Sepp Graessner

 

Die Mystifikation der/s Vergangenen und der Vergangenheit kann vielfältige Züge annehmen. Während in anderen Kulturen als der westlichen eine gewisse Sicherheit darüber herrscht, dass Ahnen, die verwandten Verstorbenen, die aktuellen Befindlichkeiten und Handlungen direkt beeinflussen, können es im westlichen Verständnis die traumatischen Verluste von Vorfahren sein, die als symptomatische Wirkungen im Inneren der Überlebenden andauern können. Beiden Auffassungen gemeinsam ist die Vorstellung, dass sich, was Menschen heute ausmacht, ihre Betrachtungen auf die Welt und die Dinge, die sie benutzen, auf Menschen, ihr Wissen, ihr Handwerk und ihre Intuition stützen, die vergangen sind. Die Vorfahren sind folglich immer präsent, als direkte oder moralnormative Eingebung oder als entfernter Schmerz oder einfach durch den Gebrauch von Gegenständen. Rituelle Kommunikation mit den Ahnen oder geliebten Menschen und Therapie des Schmerzes über den Verlust von nahen Menschen haben ihre Schnittpunkte im Glauben an die Wirkungen des Unsichtbaren und die Narrative über das Unsichtbare wie alle Religionen und die Psychotraumatologie. Man muss sich vorbereiten und sensibilisieren lassen, um das Unsichtbare zu sehen oder anderweitig wahrzunehmen. Jede/r wird   durch soziale Akte für das genealogische Kontinuum der eigenen Art sensibilisiert, selbst wenn man sich später durch rationale Entscheidungen von den Wirkkräften des/r Vergangenen abwendet. Es erscheint klar, dass ein rationaler Umgang mit Realität nie zu einem vollständigen Urteil werden kann, wenn nicht emotionale Einflüsse, die nicht vollständig sichtbar sind, berücksichtigt werden. An bedeutender Stelle wird dies durch Bezüge zum Vergangenen und zu den Vergangenen deutlich.

Die erste Begegnung mit diesem Kontinuum haben Kinder durch Erzählungen und Märchen. Später kommen Versuche hinzu, eine Identität im Bewusstsein zu erlangen, die nur unter Berücksichtigung von vorausgegangenen Denkern, Schreibern, Forschern und Praktikern und anderen Einfluss nehmenden Künstlern oder Idolen, durch Lesen, Hören, Sehen und Sprechen eine Selbstkonstitution und ein Selbstverständnis zu erreichen ist, die zu allermeist den alten Erkenntnissen zum Leben und zu den Dingen ein klein wenig hinzufügen (oder durch Kriege, Ehrgeiz und Aggressionen abziehen). Es ist dies die Substanz, die Subjekten nach ihrer Unterwerfung zur freien Gestaltung und als immaterieller Spielraum von Ordnungsmächten, Strukturen und sozialer Organisation überlassen und viel zu selten in positiver Weise genutzt wird.

Angst und Schuld/Depression sind die inneren Kennzeichen für die Folgen traumatischer Erlebnisse wie z.B. dem plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen. Angst und Schuld/Depression können auch in bestimmten kulturellen Zusammenhängen durch akzeptierte Macht der Vergangenen, der Ahnen verursacht sein. Angst und Schuld können Folge eines verpassten Abschieds sein. Sie werden zuweilen durch positive Erinnerungen vertrieben: Man äußert sich froh über die gemeinsame Zeit.

Wenn man sich einmal klar macht, wie viel  bereits von anderen vorausgegangenen Menschen in die Welt gesetzt oder vernichtet wurde, was heute einen Menschen formt und zu Bausteinen einer Identität wird, die Orientierung erlaubt, dann wird man sich des mikroskopischen  Anteils bewusst, der aus eigener Initiative stammt. Viele der so genannten berühmten Persönlichkeiten waren nichts als Befehlshaber über Tötungsmaschinen, nichts als erfolgreiche Intriganten, Geschichtsklitterer, rücksichtslos und brutal. Nur Wenige haben ein gutes Leben gelebt und nur sehr Wenige wurden dafür gerühmt.

Realitätswahrnehmungen und deren Verwandlung in Emotionen machen es für viele gar unmöglich, der Welt einen klitzekleinen Beitrag zum Fortschritt zu schenken, denn Gefühle können nach meiner Überzeugung keinen zivilisatorischen Fortschritt bringen. Sie sind in allen Überlegungen und Entscheidungen enthalten, sie dienen jedoch nur der Präformation rationaler Schritte, weil sie ihnen vorausgehen. Sie sind das Kiesbett des Flusses der Rationalität und haben eine verblüffend längere Lebensdauer als viele Flüsse. Während das Kiesbett, auf dem das Wasser der Rationalität dahintreibt, austrocknen kann, sind Gefühle (als Reaktion auf Realität) immer wieder, wenn auch in verwandelter Form, lebendig.

Gern und bereitwillig möchten Menschen Sinn und Bedeutung in realen Vorgängen sehen. Sie scheinen dabei zu übersehen, dass Sinn nicht in den Dingen enthalten ist, sondern je nach Situation und Interesse in die Dinge und Handlungen hineingelesen wird. Es hängt folglich vom Standpunkt ab, ob der Mensch eine Gewalt sinnlos nennt. Das Opfer von Gewalt empfindet sie als sinnlos, für den Gewalttäter kann dieselbe Handlung mit Sinn versehen sein. Sinn und seine Negation sind somit flottierende Zuschreibungen, ein Chamäleon, ein Anpassungsprozess aus Wünschen, Regeln und sozialer Kommunikation mit dem Hauptakzent auf Macht und ihren Spielarten sowie Überleben als Nebenaspekt. Wer Sinn in Dingen und Handlungen zu erkennen glaubt, hat sich bereits mit Macht verheiratet, die ihm eine Sinnzuschreibung gestattet. Sehr gut lässt sich dies an den Kämpfen um Definitionsmacht ablesen, mit denen Hoheit über ein Gebiet oder einen Sachverhalt angestrebt wird, was entfernt an Markierungspinkeln von Hunden als Instinkt erinnert. Da Menschen über keine empfindsame Nase des Erkennens verfügen (außer in öffentlichen Toiletten oder in der Berliner S-Bahn), sind sie gehalten, Erkenntnis in inneren Prozessen zu generieren, wofür sie Sprachmacht und Sinn benötigen. Dadurch wurde im evolutionären Prozess des Menschen die Psychologie als Wissenschaft innerer Prozesse zum Hauptproduzenten von Bedeutung und Sinn, der zugleich – anders als in der Physik – auf Gesetze verzichten konnte, da Erfahrungen und Ahnungen scheinbar ohne stoffliche Basis auskommen können. Damit die Psychologie in der Erklärung der Welt physiologisch anschlussfähig blieb, hat sie sich verkleidet: als Neuropsychologie, Neuroökonomie, Neurosoziologie und vielen anderen Zusammensetzungen mit „Neuro-„. Die Neurosciences sind im Bemühen entstanden, der wolkigen Psychologie eine stoffliche Basis zu geben. Immer wenn die Psychologie in einer Krise steckte, hat sie Hilfe bei der Physiologie gesucht.

 

 

 

 

                                                           Achter Einwurf

 

                                Sepp Graessner, Flugblattschreiber

 

In der alewitischen dörflichen Tradition u.a. in Kurdistan war es noch in jüngster Vergangenheit üblich, Verstöße gegen das innere, selbstgegebene Gesetz der Koexistenz durch sozialen Ausschluss zu bestrafen (so berichten Anhänger der Dev-Yol-Bewegung in den 1980er Jahren). Ein Richter konnte für einen Delinquenten die Dauer des Aufenthaltsverbots im Dorf festlegen. Bei einer jährlich einmal zusammentretenden Versammlung, dem Versöhnungsfest, wurde über die Sozialstrafe erneut beraten und oftmals (nach Einsicht und Reuebekundung, vermutlich auch nach materiellem Ausgleich) als Zeichen der Versöhnung aufgehoben. Durch eine solche Bestrafung waren Gefängnisse und so genannte Freiheitsstrafen überflüssig. Der Entzug der Freiheit galt als unmenschlich und kam deshalb nicht in Betracht. Weil das Dorf in seiner Gesamtheit bei der Verurteilung anwesend war, war die soziale Kontrolle über die Einhaltung des zeitlich begrenzten (in Ausnamefällen dauerhaften) Ausschlusses einer bestraften Person gegeben, mit der dann nicht mehr gesprochen werden durfte. Die verurteilte Person musste also das Dorf verlassen und in die Welt ziehen, die ihr/m unbekannt war, da zumeist der dörfliche Raum und die angrenzenden Felder das einzig sichere Terrain für emotionale Entwicklung und Kommunikation bildeten. Die Lebensform der Nomadenverbände stellt eine Ausnahme dar: Sie kamen – ohne Strafaspekt - saisonal mit ihren Tieren zumeist nicht mit bewohnten Regionen in Berührung.

Der verbale, gestische und gewaltsame Entzug der sozialen Zugehörigkeit zu einer vertrauten, die Entwicklung der/s Einzelnen stützenden Umgebung hatte folglich einen schmerzlichen strafenden Charakter. Die archaisch anmutende Form der Strafe lässt den Blick auf unseren Rassismus lenken, was den eigenen und den von Zeitungskommentatoren einschließt, z.B. der Berliner Zeitung am Diensttag, in der ein Kommentar aus einem zunehmend eindimensionalen Unbewussten auftaucht. Wenn also in der Erzählung alewitischer Rechtsprechung der soziale Ausschluss als Strafe erscheint, so gilt für den Rassismus im euroamerikanischen Raum, dass er als unanständig und moralisch anstößig bewertet wird. Der Rassismus sagt in direkter oder indirekter Form, dass eine Frau oder ein Mann nicht dazugehören sollen, stellt mit Vorsatz einen strafenden Ausschluss dar, ist aber bei uns lediglich ein Verstoß gegen die „guten Sitten“, die in dieser Weise gar nicht gut sein können.

Genauso wichtig wie der offene oder unterschwellige Rassismus erscheint die Frage, unter welche Definition ein traumatisches Erlebnis gefasst werden solle, da ich mich beharrlich weigere, allein die psychiatrische Definition zu akzeptieren. Vielmehr führen wir bewusst zahlreiche weitere Ereignisse auf, die bei wiederholtem Auftreten die gleichen Symptome auslösen können wie jene, die Folge von direkter Lebensbedrohung oder deren Zeugenschaft sind. Definitionen des psychischen Befindens kommen selten ohne Willkür aus.

Die willkürliche Verweigerung oder Leugnung der Zugehörigkeit, wie sie in rassistischen Äußerungen beabsichtigt und deutlich wird, hat immer auch Anteile eines Strafsystems, das kürzer oder länger wehtut und wehtun soll. Wir können von rassistischer Traumatisierung sprechen, weil die Ausgrenzung unmittelbar Einfluss auf das Selbstbild und die Entwicklungschancen eines betroffenen Menschen nimmt, besonders wenn die Zugehörigkeit fortwährend, wiederholt abgestritten und willkürliche Unterschiede, z.B. verminderte Intelligenz, konstruiert werden. Eine sichere Trennlinie zwischen Willkür und Gesetz ist im Bereich der Zugehörigkeit zu einer sozialen Einheit nicht zu ziehen, weil heute Gesetz werden kann, was gestern noch Willkür war und was gestern Gesetz war, sucht sich heute Schleichwege in die Willkür. An den Nürnberger Rassegesetzen, der so genannten Erbgesundheit und Eugenik und den Sterilisationsgesetzen der Nazis ist dies u.a. nachzuweisen. Zuweilen verschwimmen Willkür und Gesetz, wenn, wie man leichtfertig sagt, Angst und ein Herrschaftswillen im Spiel sind, aber als Erklärung vermieden werden.

Aus diesen Gründen lässt sich vermutlich allein aus den psychischen Wirkungen auf rassistisch Gekränkte/Ausgeschlossene und aus den Exklusionsabsichten eine Unterscheidung ableiten, d.h. Gesetz, Rechtsprechung und Willkür haben dieselben Effekte – und das sollte zu denken geben, da diesen wegen der gesellschaftlich anerkannten Fähigkeit zur Gewalt eine emanzipatorische Komponente fehlt.

Als bei der Aufnahme der Diagnose PTBS in den Katalog der amerikanischen psychiatrische Gesellschaft (APA) soldatische Leiden in den Mittelpunkt gerückt und ausschließlich als Folge der Lebensbedrohung definiert wurden, waren Verschiebung und Verdrängung die wichtigsten Gehilfen, denn psychisch dauerhaft schmerzliche Wirkungen durch Rassismus, die jederzeit durch Erlebnisse von Rassismus aktualisiert werden konnten, waren 1980 bewusst oder unbewusst ausgeschlossen worden, obwohl sie die europäische und nordamerikanische Geschichte nachhaltig durchdrungen hatten. Wenn wir als Kern traumatischer Erlebnisse Demütigungen ansehen, dann ist die Begegnung mit rassistischen Äußerungen und Handlungen als traumatisch zu bezeichnen.

Das Ende des zweiten Weltkriegs hat den Rassismus in Deutschland nicht besiegen können. Rassismus scheint immun gegen militärische Niederlagen. Als geistige Haltung und damit als konstituierender Teil der Identität kann der Rassismus immer wieder aus den psychischen Gullys von Individuen oder Gruppen hervorkriechen. Wenn, wie ermittelt wurde, rund ein Drittel der Deutschen empfänglich für rechtes und rechtsextremes Gedankengut ist oder es aktiv propagiert, dann könnte der Anteil der Deutschen, die rassistische Gedanken hegen oder unüberlegte rassistische Handlungen begehen, deutlich größer sein, denn auch liberale oder linke Einstellungen können rassistische Haltungen hervorbringen. Rassismus speist sich aus individuellen und kollektiven Erlebnissen, bzw. den zur Verfügung stehenden sozialen und kommunikativen Verarbeitungsmustern für solche Erlebnisse. Natürlich muss man die angebotenen Verarbeitungsstrategien nicht übernehmen – Bequemlichkeit verführt aber oft zu den darin enthaltenen Projektionen. Wir haben uns angewöhnt, von Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit zu sprechen, wenn es um Abwehr von Flüchtlingen geht. Dahinter aber steht der gewöhnliche oder verbrämte Rassismus, der die eigene Position nur durch Ab- und Ausgrenzung sowie demütigendes Handeln bestimmen kann und dazu grobes oder scheinintellektuelles Instrumentarium benutzt, ja zu benutzen gezwungen ist, weil in den Sprachen bereits Differenzen zwischen Wir und Ihr, Ich und Sie angelegt sind. Im Verlangen nach Verständigung durch Sprechen ist bereits das Trennende vorhanden und dadurch setzt sich die Rede von Globalisierung, Menschen- und Bürgerrechten immer schon einem Anfangsverdacht aus. Zumindest das demütigende Handeln im Rassismus muss durch frühe Pädagogik vertrieben werden.

Als Beleg für die Schleichwege rassistischer Muster kann man die in Fernsehkrimis übliche Beschreibung von Zeugen anführen, die einen Tatverdächtigen als „südländisch“ charakterisieren. Hierdurch entweicht der Rassismus in Regionen oder in Himmelsrichtungen des Kompasses. Der Südländische steht in Deutschland im Gegensatz zum Nordländischen oder gar Nordischen. Der Sprecher nimmt eine abgrenzende Position ein. In Verbindung mit anderen Charakterisierungen meint südländisch zugleich eine Wertung, die in allgemeiner Weise für Millionen Menschen südlich der Alpen bis nach Südafrika gilt und daher für einen regionalen Fahndungserfolg irrelevant ist, allerdings sagen soll, der Verdächtige sei ein Fremder und gehöre nicht hierher. Da auch hiesige Menschen dunkle Haare und dunklen Teint aufweisen können, bleibt von der Täterbeschreibung als südländisch nur die rassistische Färbung.

Kürzlich brachte der WDR einen „Tatort“, in dem zweimal die Menschen in Katar verächtlich als Kameltreiber bezeichnet wurden, ohne dass dem durch andere Personen widersprochen wurde. So wird der Krimi im Fernsehen zu einem Produzenten oder Verstärker von Vorurteilen, und zwar unter dem Vorwand von Aufklärung der Wahrheit. Etliche Kommentare in Zeitungen und Radio verpacken rassistische Bewertungen oftmals so ungeschickt, dass sogar ich sie bemerke. Die politische Korrektheit, wenn sie denn überhaupt einen zivilisatorischen Fortschritt und nicht nur Stimmungen erzeugen will, hätte gerade beim verpackten, verkleideten und versteckten Rassismus viel zu tun.

Wenn wir uns also Gedanken über die Ursachen von erzwungenen psychischen Angriffen im Sinne traumatischer Wirkungen mit Langzeiteffekten machen, können wir den Rassismus in all seinen Ausprägungen nicht in den Hintergrund verbannen, sondern sehen uns einem zentralen Problem für menschliches Zusammenleben gegenüber, das politische Lösungen und nicht allein psychotherapeutische Zwischenlösungen fordert. Psychotherapeutische Interimsinterventionen haben u.a. die Eigenschaft, dass sie der Politik stets so viel Zeit verschaffen, dass die Ziele und Zwecke von und die Wege zu Problemlösungen verschwimmen und allmählich unbewusst werden.

 

 

                                               Neunter Einwurf

 

Wie lässt sich verhindern, dass eines Tages alle menschlichen Verhaltens- und Empfindungsmuster in irgendeiner Weise gerastert und in pathologische Kategorien eingelassen, in einer willkürlichen Anordnung von „normal“ und „anormal“ verordnet und auch akzeptiert werden? Es scheint immer um Ordnung zu gehen, wenn Klassifikationen vom Innenleben von Subjekten erstellt werden, als herrsche dort permanent Chaos. Wer oder was entscheidet darüber, welche Ordnung zur Grundlage gemacht wird, und wie wird Unordnung wieder erfolgreich beseitigt? Gern übersehen wird, dass nicht nur Ordnung das Resultat von Klassifikationen sein soll, sondern in größerem Maße geht es um Kontrolle, um die Möglichkeiten einer Überwachung: von Bewegungs- und anderen Profilen, um die Macht des Zugriffs auf Daten, die Rückschlüsse auf subjektive, psychische und intime Muster für fremde Entscheidungszwecke zulassen. Der gläserne Mensch verliert den Kern seiner Subjektivität – und hilft auch noch dabei, was die Repression aus Orwells „1984“ unnötig macht. Wer sich der Erfassung psychorelevanter Daten widersetzt, durch aktiven Widerstand oder Verweigerung, landet in einer Spezialkartei. Das Selbst wird zum Angriffspunkt von Manipulationen durch Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung, Selbstkontrolle, Selbstüberwachung und weiteren selbstverordneten Angriffen, die mehrdeutig daherkommen wie z.B. Selbstermächtigung, denn „Selbstermächtigung“ ist außerstande, mit der alltäglichen und globalen Ohnmacht zurechtzukommen, außer sie wird verleugnet und verdrängt.

Ethische „Orientierung für menschliches Handeln führt zumeist zur Komplexitätsreduktion der innerhalb der jeweiligen Situation bestehenden Handlungsoptionen“ (Fröhlich, 2017). Das bedeutet, eine Reduktion komplexer Sachverhalte, wie sie sich in Klassifikationen ausdrückt, soll dem Leben dienen. Es ist fraglich, ob Reduktionen auf eine Dichotomie von „normal“ und „anormal“ dem Leben dienlich sein können, wenn man davon ausgeht, dass das Leben seine eigenen Regeln aufstellt und durch unterschiedlich aufwendige Selbstinszenierungen kuratiert, die von Klassifikationen erheblich abweichen können, obwohl sich diese „objektiv“ nennen und die dahinter stehenden Interessen verbergen. Vielleicht haben Klassifikationen in Zeiten von Singularitäten (Reckwitz, 2017), dem individuellen Streben nach Besonderheit, auch gar nicht mehr die Macht, die sie in früheren Zeiten hatten. Wir finden zunehmend oberflächliche Ausbrüche aus der externen Klassifizierung, die allerdings durch internalisierte Maßstäbe ersetzt wird. Wir müssen heute nicht mehr Handlungen imitieren, die noch ohne internalisierte Maßstäbe auskamen, heute lernen wir Systeme und erfolgreiche Muster zuerst, bevor wir handeln. Systeme, Muster, Schemata (nach den inneren Gesetzen der Computer) hinterlassen jedoch nicht dieselbe Sicherheit wie die Imitation aus sozialem Kontext.

Aber was haben die Klassifizierten von dieser Ordnung? Nun, im Allgemeinen gar nichts, denn es handelt sich um Werturteile über sie, die wie beim groben Rassismus nur nach äußerlichen und oberflächlichen Merkmalen gefällt werden, heute jedoch auch diffus verzweigte psychische Strukturen in die Urteile einbeziehen. Der verfeinerte Rassismus oder besser: die Diskriminierung innerhalb der Wahrnehmungs- und Gefühlswelt, die konstant nach Differenzen sucht und ihre verletzende Kraft aus äußeren Merkmalen, Statistiken, Ratings, Rankings, Skalen und Schaubildern usw. bezieht, hat mit den Urteilen über psychische Entwicklungsverläufe angeblich Gesetzmäßigkeiten geschaffen und fixiert. Solche „Gesetzmäßigkeiten“ beschreiben und schreiben vor, wie ein störungsfreies Leben zustande kommt. Dabei ist unerheblich, ob es sich um objektive Gesetzmäßigkeiten handelt, solange eine Mehrheit in ihren manipulierten Vorstellungen bedient wird und davon überzeugt ist, dass sie Recht hat, weil sie dadurch lähmende Angst abbaut. Urteile und Bewertungen entlasten die Psyche und kommen oft ohne Denken aus.

     Während man Psyche als Reaktions- und Bearbeitungsinstanz für reale und existenzielle Erlebnisse und Bedürfnisse konzipiert, die, wenn sie in unmittelbarer Nähe bedrohlich auftreten, das erworbene Abwehrkorsett durchbrechen können, haben ferne Katastrophen nicht die Energie, den Abwehrwall zu durchdringen, ja zu zerstören. Sie werden konsumiert und erzeugen höchstens einen Schauer. Dabei gibt es immer auch subjektive Ausnahmen, wenn z.B. Roland Barthes durch eine Zeitungsmeldung zutiefst verstört wurde, wonach einem Gefangenen die Lektüre Kafkas verboten wurde. Die pausenlosen Meldungen von Katastrophen in aller Welt führen zur Abstumpfung, weil sie Ohnmacht fühlbar machen und anerkennen lassen.

Psychische Entwicklungen haben immer eine ökonomische und existenzielle Basis, die nach Einkommen, Beschäftigungsverhältnis, Wohnort, Bildung eine Vorabdifferenzierung gestattet, die dann meist in den psychischen Entwicklungschancen sich abbildet. Eine lineare Beziehung zwischen Sozialstatus und psychischer Entwicklung ist nicht herzustellen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein arbeitsloser Lagerarbeiter aus Berlin-Neukölln seinen Kindern ein Universitätsstudium ermöglichen kann, ist geringer als bei einem Angestellten aus Lichterfelde. Und bei der Ursachenforschung landet man dann schnell bei Intelligenz, Charakterfragen, Selbstkontrolle, Fleiß und anderen psychisch beeinflussten Komponenten, die angeblich den Wert eines Menschen bilden. Sind erst die ersten bemühten Studien als Schnellschüsse zu diesen Fragen in Köpfen von Politikern, erhalten sie den Status von wahren Urteilen, die politische Handlungen erfordern.

Wer also das gewöhnliche Leben in Klassifikationen abbildet, braucht dazu Begriffe, die benennen und Differenzen aufzeigen. Aus diesem Grunde, behaupte ich, wächst die Zahl psychiatrischer Diagnosen, die sich an einer störungsfreien Persönlichkeit orientieren. Und die kann eigentlich nur Langeweile provozieren! Im Allgemeinen wird die psychiatrische Klassifikation erfunden, um einer therapeutischen Spezifität zu dienen. Die Menge der Störungen, die in differenzierenden Katalogen festgehalten wird, macht es oftmals schwierig, eine Persönlichkeit zu erfassen, die auf eine bestimmte Störung reduziert wird. An den Rändern einer umschriebenen Störungen kommt es innerhalb einer Persönlichkeit zu Berührungen und Überschneidungen mit anderen Störungsfaktoren, so dass eine Therapie diese eine bestimmte Störung nicht fokussieren kann, ohne den gesamten Strauß an Einflussfaktoren, die eine Persönlichkeit konstituieren, zu berücksichtigen. Eine traumafokussierte Behandlung kann es sich eigentlich nicht erlauben, nur den Symptomenkatalog abzuarbeiten, da es ein Leben vor einem traumatischen Ereignis gibt und schädliche posttraumatische Einflüsse aus der wahrgenommenen Bedeutungszuordnung und dem sozialen Kontext oftmals gravierender sich auswirken als das singuläre traumatische Erlebnis. Posttraumatische Reaktionen aus der menschlichen Umwelt können heftige Verstärker der Traumata bilden.

Es macht also Vergnügen, aus den Beobachtungen von leidenden Menschen neue Diagnosen im Sinne posttraumatischer Belastungsstörungen zu konstruieren, die der ursprünglichen Definition ungeahnte Betätigungsfelder hinzufügen und sich damit ins Beliebige verflüchtigen. Dadurch in indirekter Weise auch die Eingangsfrage beantwortet, wie man der expansiven Ausweitung der Differenzierung zwischen normal und anormal entgehen könne. Wenn sich traumatische Erlebnisse und ihre Folgephänomene jederzeit und überall aus unzähligen Ursachen zutragen können, muss jeder Mensch in seinen sozialen Verbänden lernen, damit auf kommunikative Weise zurechtzukommen. Eine Expansion von Experten und vor allem Expertinnen würde damit überflüssig und müsste sich auf einige Fälle beschränken. Keine Gesellschaft kann für jeden Traumatisierten einen Experten oder eine Expertin bereitstellen. Die Hochkonjunktur traumatischen Erlebens in Wissenschaft und Populärkultur hat zu einer Entmündigung menschlicher Verarbeitungsstrategien geführt. Es ist an der Zeit, den Klassifizierern und Experten ihre Weisheiten ungeöffnet zurückzuschicken: Empfänger verweigert die Annahme. Das wäre eine Form des Widerstands und der Auflehnung im Sinne Paul Parins. Denn hinter dieser Auflehnung steht die Auffassung, dass die Folgen traumatischen Stresses herbeigeredet werden; sie werden konstruiert und führen zur Enteignung traditionellen Wissens, wie aus kollektiven Kontexten Stärken, Ressourcen und Resilienzen erworben und angewandt werden. Psychotraumatologie tritt somit an die Stelle von Verlusten, die durch die Neugestaltung als Wissenschaft mit zahlreichen Statistiken keineswegs erschöpfend ausgeglichen werden können. Die wesentliche Beziehung von traumatischem Ereignis und störenden Folgephänomenen in einzelnen Menschen kannte man schon in Mesopotamien.

 

 

 

                                               Zehnter Einwurf

 

                                      Eine Zusammenfassung

 

 

Wenn man meine kleinen Beiträge verfolgt hat, ist hoffentlich deutlich geworden, dass ich posttraumatische Symptombildungen nur in seltenen Ausnahmefällen im psychiatrischen Korpus angesiedelt sehen möchte, und zwar unter der Voraussetzung, dass mit Sicherheit ausschließlich ein traumatisches Ereignis für die Symptome verantwortlich gemacht werden kann, was ich in den meisten Fällen für nicht erwiesen halte. Zugleich habe ich Wert darauf gelegt, dass die angeblich spezifischen Symptome der so genannten posttraumatischen Belastungsstörung offensichtlich auch bei Rassismus, Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten, Vernachlässigungen, Entwertungen, Verlusten von nahen Beziehungen usw. auftreten können. Indem ich die Vielzahl der Verursachungen betone, möchte ich deutlich machen, dass nicht allein die unmittelbare Lebensbedrohung  posttraumatischen Symptomatologie hervorbringen kann, sondern vielmehr lebensgeschichtliche Erlebnisse unterschiedlicher Art den Mechanismus der psychischen Symptombildung in unterschiedlicher Ausprägung in Gang setzen können. Lebensgeschichte nimmt so unterschiedliche Verläufe und unterliegt sehr unterschiedlichen Einflüssen, dass sich jede auf Homogenität zielende Klassifikation verbietet. Das heißt, Begegnungen mit negativ bewerteter Realität sind nach meiner Überzeugung für eine Symptomatik verantwortlich, die durch einen Wandel der Betrachtung von Selbst und äußerer Realität zustande kommt. Die Bedeutung negativ bewerteter Realität ist ein gesellschaftliches Produkt; auch das Selbst fließt aus vielen gesellschaftlichen Quellen zusammen, ist also nicht statisch, sondern manipulierenden Einflüssen, Diskursen und Moden zugänglich. Zwar ist negative Realität auch Realität, sie ist jedoch im Gegensatz zur positiv bewerteten in der Lage, in grundsätzlicher Weise Fragen zur eigenen Existenz und zum Sinn zu stellen und alles Gewohnte, Routinierte und Stabilisierende in Zweifel zu ziehen. Wenn nun aber zahlreiche lebensgeschichtliche Ereignisse zu ähnlichen Reaktionen führen können, dann macht die Hervorhebung zweier oder dreier Ursachen keinen Sinn, sondern betont einerseits die Willkür der Definition und andererseits den allen Ursachen gemeinsamen Faktor für traumatische Reaktionen: Stress und der Disposition für Stress. Der so genannte traumatische Stress wird im Allgemeinen durch die Intensität der Einwirkung sowie die anhaltende Wirkung des kardinalen Symptomenkomplexes der Intrusion charakterisiert, die sich vom Bewusstsein abgekoppelt hat und autonomer sensorischer und vegetativer Gedächtnistätigkeit folgt und als störend oder durch Wiederholungen zuweilen als quälend erlebt wird.

Negativ bewertete Realität offenbart in ihrem Kern nicht nur allgemeine Macht, sondern vor allem den willkürlichen Gebrauch von Macht. Dieser willkürliche Gebrauch von Macht sucht ständig nach Differenzen, nach Hierarchien, nach Gefällen, (nach Formularen und beschränkenden Konventionen) und leugnet Gleichheit, wenn die eigene Identität nur durch Unterschiede definiert werden kann. Auch die scheinbar unverdächtige Macht sucht konstant nach Abgrenzungen und Unterschieden, was diese Form deshalb auch grundsätzlich nicht von der willkürlich angemaßten Macht unterscheidet. Im Kapitalismus hat der Erzfeind die Gestalt von Gleichheit, nicht nur von Chancen und Rechten sondern von allen Existenz- und Entwicklungsbedingungen im Lebendigen. Gleichheit meint hier allerdings nicht Uniformität. Solche Gleichheit lässt Spielräume, Gestaltungsräume und kann auf das Gefasel von Freiheit verzichten, das um so lauter erschallt, je geringer Bedeutung und Praxis von der Macht, der anonymen und der benennbaren, zugelassen werden. Man muss sich nur einmal klar machen, wie viel von der militärischen Uniformität in das zivile Alltagsleben als erstrebenswert diffundiert ist. Biologische Unterschiede sind die einzigen, die akzeptiert werden sollten, weil und wenn sie Zufällen unterliegen, die sich im Allgemeinen auf äußere Merkmale beschränken. Unterschiede im Begehren sind nicht biologisch verankert, sondern entwicklungsgeschichtlich und gesellschaftlich hervorgebracht worden.

Wenn also Stress die Voraussetzung für die Ausbildung von Symptomen ist, was kennzeichnet dann zusätzlich den traumatischen Stress im Gegensatz zum gleichfalls Symptome hervorbringende „landläufigen“ Stress? Ferner: Wenn Demütigung und die oftmals resultierende Scham Folgen von Machtmissbrauch sind, dann erscheint der Schluss berechtigt, dass der Trauma verursachende Stress immer dann angenommen werden kann, wenn Machtmissbrauch stattfindet und Scham als Folge von Demütigung wahrgenommen wird. Demütigung zielt auf die Unterwerfung eines Menschen. Je weiter sich die erzwungene Unterwerfung erstreckt, desto quälender tritt die Scham auf, was oftmals zur Verheimlichung und Einkapselung des Ereignisses führt. Als Beispiel nennen wir vor allem die sexualisierte Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen, in geringerem Maße aber auch gegenüber männlichen Jugendlichen und Männern. Da das Gesetz und die Rechtsprechung zwar die Extreme des Machtmissbrauchs einhegen, selbst aber als angeblich notwendiges Machtinstrument handeln, wird man dem Missbrauch von Macht nur entgegentreten können, wenn man die Entstehungsbedingungen von Macht analysiert und beseitigend korrigiert. Wer sich mit der Erklärung abfindet, Macht sei immer schon dagewesen, gleichsam eine anthropologische Konstante, der übersieht bereitwillig die Wünsche, Phantasien und Vorteile, die eigene Macht mit sich bringen. Mit der Empfehlung einer freiwilligen Selbstbeschränkung wie sie Wirtschaftsbossen angetragen wird, ist es bei der Reduktion von Macht nicht getan. Man kann also über Traumata nicht sprechen, ohne Macht und Demütigung in den Mittelpunkt zu rücken. Leider wird auf der wissenschaftlichen Ebene solche Arbeit durch die Trennung der Ursachen von den psychischen Folgen erschwert oder nur kursorisch und oberflächlich behandelt.

 

 

 

 

                                                           Elfter Einwurf

 

Oft hört und benutzt man das Wort „Integration“ im Zusammenhang mit dauerhaften Begegnungen mit traumatisierten Flüchtlingen und Asylsuchenden. Integration ist streng zu trennen von Assimilation und Segregation.

Segregation war die absichtsvolle oder unüberlegte Abtrennung „Fremdartiger“ oder „Fremddefinierter“ von den  Lebensumständen der Einheimischen, die in der Bundesrepublik Arbeitsmigranten aus Südeuropa und der Türkei betraf. Die DDR hatte vermehrt Arbeitsmigranten aus Vietnam aufgenommen und sozial isoliert. Abtrennung meint die Zusammenfassung von Menschen in Unterkünften in bestimmten Stadtteilen, die Konzentration von Läden zu deren unmittelbarer Befriedigung von Nahrung und Kleidung. Sie wurde von Teilen der einheimischen Bevölkerung später als Gettobildung (oder Parallelgesellschaft) beklagt, weil sie nach den Prinzipien der Rassentrennung in den USA und in anderen europäischen Ländern stattfand. Der darin enthaltene Rassismus blieb lange verborgen, bis man feststellte, dass Arbeitskräfte geholt wurden, aber  Menschen kamen, die mit den Techniken der Segregation nicht zu integrieren waren.

Assimilation meint die geschichtslose und die erzwungene eigene Sozialisation verleugnende Übernahme aller Prinzipien der Aufnahmegesellschaft. Da solche Forderung, wie sie von rechtsextremen, nationalistischen Organisationen und „christlichen“ Parteien aufgestellt wird, sich in den individuellen und kollektiven Psychen und Körpern von Flüchtlingen störend abbildet, zu inneren und äußeren Kämpfen führt, die sich zwischen dem Gewohnten, Gelernten und Vertrauten einerseits und dem explizit oder implizit Geforderten abspielen, kann es nicht verwundern, dass somit zerrissene, gedemütigte und entwertete Menschen produziert werden. Wer eine komplette Anpassung ohne eigenen Spielraum fordert, von ein wenig belächelter Folklore abgesehen, will nur Chamäleons. Assimilationisten sprechen Flüchtlingen und Migranten etwas Eigenes und Verschiedenes ab, und sie wissen, dass ihre Forderungen nicht erfüllt werden können. Dabei verhalten sie  sich also wie beim double-bind in etlichen Familien: Die Botschaften lauten: Gebt das Vertraute und psychisch Stabilisierende auf oder geht zurück in eure Herkunftsländer.

Integration bemüht sich im Bewusstsein, dass es eine Vollkommenheit oder Konfliktfreiheit in dieser Frage nicht gibt, um eine ganz andere Strategie. Integration im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten bedeutet die aktive Bereitstellung einer Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung, Hygiene, Versorgung im Krankheitsfall, menschenwürdiger Unterbringung sowie intensiver sprachvermittelter Beratung in Fragen der Verwaltung, ungeschriebener Gesetze und in Streitigkeiten mit gezielten Hinweisen auf Mediation und Klärung. Die Kinderbetreuung muss gewährleistet sein, und die Bildungsangebote müssen präzise erläutert werden. Integration vermeidet Gettoisierung, anerkennt den Anderen als Anderen und gewährt ihm Raum für seine lebendige Andersartigkeit. Außer den Kontrollinstanzen in den Behörden haben von den Einheimischen zumeist nur beratende, betreuende oder therapeutische Einrichtungen einen kontinuierlichen Kontakt zu Flüchtlingen und Asylsuchenden. Das bedeutet, diese Einrichtungen repräsentieren die Aufnahmegesellschaft in Ausschnitten, oftmals in Gegensatz zu behördlichen Repräsentanten. Integration verfügt über eingebaute Reibungsflächen, sie kann auch ohne Harmoniebedürfnis auskommen und sogar gelingen. Den Integrationswilligen wird überlassen, wie weit sie sich innerlich an der Integration beteiligen wollen, solange sie den Gesetzen des Aufnahmelandes mit Respekt begegnen. Se müssen keineswegs zu Offenbarungen und  Bekenntnissen zu ihren inneren Prozessen verpflichtet werden. Flüchtlingen und Asylsuchenden muss ausreichend Gelegenheit zur Selbstdarstellung gegeben werden, damit nicht primär über sie gesprochen wird. Flüchtlinge haben eine eigene Stimme. Fatalerweise spricht man in Deutschland von Flüchtlingen als Gefahr oder Problem. Das sind Zuschreibungen, die Flüchtlinge unerträglich finden müssen. Vertrauensbildende Maßnahmen finden in den kontinuierlich arbeitenden Einrichtungen statt. Flüchtlinge und Asylsuchende haben Rechte, für die eine Aufnahmegesellschaft eintreten und sie verteidigen muss, wenn nötig, mit Heftigkeit. Gar nicht heftig genug muss man antreten, wenn ein Zufluchtsstaat die Rechte auf Unversehrtheit missachtet und Menschen in die Gefährdung ihres Lebens abschiebt. Das alles  ist, wie unschwer zu beobachten ist, in Deutschland ein weitgehend frommer Wunsch. Aber es gibt auch Menschen, die meine hier unvollständig skizzierten Empfehlungen für Integration umsetzen wollen, obwohl sie nicht auf das Himmelreich hoffen, sondern die Sozialität der Menschen achten und fördern wollen und natürlich auch die eigene. Zu einer Integration gehört auch ein Beitrag der Flüchtlinge und Asylsuchenden, der Ermöglichungsbedingungen zur Voraussetzung hat. Ein solcher Beitrag setzt Handlungsfähigkeit voraus und darf aktiven Einsatz nicht mit verordneter Passivität lähmen. Tätigkeiten und Arbeit bilden den Hauptansatz der gelingenden Integration.

Die Integration traumatischer Erlebnisse habe ich an anderer Stelle beschrieben. Auch das Leiden an Verlusten und schrecklichen Erlebnissen benötigt soziale Integration, Solidarität und Wohlwollen als Anschub und Primärhilfe. Integration ist nicht gleichbedeutend mit Antirassismus, jedoch scheint der aggressive Anteil eines Rassismus eher geringer, als sich in Segregation und Assimilation ausdrückt.

 

Die vorausgeschickten Einwürfe sind Meinungen und keine wissenschaftlichen Abhandlungen. Im Bereich psychischer Prozesse und gesellschaftlicher Orientierung ist Wissenschaft so eine Sache, die viele Berührungen mit Meinungen hat. Jeder medizinisch Tätige sucht im Laufe seines Lebens eine Position zur Welt zu finden, die ethisches Handeln erlaubt und Begründungen aus Erfahrungen bezieht.