Sepp Graessner
Januar 2010: Zum Interview Ulrike Hampels mit Prof. Christian Pross in „Berliner Ärzte“ 2/2010 S. 20 – 21 und zur Publikation im Klett-Cotta-Verlag (2009): Christian Pross: Verletzte Helfer- Umgang mit dem Trauma: Risiken und Möglichkeiten sich zu schützen.
Eine differenzierende Schelte
In „Berliner Ärzte“ vom Januar 2010 kommt in einem Interview Christian Pross zu Wort. Er fasst in diesem Interview sein neues Buch „Verletzte Helfer“, das zuvor Inhalt einer Habilitationsschrift war, zusammen. Das Interview steht im Zusammenhang mit der Titelgeschichte über die „(un)sichtbare Verletzungen,“ Trauma aus politisch-willkürlicher Ursache und die Versorgung von Traumapatienten in Berlin.
Als Zeitzeuge seiner Erfahrungen in der Institution „Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin“ fällt mir in seinem Buch zuerst auf, dass „Hans“, seine einleitende und exemplarische Falldarstellung, ohne Zweifel zu identifizieren ist. „Hans“ ist nicht Patient des Christian Pross gewesen, er ist auch nicht zu seiner Entwicklung befragt worden, sondern „Hans“ war Kollege, wenngleich nicht auf derselben hierarchischen Stufe. „Hans“ soll ein Beispiel für die von Pross bearbeitete Verletzung der Helfer sein, die nach der Überzeugung von Pross nicht auf infektiösem Wege in „Hans“ eingedrungen ist und zu Veränderungen des Handelns und Fühlens geführt hat, die Pross als sekundäre Verletzung bezeichnet. Da sekundäre oder stellvertretende Verletzung nicht nur Gefährdung von Helfern bedeutet, sondern zahlenmäßig recht oft anzutreffen sei, muss sich ein Prozess im Helfer abspielen, der mit einer Rationalisierung von Entscheidungsstrukturen in der Institution zu vermeiden sei. Das erscheint wenig plausibel.
In einem als wissenschaftlich ausgewiesenem Artikel hatte Pross bereits Jahre zuvor im Periodikum „Torture“ Fallbeispiele konstruiert, die seine Thesen belegen sollten. Damals wurde ihm vorgeworfen, der Artikel habe nichts mit „science“, wohl aber mit „science fiction“ zu tun. Komponierte, aus unterschiedlichen Biographien zusammengesetzte Fallbeispiele können keine These belegen. Sie sorgen lediglich dafür, dass der Autor „die Ostereier findet, die er selber versteckt hat.“
Pross hat den Prozess der vorgeblichen sekundären Verletzung von außen als Vorgesetzter von „Hans“ beobachtet. Er erörtert jedoch keineswegs die Bedingungen seines Beurteilungsrahmens. Vielmehr stellt er als unumstößliche Tatsache dar, was möglicherweise nur seine persönliche Wahrnehmung war. Damit ist „Hans“ nicht als Beleg seiner Thesen zu bestimmen, ganz abgesehen davon, dass durch die Klinifizierung des Verhaltens (Guru-Verhalten, feindliche Äußerungen gegenüber Leitungsfunktionen mit der „Lösung“ einer Kündigung) eines Kollegen, dessen Zustimmung zu einer Exposition in den öffentlichen Raum nicht vorliegt, deutlich gegen ethisch begründete Gepflogenheiten verstoßen wurde, was durch seine öffentliche Stigmatisierung belegt erscheint. Sollte Pross, wie er in seinem Buch als „üblich im Wissenschaftsbetrieb“ bestätigt, verschiedene biographische Ausschnitte zusammenkomponiert haben, ist erneut von „science fiction“ zu sprechen.
Welche Rechtfertigung für solche Publikation mag es geben? Selbstkritik und Selbstreflexion fallen sehr spärlich aus. Die Dynamik von Konflikten erfordert Einsichten bei allen Beteiligten.
Pross möchte mit seinen Recherchen die Qualität der Arbeit in Traumazentren, die Professionalität der Mitarbeiter verbessern und ein gutes Management installieren. Er glaubt nicht an die Bedeutung eines „Ansteckungsmodells,“ wonach die empathische Beschäftigung mit Narrativen von grausamen Erlebnissen und mit davon betroffenen Personen eine sekundäre Verletzung mit Symptomen hervorbringe, wie sie die Klienten selbst aufwiesen. Allerdings sind die Gegenläufigkeiten der Symptomausprägung schwer zu verstehen. Sicher erfolgen sie nicht nach dem Muster: Der Klient wird symptomärmer im Laufe der Therapie, und der Therapeut wird symptomreicher, als würde negative, belastende Energie ausgetauscht oder entsorgt.
Pross geht vielmehr davon aus, dass eine präventive Verbesserung und Reflexion der Rahmenbedingungen für psychotherapeutische Arbeit in Institutionen den Schlüssel für eine Vermeidung von narzisstischen Größen- und Retterphantasien, von Überforderung, Erschöpfung, chaotischen Arbeitsabläufen, Überidentifikation mit Klienten, Versinken in Arbeitsbelastungen oder moralisch legitimierter Getriebenheit bilden. Vor allem organisatorische Struktur helfe, individuelle „Entgleisungen,“ deren Wurzeln weit zurückreichen mögen, zu vermeiden. Wer das glaubt, glaubt auch, dass Pädagogik Grenzziehungen meint. Grenzen für Entscheidungen, Zuständigkeiten und Verhalten zu ziehen, darin allein liegt das Interesse seiner Vorschläge. Sie schaffen zuweilen die Zwänge, die sie zu beseitigen vorgeben. (Nebenbei: Ich hatte mit meinen Zwängen schon genug zu schaffen, da wollte ich die Zwänge von Perfektionisten und Ordnungsneurotikern nicht auch noch aushalten.)
Prävention sollte nach Pross in der Institution ansetzen. Gerade aber die so genannten NPO, die in psychosozialen Bereichen tätig werden, wollen oft erst zur Institution wachsen. Sie sind es nicht bei ihrer Gründung. Pross fordert klare Leitungs- und Entscheidungsstrukturen. Hierarchisierung ermögliche Prophylaxe sekundärer Verletzung. Das erscheint sehr angelehnt an die Vertikalstruktur in Banken und Versicherungen und favorisiert eine durch Macht gestützte, technisch-organisatorische Lösung. Dies erscheint doch reichlich verkürzt, und ist auch kaum von den Beiträgen der Interviewpartner im Buch gedeckt.
Dort, wo psychodynamische Überlegungen zu Problemstellungen von Helfern ein echtes Durchdringen der Materie ermöglicht hätten, legitimiert Pross lediglich seine eigene Entwicklung und Praxis im Behandlungszentrum und verdichtet sie zu einem Ratgeber für Führungskräfte im Sozialbereich. Seine Auswertungen von Interviews beziehen sich wesentlich auf die als „feindlich“ eingeschätzten Dynamiken unter den Mitarbeitern, die aus Neid, fehlender Anerkennung und Konkurrenz erwachsen. Diesen Prozessen, so Pross, sei wohl mit transparenter Organisations- und Entscheidungsstruktur beizukommen. Transparenz und Zustimmung verhindern jedoch nicht Entwicklungen und Wirkungen von Ungleichzeitigkeiten und Zielen, die in Teamsitzungen, Supervisionen und informellen Gesprächen gerade unter den Vorzeichen von implementierten Machtlinien verborgen werden. In der Tat – nach der ersten fristlosen Entlassung aus dem Behandlungszentrum ging ein Riss durch das Team, und die Team- und Fallsupervisionen wurden zu Sitzungen mit ängstlicher Zurückhaltung in allen Bereichen, weil gerade der Fall des Herrn F. durch Äußerungen in der Teamsupervision ins Rollen kam. Redlichkeit hätte erfordert zu schildern, dass der Supervisor sein Amt niederlegte, weil Inhalte aus der auf Vertrauen basierenden Supervision nicht zu arbeitsrechtlichen Schritten hätten führen dürfen.
Institutionen mit Tätigkeitsfeldern in der Unterstützung traumatisierter Flüchtlinge stehen immer vor dem Dilemma, wie weit sie die gesellschaftlichen Vorgaben in rechtlichen Fragen, bei der verordneten Unterbringung von Flüchtlingen, der Residenzpflicht usw., bei Diskriminierungen akzeptieren oder gegebenenfalls subversiv unterlaufen, wie viel Druck sie durch moralische Erwägungen und Dramatisierungen sie auf staatliche Instanzen ausüben können oder ob z.B. die Öffentlichkeitsarbeit der Darstellung der Einrichtung oder den konkreten Problemen der Flüchtlinge primär dienen soll. Mitarbeiter trennen sich leicht und argwöhnisch in jene, die diese äußere, von staatlichen Instanzen geforderte (Denk)Struktur zur Basis ihres Handelns machen, sich gleichsam abfinden und jene, die eine Angemessenheit staatlicher Struktur und Praxis verneinen. Die Trennlinie unter den Mitarbeitern setzt sich in der Dynamik unter den Mitarbeitern als Grabenkampf fort, erzeugt konkurrierende Betrachtungsweisen von der Realität und den Kräften, die einen humanen Umgang mit beschädigten Menschen erschweren. Wenn eine gewisse Unmenschlichkeit in der täglichen Praxis durch staatliche Gesetze implizit gefordert wird, verlagert sich der Reflex zum Selbstschutz auf die Ablehnung dieser äußeren Rahmenstruktur. In der Tat gibt es Mitarbeiter, die sich weigern, sich brutalisieren zu lassen und die ihre Tätigkeit nicht in humanistische Rhetorik, die im Widerspruch zu den eigenen Maximen steht, abgleiten lassen wollen. Sehr einfach ist es nun, solche „verirrten“ Kollegen mit Etiketten zu versehen, ihre Skepsis gegenüber dem staatlichen Handeln in klinische Kategorien vom burn-out bis zur Überidentifikation zu stecken und als Störfaktoren zu klassifizieren. Für diese Kollegen lag der Graben nicht primär zwischen den Mitarbeitern, wo institutionelle Strukturen vielleicht hilfreich gewesen wären, sondern zwischen ihrer Auffassung von angemessener Unterstützung und dem gesetzlich verordneten Korsett für eine unterstützende Praxis. Wenn der Staat die Gehälter finanziert, ist es nahe liegend, dass sich eine Mehrheit für Akzeptanz staatlicher Vorgaben findet, gerade wenn sie zu Turbulenzen im Kollegenkreis führen. Das Schlucken des „Asylkompromisses“, der Flughafenregelung, des in sich wasserdicht geschlossenen und selbstreferentiellen Asyl- und Ausländergesetzes, der Praxis der in Einzelfällen tödlichen Abschieberegelungen hat eher zu Magenverstimmungen geführt als eine fehlende institutionelle Struktur. Diese zwingenden Rahmenbedingungen als pathogene Faktoren für Erschöpfung zu analysieren, hat Pross unterlassen. Darum ist seine Arbeit sehr unvollständig, eher technokratisch orientiert. Denn diese Rahmenbedingungen, die der Arbeit äußeren Strukturen, formen und verformen die Empathiebereitschaft, indem sie eine Politik der Affekte vorschreiben bzw. in den Affekthaushalt eingreifen.
Das zentrale Problem der als Individuen betrachteten, verletzbaren Helfer liegt nach meiner Überzeugung an den Auswirkungen der Fähigkeit (oder Fluchs), sich in andere leidenden Personen hineinzuversetzen, im Gewinn aus dieser Fähigkeit (Macht/Anerkennung) , in der bewusst gesteuerten Instrumentalisierung dieser Fähigkeit, mithin von der mehr oder weniger erlernten Fähigkeit, Abwehr gegen belastendes Material aufzubringen und selbst generierte Schutzmechanismen in Anspruch zu nehmen. Empathie verfolgt immer einen Zweck, sowohl in der Einübungsphase des Kindes, in der die Einfühlung in Andere zur Inkorporation des Anderen, seiner Ge- und Verbote wird, als auch in Anwendung bei Erwachsenen, weshalb es keinen Sinn macht, eine hierarchische Gliederung der Zwecke vorzunehmen. Stets geht es um Vermeidung von Konflikten und Trennung und vor allem Anerkennung für die eigene Identität, dieses höchst undurchschaubare Phänomen.
Professionelle Empathie soll immer schon die Grenzen der Einfühlung im Auge haben, daher gibt es wohl eigentlich keine echte Empathie mit Leidenden durch Professionelle, eben weil sie Empathie in Dosen verteilen und sich immer der Dosierung bewusst sein wollen. Damit dienen sie ihrem Schutz vor den Wirkungen eines Vagabundentums durch traumatische Narrative.
Nun kann man sich bei Ausgabe der Dosen Empathie verirren: Zuviel oder Zuwenig sind schwer zu bestimmen, schließlich bildet man Empathie nicht tröpfchenweise, weil sie aus einem Lernprozess stammt, zum Zwecke der Anerkennung eingesetzt wird und aus verschlungenen biographischen Erlebnissen herrührt. Zu einem nicht geringen Teil speisen sich aus dem Empathieausmaß eben jene Gegenübertragungen, die Ausdruck von destruktiven Inhalten sein können. Die individuelle Praxis der Empathie wird, da sie im Nahbereich erlernt wird, auch primär im Nahbereich eingesetzt. Ferne Erfahrungsbereiche mit Empathie auszustatten, erfordert einen kognitiven Prozess, der aus Reflexion und der Selbstanerkennung der eigenen Verletzlichkeit resultiert. Daraus wird der folgerichtige Schluss gezogen, Reflexion und eigene Standortbestimmung sowie Einsatz von Empathie müssten sich einer externen Überprüfung unterziehen, um Fehler der Dosierung zu vermeiden oder um Manipulationen der eigenen Empathie zu entgehen, welche sich zu Ressentiments entwickeln können. Im Behandlungszentrum konnte man Ressentiments erleben, die durch keine Neustrukturierung von Arbeitsabläufen und Management eingedämmt worden wären. Aber gerade die Ressentiments gegeneinander bildeten Trennungsstriche und entfalteten eine Dynamik der Fremdheit, die kein Coach oder Organisationsberater hätte auflösen können.
Eine Politik der Empathie – wir alle sind Manipulationen unterworfen - unterscheidet mit Nachdruck diese Menschen, die unserer Empathie teilhaftig werden, von jenen, denen wir sie versagen können. Wenn Pross also mehr Professionalität fordert, meint er, nicht explizit, jedoch der Tendenz nach, diese Unterscheidung zu überwinden, denn solche Differenzierung von Empathieobjekten widerspreche dem Universalitätsprinzip und -anspruch von Trauma. Erst im Trauma der Anderen erleben wir die Welt als einzigartig und als umfassende Gesamtheit. Allerdings gelangen wir wiederholt in ein Dilemma: Empathie im Fernbereich z.B. mit Israelis, entwickelt aus Schuldbearbeitungen, verhindert nachhaltig (von Schiedsrichter- Rhetorik abgesehen) Empathie mit Palästinensern, eben weil politische Bewertungen von affektiven Bewertungen begleitet werden. Diese Beobachtung konnte man gerade auch im Behandlungszentrum machen, als ein eigentümliches Unbehagen gegenüber arabischen Flüchtlingen Platz griff.
Empathie ist folglich die Variable im therapeutischen Prozess, die als Voraussetzung für Vertrauensbildung bezeichnet wird, zugleich ist sie schwierig zu managen. Sie entzieht sich durch ihre individuell gewachsene biographische Geschichte technokratischen Zugriffen durch Organisation und verbindlich fixierte Arbeitsstruktur.
Empathie liegt ein Menschenbild zugrunde, oder sie gibt vor, ein solches zu haben. Dieses Menschenbild, das durch Empathie adressiert wird, unterliegt Umwandlungen durch Neugewichtung, neue Erfahrungen, erzwungene Notwendigkeiten. Es ist in konstanter Bewegung, obwohl seine Unveränderlichkeit schriftlich in Verfassungstexten fixiert wurde. Bewegung rührt vorrangig aus den reaktiven Affekten auf Ereignisse, an denen wir als abstrakte Weltbürger teilnehmen, nicht als reale Personen. Bilder spielen eine Hauptrolle, wenn es um die differenzierende Freisetzung von Empathie geht. Bilder liefern über die ausgelösten Affekte eine politische Bewertung.
Empathie ist ein Angebot, das nicht nur Anerkennung gewährt, sondern auch für sich in einem asymmetrischen Machtverhältnis einfordert. Sie zeigt die Bereitschaft zur Anpassung an die Bedingungen von Kommunikation. Aber nicht nur das: Die empathische Person setzt sich im Prozess des Verstehens Ängsten, Wut, Destruktion von Klienten aus. Hieraus entstehen Dynamiken zwischen Therapeut und Klient, die oft nicht leicht zu erkennen sind. Es kommt so zu einer Wiederholung der ursprünglichen Lernschritte, mit denen die Forderungen der Eltern aufgenommen und verwandelt wurden, um Trennungsgefühle und Konflikte zu vermeiden. Pross’ Empfehlung, in solchen Fällen einer an Ursprünge erinnernden Verletzung einer Fallsupervision zu vertrauen, ist folglich ein so alter Hut, dass man nicht glauben mag, solche Erkenntnisse beruhten geradewegs auf seinen Recherchen. Vielmehr legitimiert die Forderung nach Supervision in Traumazentren die eigenen Interessen, denn er hat eine Marktlücke, die der Team/Fallsupervisionen, für sich in Anspruch genommen. Ist das mit Professionalität gemeint? Die Verbindung von Institution mit Counseling? An solchen Joint Ventures würde mich nur eins interessieren. Früher wurden neuen Einrichtungen im psychosozialen Feld Erkenntnisse der Fortgeschrittenen gratis und interaktiv gewährt. Heute soll man nun die Dienste von Professionellen kaufen, damit sie Teams erklären, nach welchen Strukturprinzipien sie ihre Empathie dosieren können und damit Konflikte vermeiden.
Der zentrale Satz im Interview mit Ulrike Hampel lautet: „Gibt es eine haltgebende Struktur, die es erlaubt, die destruktiven Inhalte zu verarbeiten, zum Beispiel im Rahmen von Fallsupervisionen, dann wird diese „Ansteckung“ nicht stattfinden oder zumindest abgeschwächt.“ Pross, wie gesagt, glaubt nicht an Ansteckung durch traumatische Narrative, ihm fällt jedoch ein anderer Begriff, der einer Theorie entlehnt ist, nicht ein. Also bleibt es bei der Infektion in Anführungsstrichen. Er räumt allerdings ein, dass Schlaflosigkeit, Alpträume, Schreckhaftigkeit und Gereiztheit die Folge einer Übertragung vom Klienten auf den Therapeuten sein können. Nun hätte eine Deutung dieses Mechanismus interessiert, wenn es sich denn nicht um Infektion handelt, und sie hätte auch der „jungen Wissenschaft“ Psychotraumatologie gut angestanden. Außer einem Hinweis auf Aufsätze von McCann und Pearlman und Figley findet sich leider kein Aufklärungsversuch dieses Mechanismus. In Bezug auf die Anpassungsstrategie und des nach Anerkennung heischenden Begriffs der Empathie ließe sich zum Beispiel fragen, ob für die Symptombildungen bei Therapeuten ein Zuviel oder ein Zuwenig an Empathie verantwortlich gemacht werden kann oder andere mangelhafte oder überzogene Abgrenzungen im Spiel sind. Oder ob, wie das Interview nahe legt, allein technisch-organisatorische Maßnahmen, die Regeln und Ordnung installieren, befähigt sind, die Symptomatik von sekundärer Traumatisierung zu verdrängen und diese Behauptung empirisch erwiesen ist.
Halt gebende Strukturen werden hier nicht, und das wollen wir positiv werten, im Inneren von Individuen gesehen, obwohl alle möglichen Ressourcen durchdekliniert werden, sondern maßgeblich in den Rahmenbedingungen sozialer Kommunikation unter Kolleginnen. Ob man dazu die Besonderheit einer Leitungsfigur, über repräsentative Aufgaben und Moderation hinaus, gleichsam ein Präsident, in das Zentrum von Empfehlungen rücken muss, mag dem Chef der Deutschen Bank gefallen, ich halte dies angesichts des Themas für überzogen. Nun hatte aber bereits Jan Philipp Reemstma zum 10jährigen Bestehen des Behandlungszentrums gesagt: Eine starke Leitung sei unverzichtbar. Ihr verdankten die Mitarbeiter alles. Pross braucht dann nur noch zu ergänzen: und deshalb ist Leitung Projektionsfläche und Zielscheibe negativer Energien (Interview, S. 21). Wer wollte sich da nicht anschließen!
Therapeutische Arbeit mit Flüchtlingen, die in Gegenwart einer Dolmetscherin einen Schutzraum bieten möchte, ist auch in multidisziplinären Behandlerinnenteams nicht ohne weiteres unter eine verordnete Doktrin zu stellen. Es wird immer Kämpfe im Feld der Disziplin (im doppelten Wortsinn) geben. Es mag dialogisch zu Annäherungen der unterschiedlichsten therapeutischen Ansätze kommen. Auch ein/e erfahrene/r Leiter/in kann jedoch nicht als Guru auftreten. Er/Sie muss die biographischen, medizinisch-psychologischen Aus- und Weiterbildungsvoraussetzungen in ihren vielfältigen Spielarten berücksichtigen, denen sich die Mitarbeiterinnen verpflichtet fühlen. Aus diesem Grunde verbieten sich homogenisierende Phantasmen sowohl in der täglichen Praxis als auch bei der Auswahl von Mitarbeitern.
Pross Verdienste, das soll nicht verschwiegen werden, werden geradezu strahlend, wenn man ihn mit seinen beiden unmittelbaren Nachfolgern vergleicht. Das Verdienst seiner Studie ist schwer zu bewerten. Die Originalität seiner eigenen Bewertungen wird sich möglicherweise erst in empirischen Folgepublikationen erweisen, wenn seine Empfehlungen einem Elch-Test unterzogen werden.