Sind diese Gesellschaften also als traumatisiert zu bezeichnen? Unzweifelhaft ja!!! Erschreckende Erlebnisse, die zu Erfahrungen wurden, tragen in ihrem Kern reale oder evozierte existenzielle Bedrohungen, sie verursachen Angst und kollektive Abwehr (Rüstung) und äußern sich in Ritualen.

Diese Rituale haben kollektive Aktionen zur Voraussetzung. Da erheben sich die Fragen, wie kam es, dass die Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung allein auf individuelle Psychen angewandt wurde? Und dabei die umgebende Gesellschaft entlastete? Wie kam es also, dass kollektives Leiden in Individuen verlagert wurde? Nur in Individuen lässt sich das Leiden therapieren. Dadurch wird man zuerst auf die Erfindung, den Gebrauch und Missbrauch des Individuums verwiesen und auf die Feststellung, dass individuelles Psychotrauma eine Psyche zur Grundlage hat, die ihrerseits nicht nur einen Körper benötigt, sondern auch als Reaktions- und Projektionsfläche sozial produziert wird. Die Beschreibung und Codierung dieser Flächen kann nur durch soziale Eingriffe und Beeinflussungen geschehen sein. Die Produktion einer individuellen Psyche entsteht folglich aus dem sozialen Raum. Sie gehört samt ihrer Verantwortung, die als unabgeschlossen gelten mag, danach nur noch dem Individuum. Das scheint unter dem Gedanken des gesellschaftlichen Investments ungerecht und unter der Forderung nach Autonomie unlogisch. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um neue Überlegungen, sondern um sehr alte anthropologisch geprägte. Diese alten Gedanken sind aber offensichtlich einer Kraft unterlegen, die das Verständnis gemeinschaftlicher Prägung von einzelnen Psychen in die alleinig individuelle Zuständigkeit und Verfügung bewirkt hat. Das Resultat dieses Prozesses, der von permanenten Affekten begleitet wird, wird landläufig als soziale Atomisierung bezeichnet. Wenn aber die gesellschaftliche Pathologie sich in der individuellen Psyche spiegelt, warum sollte dann das individuelle Leiden  therapeutischen Strategien unterzogen werden, ohne zumindest zugleich die Gesellschaft auf die Couch zu legen? Haben sich Psychotherapeuten von traumatischen Erlebnissen resigniert mit ihrer Ohnmacht abgefunden? Sie stehen ganz am Ende einer Wirkkette von Machtmissbrauch, Willkür und Gewalt. Sie beziehen ihre Kraft aus einer Handlungsfähigkeit, mit der sie  handlungsunfähigen „Opfern“ begegnen. Sie wenden dabei ähnliche, allerdings abgeschwächte Machtstrategien auf ihre Klienten an wie die, die Klienten produziert haben, vor allem ein vertraglich abgesegnetes Machtgefälle.

         Aus der Tatsache, dass ich immer wieder dieselben Fragen stelle und Antworten schuldig bleibe, mag man erkennen, dass es eine schwierige Materie ist, die sich mit dem Psychotrauma  und seinen allgemeinen und pathologischen Erscheinungsformen verbindet. Sie ist nur vergleichbar mit dem Begriff der Sünde und den Warnungen vor ihr, die noch nie ein Bild von einer guten Welt erzeugt und als Option allein den Widerstand gegen solche schwammigen Begriffe, die zur Selbstdisziplin und Selbstbeschuldigung aufrufen, herausgefordert haben.