Zwölfter Einwurf

 

Angst ist Ursache und Folge von psychosozialen Verletzungen aus allen denkbaren Beziehungen zu anderen Menschen, die durch Abhängigkeit und Machtentäußerungen charakterisiert sind. Angst verteilt sich aber ungleich: Während Angst vor Machtverlust Gewaltspiralen in Gang setzt, ist Angst als Folge von Gewalterfahrungen auf der Seite der Machtarmen oder Ohnmächtigen gebündelt, die durch die Empfindung von Ängsten  in einem Konditionierungsprozess konstant an ihre Ohnmacht erinnert werden und zumeist ein opportunistisches Verhältnis zur Ohnmacht herstellen, indem sie sich an der Angstproduktion gegenüber Anderen oder Fremden beteiligen. Macht und Widerstand gegen Ohnmacht wären damit gleichzusetzen mit der Fähigkeit, Angst zu verursachen. Angst sucht sich Projektionswände, hinter denen sie sich verbergen lässt, wenn sie im aggressiven Gewande auftritt oder aufzutreten sich gedrängt sieht.

Die Bedrohungen aus der unbelebten Umwelt, die Ängste erzeugen können, werden einstweilen unberücksichtigt bleiben, obwohl sie selbstverständlich durch das Verhältnis von Menschen zur Natur (z.B. Dunkelheit, stürmisches, tobendes Meer, flüssige, brennende Erde u.a.) die primären Ängste mitbestimmen. Hier betrachten wir die Ängste, die Menschen anderen Menschen mit Gewalt, Machtgebaren oder Drohungen direkt antun, oder indem sie Strukturen herstellen und begünstigen, die Ängste entstehen lassen, z.B. durch Hierarchien. Jedes Auftreten von Angst steigert die individuelle und/oder die kollektive Vulnerabilität, die sowohl spontan erscheinen kann, als auch (halb)bewusst erzeugt wird. Mit jeder neu erzeugten Angst bildet sich ein Summationseffekt in der emotionalen Betrachtung der Welt, der sich zu Lasten rationaler Bewertungen ausbreitet. (Das kann sogar lustvoll sein, wenn man Leser von Boulevardblättern fragt.) Allerdings wird man berücksichtigen müssen, dass ohne bewusste und vorbewusste Erfahrungen/Erlebnisse Angst nicht aufsteigen kann, weil Angst immer ein Reflex auf Realität oder angedrohte Realität oder Verlust von Realität ist. Die Empfindung, die wir Angst nennen und die auch ohne diese Benennung präsent ist, hat physiologische Grundlagen und formt sich dann psychosozial aus. Die Unterscheidung von konkret abgeleiteter Furcht und diffuser Angst, die keinen konkreten Auslöser benötigt, ist rein akademischer Natur und spielt in der Alltagswahrnehmung von Menschen keine Rolle. Selbst wenn Furcht und Angst unterschiedliche stoffliche Kaskaden in Gang setzen oder in unterschiedlichen nervlichen Bahnen ihre Speicher und Erinnerungsorte aufsuchen sollten, die Auslöser, die man als situativ bestimmt bezeichnen kann, sind stets in der sozialen oder natürlichen Realität zu finden. Die Unterscheidung mag bei therapeutischen Ansätzen von Bedeutung sein, weil bei der diffusen Angst die Abbildungen der Realität zu komplex sind und sich einer Entschlüsselung entziehen. Die Summe konkreter Furchtreaktionen verdichtet sich in Angstempfindungen, sodass ohne bewusste Wahrnehmung konkreter furchterregender Situationen und körperlicher Registrierung solcher Anlässe eine diffuse Angst nicht vorstellbar ist. Eine Urangst als Emotion gibt es nicht, weil selbst die Angst vor dem Tode ein Bewusstsein vom Leben oder ein körperliches Selbst voraussetzt und jede Angst auf konkrete, oftmals unverdaute Erlebnisse zurückzuführen ist. Ein Scheitern an der Realität kann Angst erzeugen, setzt aber eine bewusste Wahrnehmung der Realität voraus. Also: Wenn die Kontrolle über Aspekte der Realität zusammenbricht, entsteht ein Angstgefühl.

       Nun lässt gesteigerte Wahrnehmung von eigener Verletzbarkeit stets nach Autoritäten rufen, besonders wenn die klassischen wie der Staat und seine Institutionen oder die Alten oder die Priester nicht mehr das Vertrauen genießen, das sie früher beanspruchten. Die Hinwendung zu angstlindernden, Schutz verheißenden Autoritäten zeigt jedoch auch die Bereitschaft, familiäre Muster zu aktivieren und sich dazu für diverse Ideologien zu öffnen. Diese neuen Autoritäten findet man in westlichen Gesellschaften innerhalb des in den 1970er Jahren entstandenen „therapeutic turns“ in Gestalt von Psychiater*innen und Psycholog*innen, die u.a. darüber befinden, welche Gefühle richtig oder falsch, formbar oder verfestigt sind, selbst wenn die Verknüpfungen zu realen Erlebnissen nicht mehr herzustellen sind oder sich in spekulativen Vermutungen verlieren.

    Der „therapeutic turn“ individualisiert Emotionen und Verhaltensmuster und ist als Antwort auf die vielfältigen kleinen und großen Bewegungen der Antipsychiatrie zu verstehen, die in Europa (Basaglia) und den USA (Szasz) in den 1970er Jahren die gesellschaftliche Verantwortung für die aus dem Gleichgewicht Geratenen in den Vordergrund rückten und Kliniken entvölkerten. (Johannes-Evangelium: „Steh auf, nimm dein Bettund geh hin!  Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag.  Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen“.) Der Widerstand gegen bestimmte Heilungshandlungen hatte eine lange Tradition und wählte vor über 2000 Jahren und auch heute oftmals absurde bürokratische Begründungen. Der neue Weg des „therapeutic turn“ führte direkt in die bis dahin schlummernde Psychobiologie mit ihren determinierenden Koordinaten, die als Rüstzeug Sicherheit versprachen. Dazu trugen die Märchen und Ideologien von der genetischen Beeinflussung, gar Festlegung von Störungen ebenso bei wie der Glaube an Zahlen der Statistik, die aus der Messbarkeit des exemplarischen Subjektiven „gewonnen“ worden waren und Urteile prägen. Beide Disziplinen sind nichts als Improvisationen über ein Thema von Wahrheit in Einzelfällen, die wie die  Wetterprognose sogar regional auch mal Recht behalten. Wenn ich mit Traumatisierten umgehe, pfeife ich auf das „exemplarisch Subjektive“.

Angst tritt zumeist bevorzugt beim Anblick oder Erlebnis von nicht Regel- oder Normkonformen auf, wenn eine gewisse Konditionierung auf Regelrechtes im Sozialisationsprozess erzeugt worden ist. Sofort setzt nach der Konfrontation mit Normabweichung ein Verdrängungsprozess ein, der den Anlass für Angst vertreiben soll. Es besteht eine lineare Beziehung von der Enge der Regeln zu größerer Angst. Je enger die Normen, desto heftiger fällt die Angstreaktion aus. Eine solche platte Gleichung wird auch durch Statistik und Messdaten aus Fragebögen erzielt, die vorgeben, ein Individuum in einem ausgewiesenen Augenblick zu charakterisieren. Wem es ernst mit einem individuellen Subjekt ist, der sperrt es nicht in oberflächliche Datenerhebungen ein. Der Augenblick hat eine Vorgeschichte, und zahllose Einflüsse aus Umwelt und Wahrnehmungen prägen den Augenblick, wobei die psychosozialen Verarbeitungen und Engramme sehr unterschiedlich ausfallen. Das alles macht die Qualität eines Individuums aus und das ist ohne Irrtümer nicht in Zahlen oder in Schnittmustern festzuhalten. Annäherungen können vorkommen. Sie sollten aber in allen Urteilen benannt werden. Das heißt, Urteile sind stets höchstens Annäherungen, die sich als richtiger oder falscher Zugang herausstellen können.

Überall dort, wo Angst zum Persönlichkeitsmerkmal wurde und das Verhältnis zur Welt bestimmte, wurde erkennbar, dass der/die Ängstliche nicht für diese Merkmale verantwortlich ist oder gemacht werden kann. In gleicher Weise wird erkennbar, dass ein „Ich“ sich nicht selbst macht.

Das „Ich“ ist ein Produkt, das unter miserablen Produktionsbedingungen einen Straftäter hervorbringt, unter besseren Bedingungen einen Menschen, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er einige potenzielle Filter für negative Impulse durch normgerechte Prägung installiert hat. Natürlich können Filter auch versagen, wenn - und dies ist der Regelfall -  das Filtermaterial aus egoistischen Interessen gewebt ist.

Grundsätzlich stehen die Kompetenzen von Expert*innen gegen die alltäglichen Kompetenzen von Verwandten und Freunden oder Vertrauenspersonen, wenn es um lindernde Zugänge nach traumatischen Erlebnissen geht. Die Disqualifikation von Verwandten und Freunden, die öfter oder kontinuierlichen Kontakt zu einer traumatisierten Person haben macht nur Sinn, wenn es sich um die Beschädigung des Selbstbildes einer traumatisierten Person handelt, die  vor nicht vertrauten Expert*innen ausgebreitet werden soll, wenn Schuld und Scham sich in die traumatische Situation mischen. Wir haben es folglich (nicht nur bei Flüchtlingen) mit drei Instanzen zu tun, die anerkennend, zweifelnd oder prüfend mit einem traumatischen Geschehen umgehen:

Angehörige/Freunde und Expert*innen zeigen ihre Bereitschaft zur Anerkennung traumatischer Ursachen und Folgephänomene. Behördenmitarbeiter ziehen die Ursachen in Zweifel, wenn Anklagen oder Reparationsforderungen auf den Tisch kommen. Angehörige/Freunde und Behörden können zu Ungeduld tendieren, wenn sie sich nicht in eine traumatisierte Person hineinversetzen. Bei Behördenmitarbeitern bleibt von der Ursache oft nur eine Erzählung; das gleiche gilt für Folgen, die geschildert werden müssen. Wenn sich Begehren mit einer Schilderung traumatischer Erlebnisse und ihren Folgesymptomen verbinden, ist kritisches Vertrauen zusätzlich zu Vorstellungskraft und Offenheit verlangt. Es entsteht ein Kampf auf allen Ebenen: die traumatisierte Person will Anerkennung der Ursachen und Folgen, und zwar ohne Relativierungen oder Einschränkungen, zumeist soll dies auch in gutachterlichen Stellungnahmen festgehalten werden. Das stellt in vielen Fällen die Frage nach der Wahrheit in den Raum. Wenn man davon ausgeht, dass es für viele geschichtliche und psychologische Berichte keinen Wahrheitsanspruch gibt, soll man Ruhe geben und nicht mit Urteilen hantieren. Erleichterung empfinden Traumatisierte, wenn sie jemand finden, der bestätigt, dass Ursache und Folgen in einem glaubwürdigen Kausalzusammenhang stehen. Expert*innen genießen den Vorteil, dass sie sich eher auch unwahrscheinliche Geschichten vorstellen und nachvollziehen können, während Verwandte/Freunde eher geneigt sind, das Unerhörte und Ungeheuerliche abzuwehren. Die Leugnung von Realität ist aber auf allen Ebenen anzutreffen.

 

 

Dreizehnter Einwurf

 

 

Es mag der Eindruck entstanden sein, dass meine dauerhafte Kritik an der Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), ihrer Entstehung und Entwicklung sowie den Institutionen, die sie benutzen, planlos und überflüssig sei, weil die Alternative, sei sie physiologisch, psychologisch oder soziologisch, nicht erkennbar würde. Es handele sich doch schließlich um Menschen, die dauerhaft durch erschütternde Erlebnisse leiden und Erwartungen auf Linderung an ihre Umgebung richten. Und die könnte man nicht im Regen stehen lassen. Vor allem aber würde der schmerzhafte Charakter gravierender und bedrohlicher Erlebnisse durch meine Bewertungen relativiert und damit ihre Anerkennung als unfreiwillige, erzwungene Veränderung der subjektiven Orientierung im sozialen Raum in therapeutischen, gerichtlichen, behördlichen und familiären Zusammenhängen angezweifelt oder in Frage gestellt. Ich stelle dazu fest: Ich bin bemüht, jede unter Zwang verursachte Veränderung der individuellen und subjektiven Orientierung im sozialen Raum zu verurteilen (richtig verstandene Pädagogik verzichtet auf Zwang), aber auch in gleicher Weise die Handlungen und  Urteile anzugreifen, die zu psychosozialen Verletzungen führen. Daher beziehen sich alle meine Überlegungen auf die Kritik aller machtgestützten Handlungen und Urteile. Das Wissen um innere Prozesse oder die Behauptung eines Wissens (Trauma, traumatisches Gedächtnis) lassen sich stets durch die politische Macht bestätigen, wenn solch ein Wissen hinreichende Unterordnung unter die jeweilige Macht garantiert und den Interessen der Macht dient, sagte vor fast 50 Jahren Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France. Die Lektüre meiner „Notizen zur Traumapolitik“ macht dies ergänzend deutlich. Der Zeitgeist, diese variable und flexible Ausdrucksform von Gedanken und Gefühlen hat sich immer schon an den realen Machtverhältnissen orientiert. Die politische und die Expertenmacht versuchen stets, die Inhalte und ideologischen Grenzen vom Traumadiskurs, vom Opferdiskurs und vom Gewaltdiskurs festzuzulegen und gegen jeden Zweifel zu verteidigen.

Kritik trägt eine bestimmte, zuweilen opake Ansicht in sich. Sie ist jedoch keineswegs automatisch verpflichtet, den richtigen Weg, den es nicht gibt, zu zeigen. Meine Kritik richtete sich nicht gegen schmerzhafte Erschütterungen nach traumatischen Erlebnissen, sondern nahm die Funktion und die Zwecke der Diagnose, die damit einhergehende Enteignung, den populistischen Gebrauch und die vorschnellen Urteile über die Beziehung von Diagnose und Symptomatologie aufs Korn. Zuletzt habe ich bewusst zu Relativierungen beitragen wollen, indem ich eine Vielzahl von Auslöserkonstellationen anführte, denen ich gleiche oder sehr ähnliche Symptome zuordnete wie der PTBS, wodurch ich mich gegen das Exzeptionelle der klinischen Diagnose aussprach und im Sinne von Traumapolitik das Thema politischen Lösungen zuwies. Die Klinifizierung und Definition von PTBS hat m.E. übersehen, dass es fixierte Randbegrenzungen der Diagnose gar nicht gibt, weshalb im DSM-III-R schon Komorbiditäten (mit historisch gelagerten Schuldzuweisungen) hinzutraten und allerlei Kasuistiken die Anwendungsbereiche erweiterten, und die machten einen therapeutischen Zugang auch nicht sicherer. Leider hat die Beschreibung schmerzhafter Angriffe auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ihr Hauptziel bislang verfehlt: Es ist durch das angestrebte Wissen kaum eine größere Sensibilität bei Zeitgenossen und Behördenmitarbeitern eingetreten. Es galt, zumindest bei Expert*inen als allgemein, zugleich insgeheim anerkannt, dass es sich bei PTBS um eine Angststörung handele. Der schwierige Begriff der Angst und was er bedeutet und wie er entsteht und wo er herumvagabundiert, wurde aber hinsichtlich der PTBS zugunsten eines Symptomenkatalogs vermieden, der m.E. keine Spezifität aufwies. Ich bin in Übereinstimmung mit einigen Autor*innen der Auffassung, dass die posttraumatsche Belastungsstörung eine Angststörung ist, wobei die traumatischen Situationen folgende Angst in sehr unterschiedlichen Phänomenen und Reichweiten auftritt: von der mäßigen Adrenalinausschüttung mit Herzaktionsbeschleunigung und Blutdrucksteigerung bis zur Lähmung für Handlungen aller Art. Es handelt sich dabei um Stressantworten. Durch das traumatische Gedächtnis kann durch Wiederholungen eine Konditionierung eintreten, durch die Angst Symptome generiert. Angst ist ein schreckliches Gefühl, das nach traumatischen Erlebnissen von der bewertenden und urteilenden Umwelt nicht verstärkt werden sollte.

      Wenn man über traumatische Folgen von Willkür und Gewalt spricht, dann sollten die konkreten, komplexen Ursachen nicht in einem anderen Gebäude gesucht werden. Therapeutische Intervention kann sich nicht mit der Behandlung der Folgen begnügen: Sie muss Ursachen und Wirkungen zusammen betrachten, weil sie sonst auf symbolische und symptomenzentrierte Handlungen reduziert würde. Es macht keinen Sinn, allein das Fieber einer Pneumonie zu reduzieren, man wird auch die spezifischen Erreger eindämmen müssen, wenn man mir diese Analogie gestattet. Zudem sei durch die Etablierung der posttraumatischen Belastungsstörung im psychiatrischen Kanon ein falscher Weg eingeschlagen worden, so meine feste Überzeugung, die sich darauf gründet, dass traumatische Erlebnisse, die im sozialen Raum aufgrund von Konflikten entstehen, auch im sozialen Raum entschärft werden sollten, selbst wenn willkürliche Definitionen von traumatischen Ereignissen die psychischen Folgeschäden oder willkürliche Definitionen von traumatischen Verletzungen bestimmte Symptome in die Betrachtung eines Individuums rücken. Sie allein in einem intimen Szenario des therapeutischen Raumes zu behandeln, sei ein Akt des Verbergens, der Verdrängung, Ohnmacht und einer unangemessenen Reduktion. Es wird nicht bestritten, dass in wenigen Fällen Expert*innen der Seelenheilkunde sich um die gravierenden Symptomträger kümmern sollten, wenn deren Leiden unerträglich werden. Mystifikation des Unsichtbaren und falsche Dramatik dynamischer psychischer Bearbeitungen sollten aber fallengelassen werden.

Der soziale und öffentliche Raum, den Themen der Frauenbewegung einnehmen, indem Betroffene oder Gefährdete massenhaft und mit Heftigkeit sich weigern, dass Experten oder Politiker diese Themen missbräuchlich glattschleifen, ist der Ort einer Selbstbehandlung, wo Frauen Mut fassen und sich gegen Resignation oder Scham auflehnen. Wenn Männer Opfer katastrophaler Entwicklungen werden, nehmen sie auch den sozialen und öffentlichen Raum als Plattform ihrer Auflehnung gegen die Machtverhältnisse. Leider hat man Männer noch nicht gesehen, die sich gegen ihre Täterrolle auflehnten, die sie durch tradierte Macht erworben haben. Der öffentliche und soziale Raum bleibt folglich für Opfer von beklagenswerten Zuständen reserviert. Er sollte jedoch seinen Charakter zu einem öffentlichen Tribunal ausweiten. Den einzigen mir bekannten Versuch, die eigene Täterrolle öffentlich zu machen, hat „Veteran’s Movement“ 1971 gemacht, als Vietnam-Veteranen die von ihnen begangenen Gräuel und Verbrechen bekundeten und zugleich auf die Strukturen und Politiker verwiesen, die sie zu diesen Handlungen getrieben hatten. Aktives Anklagen und gemeinsames Handeln haben nach meiner Überzeugung therapeutische Effekte gegen die Angstwirkungen, wie sich an den Schüler*innen-Erhebungen in den USA nach den Schulmassakern ablesen lässt.

Für die aufmüpfigen Vietnam-Veteranen kam in den 1970er Jahren eine Verschiebung ins Psychiatrische gerade recht, weil die Politik nicht weiterwusste, wie sie auf andere Weise eine innenpolitische Pazifizierung erreichen sollte.

„Sobald die Heilung der Seelen den Psychologen und Psychoanalytikern anvertraut wird, wandelt sie sich von einer normativen zu einer positiven Sache, geht man von der Suche nach Normen zu einer Suche nach Techniken, von einer Ethik zu einer Therapeutik. Neu ist das Auftreten von Professionellen der psychosomatischen Heilung, die im Glauben, Wissenschaft zu treiben, Moral betreiben, unter dem Deckmantel der Analyse moralisieren.“ Das sind zwei Sätze von Pierre Bourdieu, die beleuchten, wie Psychowissenschaften und Psychotechniken von Politik instrumentalisiert werden können.

 

Man muss sich aber doch zwangsläufig fragen, was nach tausenden Jahren traumatischer Erfahrungen sowie der Entwicklung und Bereitstellung gesellschaftlich-kultureller Verarbeitungsmechanismen, vor allem in sozialkommunikativer Art (Gespräch, kollektiver Tanz, Gesang) und in transzendierender Weise (kollektives Ritual, Gebet, Meditation), endlich den Weg in die psychiatrischen Gesangbücher gefunden haben soll. War es wirklich allein die Erfindung einer Diagnose und ihre Einverleibung in den psychiatrischen Kanon, die im Zusammenwirken mit heilenden Allmachtvorstellungen erhellend gewirkt hat? Oder war die klinische Neubenennung lediglich ein Teelicht der Erkenntnis, obwohl ein Leuchtturm aber angestrebt und behauptet wurde. Politische Einflüsse auf die Zuordnung traumatischen Erlebens in die psychiatrische Zuständigkeit wird man keineswegs ausschließen können. (Wir haben wiederholt auf die konzertierte Entzündung des Teelichts im grellen Sonnenschein politischer Interessen hingewiesen.) Und was ging nach der klinischen Neubenennung verloren? Einen qualitativen Sprung in den allgemeinen empathischen Empfindungen, die sich auf Menschen in Not und Leiden fokussieren, hat es meines Wissens nicht gegeben. Vielmehr ist der zunehmend erweiterte Narzissmus (u.a. als Empathie mit sich selbst) als Abwendung von der sozialen Dimension der Empathie zu verstehen (Ellenbogengesellschaft, Konkurrenz, Missgunst als hochgeförderte Qualitäten des Sozialdarwinismus). Einen Quantensprung kann man allerdings bei den hervordrängenden Experten und Expertinnen für traumatische Folgephänomene feststellen. Sie bilden einen Markt, auf dem vor allem die sprachliche Stützung von Trauernden und Leidenden einen Warenwert erhält, der sich mit Aus- und Weiterbildungskosten legitimiert und sich somit vom geldfreien Tausch und der geldfreien Beratung oder Empfehlung verabschiedet hat. Auf diesem Markt wird Hilfe für den Nächsten aus seinem traditionellen Rahmen, der Familie und den Vertrauenspersonen, abgezogen und in ein Kontraktverhältnis als Ware gegen Geld transferiert. Dadurch wird der vertraute Rahmen der Familie als impotent eingestuft, was Auswirkungen haben wird auf das Verhältnis von traumatisierter Person und ihren Vertrauenspersonen, die, zugegeben, ungeschult rasch überfordert sein können. Zugleich erklärt der Anbieter von sprachlicher Stützung, dass er im Besitz eines Konzepts sei, dessen Anwendung Heilprozesse begünstigen könne. Es ist ein schlichtes Konzept, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet: ein Klient/Patient hat Schreckliches erlebt, er bemerkt (oder andere bemerken) Veränderungen im Sozialverhalten, er zeigt Zeichen oder Symptome, die erst nach dem schrecklichen Erlebnis auftraten, und er fühlt sich von Erinnerungen gepeinigt. Man braucht also keine ätiologischen Überlegungen, keine Differentialdiagnostik, kein Eindringen in frühkindliche Erlebnisse oder  Fehlverarbeitungen: es liegt alles in entlastender Schlichtheit auf dem Tisch: Auslöser – Leiden – Symptome – Leiden. Natürlich muss etwas Exzeptionelles geschehen sein, denn die Ursache-Wirkungsketten anderer Art genießen nicht die Aufmerksamkeit durch das Etikett: Trauma, wie z.B. Entlassung aus der Arbeit – Leiden – Symptome – Leiden oder Armut – Leiden – Symptome – Leiden. Das einschränkende Moment an der posttraumatischen Belastungsstörung liegt in seinem ablenkenden Charakter. Sie soll durch definierte besondere Merkmale vom allgemeinen Elend ablenken, das vergleichbare Wirkungen hinterlässt oder hinterlassen kann. Das allgemeine Elend wird außer durch Armut und Ab- und Entwertung noch durch Rassismus, Bedrohung, Gefährdung, grobe und rücksichtslose Vernachlässigung u.a. gekennzeichnet. Erfahrungen allgemeinen Elends landen nicht im traumatischen Gedächtnis (eher im schwarzen Loch der Ignoranz), auch nicht durch dauerhafte oder kumulative Effekte, so die klinische Definition, die in bewusster Weise die Wirkungen von den Ursachen trennt und im Gewande der Fürsorge sich an Verdrängungsprozessen beteiligt und dazu die Reduktion aus Komplexität in Anspruch nimmt.

Hier ist wie in vielfältigen gesellschaftlichen Prozessen keine monokausale Erklärung zu erwarten. Es handelt sich um ein Bündel von Ursachen, Einflüssen und Interessen, die in ihrer Summe in den herrschenden Diskurs Eingang gefunden haben. Eine auf dieses Bündel eingehende Analyse kann sich der Erklärung für solchen Wandel hin zum diagnostischen und therapeutischen Expertentum annähern. Einen Teil dieser Analyse habe ich in meinen Beiträgen versucht, zuweilen polemisch, weil ich der so genannte Erforschung und Festschreibung des Subjektiven, den in sozialer Kommunikation entstandenen und geäußerten Gefühlen und der Messbarkeit innerer Prozesse (alles Reale ist messbar, nur das Messbare ist real, ein Slogan, der auf die Aufklärung zurückgeht) misstraut habe. Das heißt, ich habe mich mit Fragen und Argumenten der institutionalisierten Dogmatik traumatischen Erlebens und seiner Folgen widersetzt, ohne hinreichend deutlich zu machen, wie ich mir eine Alternative vorstelle. Im Kern habe ich mich gegen eine verborgenen Trauma-Politik, die zahllose Anhänger und Mitstreiter über den gesamten Globus zu mobilisieren weiß, ausgesprochen und mich dadurch dem Verdacht ausgesetzt, einen Minderheitenstatus zu kultivieren.

Wo also sehe ich alternative Wege zur festgeschriebenen Dogmatik der Traumalehre?

 

Zuvor noch eine Provokation: Wenn Verstehen das Ziel einer Ausforschung des Subjektiven (Traumafolgen, Handlungsmotive, Konsum) ist und Verstehen nicht Billigen heißt, warum soll ich verstehen wollen, wenn ich das Subjektive nicht akzeptiere, sondern bloß als Objekt wahrnehme? Wenn ich aber das Subjektive als Zustand oder Handlungsmotiv normiere, dann muss ich Abweichungen von der Norm korrigieren. Das ist der Mechanismus einer lebenslangen Disziplinierung. Für diesen Zweck soll ich freudig leben?

 

Nun vielleicht zuerst durch Aufklärung des Erregungspotenzials bei negativen und positiven Erlebnissen, die ich mit Ausnahme der realen physischen und sozialen Lebensbedrohung, für ähnlich halte und die Unterschiede für gesellschaftlich hervorgebracht. Es könnte folglich die Unterscheidung in traumatischen Stress, familiären Stress, Beziehungsstress, Arbeitsstress oder Stress im Straßenverkehr entfallen, die lediglich durch kulturelle Bedeutungsaufladung eine unterschiedliche Intensität aufweisen. Ausgenommen wäre allein der Vernichtungsstress, der aber kaum durch den Anblick traumatisierender Effekte zur Geltung kommt, außer in symbolisch konstruierter Weise. Alle übrigen Formen haben in ihrem Kern eine oder mehrere Demütigungen. Solche Demütigungen bestehen auf einer Anerkennung des mächtigen Verursachers, und aus dieser kontinuierlich wirkenden Forderung entstehen die mittel- oder langfristigen Symptome, die ein störendes Verhalten oder eine Persönlichkeitsveränderung bewirken können. Jede Demütigung verursacht einen inneren Konflikt, der darin besteht, dass eine Entwertung stattfindet und zugleich die Unterwerfung unter den machtvollen Verursacher gefordert wird. Das definierte extreme Trauma wird jedoch so konzipiert, dass es eine autonome Kraft darstellt, die unkontrollierbare Wühlarbeit betreibt. Dieser autonome Mechanismus, dessen Physiologie wir nur in Fragmenten kennen, gehört immer wieder in Frage gestellt. Dabei kann die Erinnerung an eigene erlittene Demütigungen hilfreich sein. Externe Definition durch Lehrmeinungen, Ratgeber oder Expert*innen und persönliche Zuordnung innerer Prozesse stehen in einem interaktiven Verhältnis. Das Erstere bietet Zugang zum Zweiten und das Zweite bestätigt das Erstere als Leitmotiv und Wahrheit. In Bildern gesagt: Die Expert*innenkultur im Trauma-Feld sollte sich bewusst werden, dass sie nicht nur das spezielle Wasser anbietet, das den Durst löschen kann, sondern auch einen Bedarf an Wasser vorschreibt, indem sie ihn „wissenschaftlich“ begründet und das Bedürfnis nach Wasser der Expert*innen als individuelles Bedürfnis in die Durstigen verlegt. Der/die Durstige wird dann nur das Wasser der Expert*innen akzeptieren. Wir haben es folglich, wie schon gesagt, mit einem interaktiven Vorgang zu tun, der „Unwissenheit“ der traumatisierten Personen in „Wissen“ zu transformieren trachtet und als Voraussetzung bereits die rückhaltlose Anerkennung der Kompetenz von Expert*innen verlangt, was als win-win-Situation oder Tauschhandel (unter Ungleichen) ausgegeben werden kann.

Weiter: die dissoziierten Ereignisse oder Gefühle, die real stattfanden, aber dem Bewusstsein verschlossen bleiben, sind eine Arbeitshypothese für Diagnostiker und Therapeuten, sollten jedoch nicht in einer speziellen Diagnose aufgeführt werden. Es ist anmaßend, wenn sich Expert*innen die Fähigkeit zusprechen, mit dem Verborgenen und Unsichtbaren zu hantieren, ohne in Rechnung zu stellen, dass diese Qualitäten eines Patienten zweckmäßig und nützlich sein können. Bestimmter Drang nach Aufklärung, z.B. von dissoziiertem Material, kann Machtstreben nicht ganz verleugnen. Es kommt mir vor wie bei der Dimension der Transzendenz, die in Religionen den jeweiligen Priestern zu Macht verholfen hat, indem sie das Leben auf eine höhere Instanz orientierten: Das Leben ist die höchste Instanz! Eine mögliche Unvollständigkeit einer Erzählung traumatischer Erlebnisse und ihrer begleitenden Gefühle darf nicht durch die Entscheidung eines nichtbetroffenen Experten aufgefüllt werden. Leerstellen im Bereich transzendenter Erklärungen sind zu akzeptieren. Sie verführen leicht zu Suggestionen. Leerstellen im Bereich der physiologischen Prozesse, die ins Leiden führen, sollten dagegen geschlossen werden.

 

Gutachten im Feld der Psychologie/Psychiatrie sollten ohne Urteile auskommen. Sie sollten allein das Verständnis ermöglichen und erweitern, d.h. die möglichen Zugänge zum Verständnis aufzeigen, da es im Bereich von psychischen Störungen, Motiven und biographischen Einflüssen kein absolutes Verstehen gibt. Gutachter*innen sind keine Nebenrichter*innen. Sie sollten sich verweigern, wenn sie zu Urteilen gedrängt werden. Rechtsmediziner, die staatlich bezahlt werden, mögen ihre Bewertungen objektiv nennen, sie tragen aber das Gesangbuch ihres Arbeitgebers, in dem auch die Melodien der Karriere und Reputation auftauchen. Ob es sich um Altersschätzungen von jungen Asylsuchenden oder die Bewertung von Folterspuren handelt, viele Rechtsmediziner gelangen zu unumstößlichen Urteilen, d.h. sie singen zweistimmig.

Ein besonders subtiles Beispiel für Neokolonialismus ist der durch Hilfsorganisationen und NGO durchgeführte und von deren Regierungen mitgetragene Export westlicher Psychokonzepte in Katastrophengebiete in aller Welt (Nahrungshilfe in Hungerlagen als „globale Tafel“ sei hier ausgenommen). Ich sage Kolonialismus, weil auch in westlichen Krankheitskonzepten eine westliche Ideologie und ein westliches Gedankengerüst stecken. Dieses Beispiel zeigt hinter dem Schleier von Solidarität und Mitgefühl ein zweites Gesicht: die Schädigung traditioneller Verarbeitungsmuster traumatischer Erlebnisse in den betroffenen Gebieten. Die Ausbildung von Hilfskräften für ein euro-amerikanisches Trauma-Konzept, die Verdrängung des landläufigen Verständnisses von Not und Elend, eine Neuverteilung von Schuld, die Negierung vertrauter Mechanismen der Deutung von Symptomen sind Belege für einen Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch westlichen Mitgefühls, das sich in Publikationen und durch internationale Agenturen feiern lässt, weil und damit der empathiedurchtränkte Mensch immer auch einen spezifischen Gewinn aus seinen Handlungen zieht, solange er im globalen Maßstab vermeidet, Homogenität anzustreben, und sich für Vielfalt öffnet.

Meine Schlussfolgerung aus diesen so genannten Feuerwehreinsätzen lautet, dass der Export eines westlichen Know-how, der keinen universellen Ansprüchen genügt, unterbleiben sollte. Statt dessen sollten die jeweiligen Konzepte im Umgang mit psychisch wirksamen Traumata ausgetauscht werden, damit auch die westlichen Experten die Chance haben zu lernen und sich vertraut machen können mit der Vielfalt der posttraumatischen Verarbeitungsstrategien in anderen Erdregionen. Wir nehmen zahlreiche Praktiken samt der stützenden Philosophie und der auslösbaren Emotionen aus Asien, Afrika oder Lateinamerika bei uns auf, von der Meditation, den Verteidigungssportarten bis zum Tanz, beim Thema Trauma und seiner Integration in eine Vorstellung von Psyche lassen wir uns nicht von unserem Wahrheitsanspruch abbringen.

 

Wenn psychische Verletzungen aus politischem Handeln entstehen, z.B. Misshandlungen, Ungerechtigkeiten, Diskriminierung und Willkür, dann sollten sie nach meiner Auffassung auch im politischen Raum bekämpft werden. Das Gleiche gilt für den Missbrauch von Macht. Nur durch eine grandiose Verschiebung lassen sich diese Ursachen in die betroffenen Subjekte verlagern und von ihren ursprünglichen Quellen entfernen. Quälende Folgen, die immer wieder auf die Ursachen verweisen, wären nach meiner Überzeugung nach intensiven Schulungen von  Verwandten, Freunden, Vertrauenspersonen durch schützende, verständnisvolle Gespräche, die auf vorschnelle Urteile verzichten, zu leisten, denn Verwandte und Freunde haben die dauerhaften Kontakte. Therapeuten sind von der Alltagssituation Traumatisierter stets weit weg.     

Das Kontinuum des Schweregrads von Angstfolgen erscheint mir als ein individuell abgestimmtes Modell eher geeignet, die Prozesse in traumatisierten Menschen zu erfassen, als es der posttraumatische Katalog von Symptomen und Zeichen vermag. Ich kann also keine Unterschiede zwischen Angstfolgephänomenen und Traumafolgephänomenen erkennen. Übererregung, Vermeidungsverhalten oder Intrusionen sehe ich als konstituierende Bestandteile von Angst und Trauma. Das Kontinuum ist auch geeignet, Entwicklungen unter der Therapie aufzuzeigen, was durch Fragebögen, die eine Reduktion von Symptomen in festgelegten Zeiträumen fordern, eher vage bestimmt werden kann, da standardisierte Fragebögen nie den Grad von Objektivität erreichen.

 

Einer der schwierigsten Begriffe der Behandlung von Traumafolgen ist der Begriff der Realität. Ähnlich schwierig kommen die Begriffe der Identität, Gesundheit, Freiheit oder Wahrheit daher. Hier wird nicht auf die Unterscheidung von Realität und dem Realen eingegangen, die Lacan wichtig war. Diesen Realitätsbegriff und die Fragen nach seinen vielfältigen Bedeutungen scheint jeder am liebsten zu verdrängen, weil sie ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Wunsch- und Lebensperspektive nicht verbergen können. Welche Realität? Die der traumatisierten Klient*innen oder die der Therapeut*innen. Sie befinden sich beide in einer durch sinnliche und materielle Merkmale gekennzeichneten Realität, nehmen diese aber sehr unterschiedlich wahr. Therapeut und Klient sind durch eine Lücke verbunden. Therapie kann dann aber nur die Füllung der Lücke für beide sein. Die Bedeutung einer Orientierung in der Realität muss daher unterschiedlich ausfallen, da die Therapeut*innen erst ihre Vorstellungskraft mobilisieren müssen, um die Realität und ihre Wahrnehmung durch die traumatisierte Person angenähert zu erfassen. In eher seltenen Fällen sucht der Patient/Klientin, seine/ihre Vorstellung von der Realität des Therapeuten zu mobilisieren und plastisch zu bebildern. Es erscheint also eher leicht, wenn beide in derselben gesellschaftlichen Realität ihre Neurosen oder ihre therapeutische Kompetenz erworben haben. Sie war und ist bei uns eine bürgerliche Realität, was bei traumatisierten Personen aus anderen Kulturräumen nicht zutreffen kann. Der Doppelcharakter von Realität bewirkt, dass Realität nicht nur um einen herum existiert und auch ferne Kraftfelder wirken lässt, sondern in einer Matrix des Körpers verwurzelt oder konditioniert ist, so wie Bewegung, Erkenntnis, Lernen.

Wer eine feindliche, rassistische oder kriegsbedingte Realität in sich trägt, von den nachfolgenden Ängsten gepeinigt wird, kann nicht, ohne Sekundärschäden beim Therapeuten zu verursachen, allein durch dessen Vorstellungen erfasst und verstanden werden, obwohl Therapeut*innen sich oft (im Gegensatz zu nahen Verwandten, Freunden) dem Unerhörten auszusetzen bereit sind, und dies unter kontrollierten Bedingungen eingeübt und mit Selbstschutzmaßnahmen flankiert haben. Therapeutinnen von extrem Traumatisierten suchen stets ihre Abwehr von Gräueln und Grausamkeiten zu beherrschen und zu reflektieren. Dennoch, behaupte ich, kommen sie  nicht an den Kern der Realität traumatisierter Flüchtlinge. Der verstandene Kern bleibt Teil einer nachvollziehenden Vorstellung und kann von dort nicht zu einem gemeinsamen Realitätsverständnis führen, selbst wenn es von begleitenden emotionalen Reaktionen eingerahmt wird. Eine Beziehung oder Bindung tritt allein durch Erzählungen, Fragen, Antworten und gemeinsame Interessen ein.

Als junger Mensch habe ich mich immer gefragt, wie Auswanderer es nach drei Jahren schaffen, mir die Mentalität und Realität ihrer neuen Umgebung zu erklären. Meist blieben sie in oberflächlicher Folklore stecken. Zudem habe ich mich gefragt, welche Art von Beziehungen und Bindungen diese Auswanderer hatten, weil sie doch eine soziale Realität scheinbar umstandslos gegen eine andere eintauschen konnten. Auswanderer sind nach landläufigem Verständnis keine Flüchtlinge. Flüchtlinge, die keine nahen Bezugspersonen bei sich haben wie z.B. unbegleitete Jugendliche, verlieren unter erzwungenen Umständen personale und prägende Bindungen. Dadurch wird auf therapeutischer Seite nicht nur die Vorstellung von der traumatischen Situation in einem unbekannten kulturellen Kontext erschwert, sondern auch das Verständnis einer teilentleerten Persönlichkeit, die gleichwohl Pflichten, Begehren und Sehnsüchte nach Bindung hat. Der Weg zur Bindung führt immer über die Anerkennung der Person des Anderen und seiner zweckfreien Narrative; eine Tolerierung allein leistet nicht Bindung. Kulturell gesteuerte Herrschaftsformen verdienen allerdings nicht diese Anerkennung, nicht etwa, weil sie mit unseren Ansichten kollidieren (Auch wir haben kulturell tradierte Herrschaftsformen; die meisten nennen wir euphemistisch Pädagogik.), sondern weil sie mit menschlichen Bedürfnissen und Entwicklungsbedingungen schlechthin unvereinbar sind. (Ausgenommen ist allein die „Herrschaftsform“ der Liebe.)

Unterschiedliche Perspektiven auf Realität sind also immer Kennzeichen von Gesunden und Kranken. Oftmals sind die Gesunden nur die besser an eine Realität Angepassten. Aber woran soll eine traumatisierte Person ihre innere kriegs- und zerstörungsbedingte Realität anpassen? An den erfahrenen deutschen Rassismus oder die gesellschaftliche Abwehr? (Vielleicht besteht eine enge Beziehung zwischen dem öffentlich wahrnehmbaren deutschen Rassismus und dem gesteigerten Rassismus von Flüchtlingen. Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen mit demselben Mechanismus.) Wir sprechen hier von traumatisierten Flüchtlingen und Asylsuchenden. Sollen diese unterschiedlichen Perspektiven auf Soziales und Reales durch Assimilation eine Besänftigung von störenden Symptomen ermöglichen? Das scheint nur möglich, wenn beide, Klient und Therapeut sich bewegen und das Verhältnis zur Realität gemeinsam neu gestalten. Das scheint aber nicht möglich, wenn der Igel immer schon am Ziel ist. Soll die traumatische Realität ausgetrieben werden? Wenn Vergessen einer traumatischen Situation nicht möglich ist, wie soll Entschärfung oder Entsorgung fixierter Symptome bewirkt werden? Durch gestütztes Wiedererleben traumatischer Umstände oder durch Bedeutungsverwandlung? Durch Teilung oder Übertragung? Oder indem Vermeidung der vergangenen Realität und schon die Gedanken daran selektiv durch übendes Verhalten gelindert werden, bis der Klient sagt, ich kann die Gedanken zulassen, ohne aus der Bahn geworfen zu werden? Und das ist dann der Beginn einer Betrachtung auf eine Realität?

Ziemlich viele Fragen und dann wohl noch nicht einmal die adäquaten.

Tatsache ist wohl, dass ein traumatisierter Flüchtling eine schmerzhafte Realität in sich trägt, die es ihm schwermacht, die unverstandene neue Realität anzunehmen.

Allein durch praktische Unterstützung im sozialarbeiterischen und integrierenden Sinne zur Befriedigung von Alltagsbedürfnissen lässt sich an einer gemeinsamen Realität basteln, selbstverständlich nicht stellvertretend, sondern unter Mitarbeit der traumatisierten Klient*innen. Bei den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg haben sich wildfremde Menschen eingehakt und sind zusammen gelaufen, weil sie ein gemeinsames Interesse einte und weil das Einhaken jedem Sicherheit versprach. Nach diesem Muster sollte m.E. Unterstützung von Asylsuchenden und Flüchtlingen ablaufen: Das gemeinsame Interesse ist eine bessere Realität, die nur durch wechselseitiges Sicherheitsversprechen erreicht werden kann.

Diese Form, einer fortschreitenden Entfremdung entgegenzuwirken, erscheint nach meiner Erfahrung erfolgreicher als die Ergründung innerer Prozesse, weil darin ein Vertrauen auf die salutogenetischen Kräfte des Flüchtlings liegt. Der inneren Realität traumatisierter Flüchtlinge kann man sich durch Vorstellungen und Imaginationen annähern, die eigentlich verletzte Matrix (aus Kultur, Sprache, Biographie, Lebensentwürfen, erfahrenen Zwängen sowie verborgenen Geheimnissen) lässt sich kaum entschlüsseln. Man landet immer bei der Frage, was man vom Inneren eines Anderen wissen und verstehen kann.

 

Für Flüchtlinge bedeutet die Verurteilung zur erzwungenen Arbeits- und Teilnahmslosigkeit eine erhebliche Entwertung ihres sozialen Wesens und ihrer sozialen Kompetenzen. Die resultierende Vereinzelung ist schmerzlich. Das muss man der Politik nicht sagen. Sie weiß das, und in diesem Wissen liegt eine schäbige Grundhaltung, die sich der ausgeübten Macht bewusst ist und sich dadurch an Traumapolitik, an Politik mit und durch Traumata, beteiligt.

 

Eine Rangfolge therapeutischer Indikationen lässt sich nicht mit Bestimmtheit und Präzision aufstellen. Zwischen allen Rängen gibt es Überschneidungen und Grenzfälle, die aus wohlgemeinten Zuordnungen herausfallen. Die Zahl der als behandlungsbedürftig deklarierten Männer und Frauen hat sich enorm erhöht, seit es die klassifizierende Diagnose gibt. Therapeutische Interventionen bei Asylsuchenden und Flüchtlingen sollte nach meiner Ansicht erst beginnen, wenn gravierende traumatische Beschwerden nach der Ausschöpfung sozialarbeiterischer, d.h. integrativer Unterstützung andauern.

Wenn eine posttraumatische Symptomatik mit einem existenziellen Begehren (Aufenthaltstitel) verbunden wird (vom Staat und vom Asylsuchenden) und nur die beglaubigte krankheitswertige Symptomatik das existenzielle Begehren befriedigend beseitigen kann, dann besteht ein moralisches Dilemma, das jeder solidarische Unterstützer in sich trägt, der sich zu Gutachten, Stellungnahmen, Attesten verpflichtet wähnt. Das  bereitet ernsthafte Probleme wie seinerzeit jene Fallbeispiele bei den Gewissensprüfungen von Kriegsdienstverweigerern, die gleichfalls unauflösbare Dilemmata herbeiführten, weil die Verweigerer gezwungen wurden, sich in einer irrealen Situation zu positionieren, wo sie doch als 18jährige schon Mühe hatten, sich in realen Situationen zu orientieren. Gewissen kann man beeinflussen, aber unter keinen Umständen prüfen. Die Geschichte von fast 50 Jahren Dummheit wartet noch auf einen Autoren.