von Sepp Graessner

In der „Psychosozial“ (33. Jg. (2010) H.2 (Nr. 120), S.85-101) bietet Edward Erdos eine alternative Betrachtung des Milgram-Experiments zur Gehorsambereitschaft gegenüber Autorität, indem er die modifizierte Replikation des Experiments (unter aktuellen ethischen Bedingungen) durch Jerry Burger (2009) interpretiert. Der Aufsatz trägt den bezeichnenden Titel: „Die Milgram-Falle“. Die Grundzüge des Experiments werden als bekannt vorausgesetzt.

Die Ergebnisse des modifizierten Experiments, so Erdos, „lassen auf eine in uns allen schlummernde, angeborene Fähigkeit zur Unmenschlichkeit (?) schließen, die von sozialen Kräften unserer Umgebung ganz leicht geweckt werden kann, zum Beispiel von einem Mann im weißen Kittel.“ (S. 85) „Die Macht der situativen Kräfte“ (was immer diese definiert) veranlasse Probanden, sich den Anweisungen des Versuchsleiters zu fügen. Erdos ist offenbar durch zwei Textstellen bei Milgram bzw. Burger beeinflusst: einmal durch Milgrams Aussage, dass während des Experiments emotionale Spannungen bei einzelnen Probanden zu beobachten waren, die Erdos als „extremen Stress“ deutet, zum anderen durch einen Dialog zwischen einem Probanden und dem Versuchsleiter, in dem der Proband wiederholt Bedenken gegen eine Fortsetzung des „vorgeschriebenen“ Prozedere äußert, sich aber gleichwohl zur weiteren Stromapplikation bereit findet. Die Schreie des „bestraften Schülers“ hatten beim widerstrebenden Probanden Empathie hervorgerufen, waren aber durch intensive Ansprache des Versuchsleiters endlich zerstreut worden. Die Empathiebereitschaft nahm in dem Maße zu, je geringer die Distanz zum gepeinigten „Schüler“ wurde. Die Gehorsamsbereitschaft habe von 60% bei großem Abstand des „gequälten“ Schülers auf 20% abgenommen, wenn sich der stöhnende oder schreiende, stromdurchzuckte Schüler im gleichen Raum befand. Dies sei ein Beleg für wachsende Empathiebereitschaft, wenn die Distanz zum „Opfer“ abnehme.

Die Falle, in die der Proband gerate, bestehe in jenem extremen Konflikt zwischen Autorität des Versuchsleiters und moralischen „Instinkten.“ Sie verursache extremen Stress. Hier nun scheint durch die Argumentation von Erdos eine hintergründige Traumavorstellung (einer stress disorder), die noch dadurch unterstrichen wird, dass die Probanden in seinem Aufsatz von strafberechtigten Lehrern zu Opfern (sprachlich) mutieren. Erdos erklärt sie zu Opfern der Versuchskonstellation, weil sie in einen Konflikt zwischen Ethik (du sollst einen anderen nicht gegen seinen Willen quälen!) und Autorität (weißer Kittel, bestimmendes Auftreten, der Vorrang des erfolgreichen Experiments) getrieben seien. Die Probanden hätten dadurch „unter extremen psychischen Stress“ (S. 89) gestanden.

Daher sei auch nicht von diesem Experiment auf reale Großszenarien wie der aktiven Beteiligung an Holocaust und Genozid zu schließen. Der wesentliche Unterschied zwischen Experiment und z.B. Genozid besteht bei der Teilnahme am Experiment in der Abwesenheit von eigener Todesbedrohung, die sich real, phantasiert oder in sozialer Ausstoßung ausdrückt. Die Probanden des Milgram-Experiments liefen nicht in ein Risiko der Lebensbedrohung oder in einen Verlust der Zugehörigkeit oder befürchteter sozialer Auslöschung. Wie immer sie sich verhielten, sie hätten ihr Entgelt sicher bekommen, wie ihnen vor dem Experiment garantiert worden war.

Problematisch erscheinen einige Setzungen, die sich mit dem ethischen Gerüst der Teilnehmer befassen. Erdos erfasst eine anonyme Macht (Leiter des Experiments), die Probanden in eine Falle laufen lasse, und konfrontiert sie mit den „moralischen Instinkten“ der Probanden. Moralische Individuen verfügten über eine individuelle Moral (S. 85). Die moralischen Instinkte haben für Erdos eine Beziehung zur angeborenen Fähigkeit zur Unmenschlichkeit. Auch wenn es sich bei dieser Fähigkeit lediglich um eine durch Manipulation zu erweckende Potenz handelt, so scheint hier doch ein logischer Fehler zu liegen: Wenn diese Potenz angeboren ist, muss man sie menschlich nennen. Sie ist folglich nicht vom Individuum zu verantworten. Mir scheint, hier wird eine Biologisierung von Moral sowie eine Relativierung von Verantwortung vorgenommen. Moralische Instinkte sollen diese Potenz zähmen, aber auf welchen Genen sind diese Instinkte lokalisiert? Nach meiner Überzeugung gibt es solche Instinkte nicht. Moral entsteht aus sozialer Kommunikation und beweist ihre Wirksamkeit oder ungenügende Verankerung in sozialen Situationen. Der von Erdos angenommene Konflikt zwischen angeborener Moral (Instinkt) und angeborener Fähigkeit, reaktiv auf einen Trigger hin anderen Menschen Schmerzen zu bereiten, verlagert das Stress belastete Geschehen in ein Individuum, zeigt seine weit gehende  Unentrinnbarkeit und öffnet sich implizit für eine Lösung des inneren Konflikts: Indem der Lehrer-Proband fortfährt, die Schülerperson mit Strom zu traktieren, befreit er sich von Stresszeichen und emotionalen Spannungen. Ein Innehalten oder Widerruf im Verlauf des Experiments sind schwierig und unwahrscheinlich. Mögliche Skrupel werden ins Futur verschoben.

Dies erscheint, auch bei wohlwollender Lektüre, keine echte Lösung zu sein, wie auch die alternative Betrachtung des Experiments, wenn man sie mit dem Zimbardo-Experiment (experimentelles Gefängnisszenario) in Beziehung setzt, am Kern der Psychodynamik der Probanden vorbeizugehen. Die seit der Zeit der Originalexperimente erfundene Neubewertung des wirksamen Stresses (im Rahmen posttraumatischer Symptomatiken) vermag in diesem Zusammenhang nicht zu überzeugen, da die suggestive Kraft, die vom Versuchsleiter als Autorität auf den Probanden trifft, aus einem bereits inkorporierten Verhältnis zur Autorität zu erklären ist und nicht das Ergebnis eines intensiven Stress. Der Hinweis auf die zunehmende Empathie bei abnehmender Distanz zum bestraften oder gepeinigten Schüler(Nahbereich versus Fernbereich) ist allerdings interessant und kann in therapeutischen Situationen Bedeutung gewinnen.