von Sepp Graessner
Vorrede:
Der Begriff des Psychotraumas hat sich zahlreiche Anwendungspraktiken erobert (warum gibt es noch keine Trauma-App?), ohne dass man einen Hauptakteur für solche „Eroberungen“ benennen könnte, wie es für viele Begriffe aus kulturellen Vereinbarungen gilt, die sich aus Narrativen, Technologien und Praktiken und sicher auch aus moralischen Erwägungen komponieren lassen. Das bedeutet, der Begriff hat soziale Wurzeln und einen sozialen Gebrauch, ja, die wissenschaftliche Erforschung erfolgt gleichfalls in sozial strukturierten Bezügen. Der Zeitpunkt der Begriffsbildung und die Zeitströmungen in der Mitte der 1970er Jahre lassen jedoch eine bewusste Inszenierung annehmen, weil der Eindruck einer Neuerfindung erweckt wurde und relativ wenig Bezug auf die Vordenker genommen wurde. Das Psychotrauma hatte es zweifellos schon immer gegeben, aber erst im Jahre 1980 wurde es der Bedeutungslosigkeit entrissen und mit klinischen und diagnostischen Mitteln an vielfältige Praktiken überwiesen.
Im Zentrum der Expansion des Begriffs und der Praktiken steht der anonyme Markt, an dem sich viele Akteure versammeln, die zuweilen Angebote zur Schau stellen, für die erst eine Nachfrage geweckt werden muss. Sollte es Akteure und Regisseure (US-Regierung, Task Force mit ihrem Chef Robert Spitzer?) bei der „Entdeckung“ des Psychotraumas gegeben haben, so müsste eine historische Untersuchung über die Wiederentdeckung und die Begriffsentwicklung des Traumas Auskunft geben können. Die atemlose Eroberungslust des Traumabegriffs erklärt sich nach meiner Beobachtung aus der Verbindung von common sense, der uralten populären Wahrnehmung reaktiv belastender bis quälender Gefühle und der „wissenschaftlich“ abgesegneten Aufnahme in den psychomedizinischen Kanon. Diese Verbindung erlaubte zahlreiche Spekulationen, die sich auf positiv bewertete Motive stützen, weil Mitgefühl, Wohlwollen und Unterstützungsbereitschaft, also primäre menschliche Regungen durch Gewalterlebnisse angesprochen wurden und zur Entäußerung drängten. Was der erste und zweite Weltkrieg nicht schafften, ermöglichten der Krieg in Vietnam und seine US-Veteranen und parallel dazu die internationale Frauenbewegung.
Der Begriff des Psychotraumas schlidderte somit in eine Dynamik aus Erklärungswünschen und vielfältigen Interessen. Das Trauma/Psychotrauma kam bereits als Erfahrungstatsache in die klinisch orientierte Welt, als noch bei bei genauer wissenschaftlicher Betrachtung viele Fragezeichen den Sachverhalt verhüllten. Er ist seither trotz immenser Falldarstellungen nur mäßig präziser geworden. Er erblickte keineswegs im DSM-III das Licht der Welt, sondern hatte eine historische Dimension und Bedeutung, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Er findet sich in der Moderne in unterschiedlichen Bedeutungen im gesamten Spektrum der Gesellschaft (Soldaten, Frauenbewegung, Rechtsfindung bei sexuellen Übergriffen an Kindern, Technikrisiken), zuerst der amerikanischen, dann in Europa in einer Reihe liberaler Staaten, die dabei waren, sich für neoliberale Überlegungen zu öffnen (Individuum, Markt, Spiel und Spekulation). Diese Gesellschaften haben den Begriff und seine Bedeutungen bereitwillig aus moralischen Bewertungen angenommen, weil sie annahmen, der westliche Menschenrechtsdiskurs und der westliche Traumadiskurs, unterstützt durch die christliche Ethik, strebe eine Synthese dieser Diskurse an, um damit eine höhere Stufe der Zivilisation erreichen zu können, d.h. Freiheit von Gewalterlebnissen und nicht allein Zugang zu therapeutischen Remedien. Das ist vielleicht eine gute Nachricht, die aber immer in Gefahr ist, Illusionen zu nähren, man habe bereits die bekannten Probleme gelöst und könne sich nun höheren Stufen des Verständnisses zuwenden. Trauma und seine Therapien lösen sich somit leichtsinnig von den ungelösten und unverstandenen Fragen der Menschheit, lassen die kollektive Mitarbeit beiseite und fokussieren allein auf das in Verantwortung genommene Individuum.
Die schlechte Nachricht liegt darin begründet, dass die Begriffe nicht etwas bezeichnen, das verstanden worden wäre (das beginnt mit dem Unverständnis, wie es zu Gräueln und Grausamkeiten komme), gleichwohl intensive und expansive Praxis produziert haben. Das gilt sowohl für den Begriff des Traumas wie den der Menschenrechte, die jeweils über keine universelle und konsensbasierte Bedeutung, die an empirischen Überprüfungen orientiert ist, verfügen. Die Behauptung von Universalität macht noch keine Tatsache daraus, sondern ist allerhöchstens einem Katalog von Bezugsstoffmustern für ein Sofa vergleichbar, der vor allem belegt, dass es viele Bezugsstoffe gibt. Man könnte analog dazu sagen, dass man Sicheres über die Entstehung und Einnistung von Vorurteilen nicht weiß, höchstens Vermutungen und Faktoren äußern kann, dass aber zahlreiche Praktiken sich aus der resultierenden Unsicherheit ableiten lassen. Hier wird schlicht zu kurz und kontextfrei gedacht, wenn man aus komplexen Sachverhalten lediglich ein Fragment zur Begründung einer Praxis wählt. Eine komplexe Kausalkette wird an einem willkürlich oder absichtsvoll gewählten Punkt gekappt, ut aliquid fiat. Der Mensch und die Wissenschaft beweisen sich im Kampf gegen Hilflosigkeit und das Unwissen als scheinbar handlungsfähig. Vernünftig kann man dieses Vorgehen nicht nennen. Vernunft wird in sozialen Bezügen entwickelt, gelernt und angewendet. Sie soll das Chaos der menschlichen Gefühle entwirren und nach ihren Prinzipien lenken, da Emotionen sonst zum vorherrschenden Entscheidungsträger würden. Oft aber unterliegt die Vernunft bei diesem Bemühen. Und aus diesem Grunde finden wir Praktiken, hergeleitet aus Unsicherheit und Unwissen, mit positiv und negativ bewerteten Motiven, kurz: Handeln, Selektion, Gründe sind stets ambivalent, mehrdeutig zu interpretieren. Und das gilt auch für die Begriffe der Wirklichkeit, Wahrheit oder Existenz.
Annäherung an bekanntes und unbekanntes Wissen:
Definitionen von (Psycho-)Traumata sollten den einfachsten Weg beschreiten, der allerdings nicht immer der kürzeste ist. Sie sollten die Grundlagen eines Phänomens suchen und aufgreifen und sorgfältig zwischen natürlichen Prozessen und Fakten, die durch Menschen in sozialen Bezügen geschaffen wurden, unterscheiden. Eine Vermischung führt nicht zum angestrebten Verständnis. Daher wiederholen wir nicht die Definition der Kataloge und Manuale, die Dokumente eines geordneten Rückzugs sind, weil sie vom DSM-II bis zum DSM-V mal engere, mal weiter gefasste Grenzen der Auslöser und Folgephänomene von Traumata bestimmen (Komorbiditäten, partielles Trauma, usw). Dennoch muss man einen Blick in die ständig erweiterten Definitionsbemühungen der DSM-Task Force werfen. Darin ist benannt, welche Ereignisse traumaauslösend sein können und dass sie nahezu jeden Menschen in Schrecken und Hilflosigkeit versetzen. Ursprünglich handelte es sich bei einem Trauma um eine Überwältigung des psychischen Apparats, wobei die individuelle Reaktion als angemessen auf ein ungewöhnliches Auslösererlebnis bezeichnet wurde. Die primäre Antwort auf bedrohliche Szenarien wurde also noch als natürlich angesehen, wie die Stresstheorie belegt. Nur konnte die Stressvorstellung nicht die langfristig auftretenden Symptome erklären. Die posttraumatische Belastungsstörung verstand sich somit als Weiterentwicklung der Stressreaktionen. Damit entfernte sie sich vom Auslöserereignis und seiner Vorgeschichte und fokussierte den Verlauf einer intensiven Bedrohung im betroffenen Individuum, wobei eine Reihe einflussreicher Faktoren auf den Prozess vernachlässigt wurden. Diese betreffen vor allem die verständnisvolle Aufnahme der traumatisierten, schockierten, ängstlichen, schuldhaften oder traurigen Person durch die umgebende Gesellschaft. Im Verlauf der neuen DSM-Revisionen wurde m.E. weiterhin das traumatische Erlebnis in den Mittelpunkt gerückt und weitere Erlebniskategorien hinzugefügt, wobei die jeweiligen Symptomkomplexe unverändert erschienen. Es war stets verwunderlich, dass die Kenntnisse der Folgephänomene (Symptomkomplexe) konstant blieben, die in den Manualen hinzutretenden Auslöserphänomene aber neu entdeckt erschienen. Besonders irritiert wurden aufmerksame Beobachter durch eine Diskrepanz im DSM-V: Bei der Bemühung um Lokalisation von Hirnarealen, die auf Bildreize bedrohlichen Inhalts reagieren, wurde die funktionelle MRT- Untersuchung als Methode eingesetzt, um Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn Kinder dieselben Bilder im TV sahen, mussten zwangsläufig die gleichen Arealen ihres Gehirns stimuliert werden wie bei traumatisierten Probanden im MRT. Ein bleibender Einfluss auf das kindliche Gemüt wird im DSM-V aber explizit verneint. Wie kann einmal ein Erkenntnisgewinn aus einer Methode resultieren, im anderen Fall die „kindliche Unschuld“ von der Methode (Sehen von Grausamkeiten) unberührt bleiben? Die gleiche Stimulation, aber nur Traumatisierte können retraumatisiert werden, Kinder gelten als noch nicht von Traumafolgen gequält, was Bettnässer, Ausreißer, Verstummte etc. bezweifeln würden. Der explizite Ausschluss von psychischen Folgen bei Kindern nach der Betrachtung von z.B. Mordszenen geht offenbar davon aus, dass Kinder eine Schiedsrichterinstanz im Gehirn haben, die Virtualität und Realität unterscheiden kann. Bei traumatisierten Erwachsenen, die im MRT untersucht werden, scheint diese diskriminierende Instanz nicht zu funktionieren. Mir geht es um den Erkenntnisgewinn durch eine Methode, nämlich der Konfrontation mit Mord und Tod in Bildern. Es ist einsichtig, dass der westlich benutzte Traumabegriff und seine Praktiken ein bestimmtes Menschenbild erschaffen und beschreiben und damit vorschreiben.
Kerngedanke
Aus diesem Grunde sollte eine Definition von Trauma vorgestellt werden, die nicht mit der spezifischen Aufladung des DSM-III belastet ist, in der sich Intentionen und Interessen (rund um die psychische Gesundheit von Vietnam-Veteranen) bündelten. Die Definition im DSM-III ff. trägt ein Stigma, die Vermischung von Tätern und Opfern in psychischen und psychiatrischen Dimensionen betreffend, und kann einer genügenden Definition nur im Wege stehen. Als angenäherte und vorläufige Definition für eine traumatisierte Psyche könnte man formulieren: Psychotrauma in westlichen Gesellschaften ist die aus komplexen realen Kontexten isolierte Verletzung, welche aus der von Menschen gemachten Verwandlung der dinglichen, personalen, d.h. Beziehungswelt, in individuelle innere Prozesse resultiert. Darin ist das Psychotrauma analog zu allen anderen sinnlichen Wahrnehmungen, siehe Platons Höhlengleichnis. Hier jedoch tritt das Psychotrauma als Beschädigung von ursprünglich zur Person gehörenden, strukturierenden, stabilisierenden und abstrakten, symbolischen Begriffen wie Integrität, Würde, Menschenrechte, mithin moralischen Standards, durch neuronale Verknüpfungen des Denkens und Benennens in Erscheinung und erhält damit eine physiologische Wirkung, die einer Naturalisierung gleichzukommen scheint, weshalb oft vom Verlust des Grund- oder Weltvertrauens gesprochen wird. Das heißt, im menschlichen Körper werden aus dem gesellschaftlichen, sinnlichen (oftmals willkürlichen) Erleben natürliche Prozesse generiert, die spezifisch oder unspezifisch ausfallen können, in jedem Falle jedoch sehr unterschiedlich, so dass es schwer fällt, klassifizierende Interpretationen vorzunehmen und Prognosen zu stellen, außer man hat ein Interesse an einer Homogenisierung der inneren Reaktionen (Her mit der Trauma-App!). Provokant könnte man sagen: Im traumatischen Erleben wird Unnatürliches oder Soziales in Natürliches verwandelt, soweit es sich um ein „man-made-desaster“ handelt.
Gesellschaft und Natur werden hier gegenübergestellt, was wegen ihrer innigen Verquickungen problematisch ist, denn die äußere Realität hat immer, wenn sie bewusst wahrgenommen wird, eine natürliche innere Entsprechung, die autonom und vom Bewusstsein abgekoppelt verläuft. Man spricht daher gern von der Metapher des Spiegels, was nicht zutreffend ist.
Psychotrauma nennen wir folglich die Metamorphose von Gewaltereignissen aus der Gesellschaft in Physiologie. (Solche Gewalt verfügt über eine Energie, die im Verwandlungsprozess nicht verloren geht. Sie kann aber offenbar umgeleitet werden. Daher müssen Soldaten und Folterer durch ein bedrohliches Regime der Demütigung gezwungen werden, um spätere Greuel verüben zu können und durch traumatische Ereignisse weniger angerührt zu werden, was wir Lernen oder Konditionieren nennen, wenn das Unnatürliche Sinn erhält.) Würden wir den Gewaltereignissen eine natürliche oder unbeherrschbare Basis zubilligen, bräuchten wir keine Gesetze und keine Sprache. Als traumatisch gilt allerdings nur ein von Menschen definiertes extremes Ereignis von lebensbedrohlicher Qualität, in diesem Fall durch eine Task-Force der American Psychiatric Association (APA). Daher können alltägliche Erlebnisse von Lug und Betrug, mobbing, vorenthaltener Anerkennung, Missachtung, Vernachlässigung usw. keine Berücksichtigung in den diagnostischen Manualen finden, immerhin allesamt entwertende Konstellationen, die sogar in den Suizid führen können. Definitionen sind ausdehnbar und exklusiv. Wer kann an solchen extensiven Erweiterungen ein Interesse haben oder es billigen, wenn gesagt wird, nahezu alle Menschen würden auf dieselbe Weise auf die definierten Ereignisse reagieren und akute oder chronische Symptomatiken ausbilden, was empirisch widerlegt ist, auch wenn heute symptomfreie Personen Jahre später Symptome berichten? Für viele Auslöserereignisse sind die symptomfreien Ausnahmen zahlreicher als die „regelrechten Symptomatiken“. In der Definition des traumatischen Ereignisses im DSM-III und seiner Folgen lag somit bereits ein Universalitätsanspruch, der nicht mit wissenschaftlich fundierten Erfahrungen übereinstimmt, jedenfalls soweit es die Begründung durch nachfolgende Symptome betrifft, die als quälend wahrgenommen werden. Der genannte Anspruch auf Universalität möchte sich gern auf physikalische und statistische Gesetze stützen, verfehlt dieses Ziel ziemlich deutlich, vermutlich weil der Symptomkatalog aus einem westlich orientierten Verständnis entwickelt wurde. Kulturelle Eigenheiten haben in diesem Konzept keinen Platz, weil die heute dominanten Neurowissenschaften gesellschaftliche Einflüsse auf Psychotraumata vernachlässigen, indem sie sich auf die individuellen Folgen von Verletzungshandlungen konzentrieren. Kollektiv orientierte Gemeinschaften erfahren Traumata durch Gewalt auf andere Weise als solche, die ein Individuum in den Mittelpunkt psychischer Prozesse stellen.
Man kann selbstverständlich auch vermuten, alle Menschen haben nach spezifischen und festgelegten Ereignissen ein Psychotrauma, aber nur einige bilden langfristige Symptome aus. Dann wäre die Unsicherheit vergrößert, weil dann die Ausbildung von Symptomen nicht der alleinige Beweis für ein Trauma wäre, sondern nur noch das Ereignis die Kraft aufwiese, ein Trauma zu belegen, wenngleich nicht immer symptomatisch. Genau diese Betrachtung stand am Beginn der Neuerfindung des Psychotraumas im DSM-III. Wo bliebe dann das traumatische Erlebnis bei jenen, die keine mittel- oder langfristigen Symptome zeigen oder beklagen? Genügt die Vorstellung massenhafter Dissoziationstechniken oder elastischer Resilienz, um das Ausbleiben von Symptomen zu erklären? Es gäbe dann mehrere Erscheinungsformen des traumatischen Gedächtnisses, obgleich ein traumatisches Ereignis durch Gewalt und Demütigung dieselben „toxischen“ Angriffspunkte hätte, nämlich kulturell erworbene, zur betroffenen Person gehörende und sie normalerweise stabilisierende Wertvorstellungen und Orientierungsmerkmale. Natürlich muss man dazu Wertvorstellungen haben. Körperliche Verletzungen bleiben hier außen vor, allerdings nicht jene Traumata, die als psychische Verletzungen eingestuft werden und körperliche Symptomatiken hervorbringen. Ist die Dialektik von Körper und Psyche nur ein Gedankenspiel zur Vereinfachung unbekannten Wissens? Trauma ist folglich eine (in seltenen Fällen irreversible) Destabilisierung der individuellen Orientierungsmuster in der Realität, die eine jeweils individuelle Physiologie zur Folge haben kann. Diese Physiologie des einzelnen Menschen ist abhängig von genetischen Dispositionen (gering), Ernährung und vor allem den erlebten und inkorporierten Erfahrungsmustern rationaler und emotionaler Qualität. Es ist daher ausgeschlossen, im Bereich der Traumafolgephänomene eine Homogenität der Reaktionsformen und Repräsentationen anzunehmen, die sich allein auf kurzschlüssiges Beobachten durch Fragebögen, screening-Verfahren und Ähnliches, ob standardisiert oder validiert, stützen kann. Wissen ist doch oftmals Glauben, aber Manche erreichen auch mit Glauben Gewissheit.
Seit Freud und Janet ist das moderne Verständnis der Verwandlung von äußerer Gewalt in innere Prozesse geläufig, seit den Beobachtungen seelisch verletzter Soldaten im WKI gehören die zugrunde liegenden Auslöser zum Allgemeinwissen, obwohl „Wissen“ nicht ganz korrekt ist, weil die Mechanismen der Metamorphose im Einzelnen bis heute unerkannt geblieben sind. Es handelt sich um evidente Phänomene. Es scheint aber festzustehen, dass man zur therapeutischen Einkreisung von Psychotraumata eine Triebtheorie nicht benötigt, nicht einmal für Gewalttäter. Eine der Hauptaufgaben der Neurotraumatologie wäre folglich die Aufklärung über den Umwandlungsprozess von sinnlichen (traumatischen) Reizen in spezifische Physiologie. Hier gibt es noch viel zu tun. Dazu rechne ich u.a. die Wahrnehmungsphysiologie, die im Bereich des Sehens schon einiges zu Tage gefördert hat. Allerdings für komplexe Wahrnehmungen wie Lebensbedrohung sind die Resultate noch mäßig.
Enthalten ist in diesem eher altbackenen Versuch einer Definition einmal die Antwort auf die Frage nach dem, was verletzt wird und ferner, dass es sich um einen Verwandlungsprozess handelt, bei dem äußere Realität, die Verletzungen verursacht, in Physiologie (d.h. Angst mit ihren stofflichen Begleitern, wobei einstweilen nicht interessiert, ob erst das Empfinden der Angst den stofflichen Ausschüttungen vorausgeht oder umgekehrt; das überlassen wir der Wissenschaft) umgewandelt wird, und in einigen Fällen durch das traumatische Gedächtnis die verletzende Realität sich selbständig physiologisch kontinuiert. Traumatische Realität und ihre individuellen Folgen sind diesem Falle ein Meinungssystem, eine Anschauung als stilvolles Gebilde, wie Ludwik Fleck schrieb, dem wir auch Überlegungen zur Beharrungstendenz von Meinungssystemen verdanken.
Es wird zudem vorausgesetzt, dass die verletzende äußere Realität durch sinnliche Wahrnehmung auf ein bereits konstituiertes und entfaltetes Substratnetz im menschlichen Körper, vornehmlich im Gehirn trifft (wir sprechen von Substratnetz, das Orientierung erlaubt und nicht von Substanznetz, weil wohl nicht alle Wahrnehmungen konstitutiv für das Orientierungssystem sind). Durch sinnliche Wahrnehmungen, die in Gewalterlebnissen enthalten sind, kann also das Substratnetz verletzt werden. Der einem Gewaltakt folgende Schmerz wird an betroffenen Körperteilen registriert und darauf dem Gehirn mitgeteilt. Je nach individueller Beschaffenheit dieses Substratsnetzes (aus neuronalen Verknüpfungen, Synapsenzahl und -funktionsfähigkeit, Rezeptorenfunktionen, Transmittern, Katalysatoren und hormonellen Einflüssen) fällt die Verletzung unterschiedlich aus. Das impliziert, dass ein Säugling noch nicht über ein verletzbares Substratnetz verfügt und die sich anschließende kulturelle, mentale Sozialisation über den Charakter des verletzbaren Substratsnetzes und seine („instinktiven“) Reaktionsoptionen auf existenzielle Notlagen entscheidet. Nun ist bei einer Gefährdung der Existenz (Vernichtungsdrohung, die bewusst registriert wird) die unmittelbare physiologische Antwort von betroffenen Körpern sehr wahrscheinlich qualitativ gleich oder sehr ähnlich, wenngleich wohl nicht quantitativ (der Suizid nimmt eine Sonderstellung ein, bei der die Vernichtungsdrohung das Leben selbst ist, und das quälende Leben schlimmer erscheint als der Tod), während die Folgephänomene von der Art und Dauer, der Summe und Verankerungstiefe der verletzbaren Anteile bestimmt werden. Das könnte die unterschiedlichen Formen der Verarbeitung (mentale, emotionale, verstehende Integration) elementarer psychischer Verletzungen erklären, wozu jedoch auch die Verhältnisse nach der Verletzung berücksichtigt werden müssen, weil aus diesem Beziehungsrahmen (Sozialisation) die verletzbaren Substratnetze gebildet werden. Wir sprechen deshalb von Substratnetzen, weil nur ihre Unterschiedlichkeit die individuellen Differenzen in Bezug auf Dauer und Intensität der posttraumatischen Symptome zu erklären in der Lage ist. Funktionen der Substratnetze verurteilen auch bei höchster Gefährdung nicht zur kompletten Hilflosigkeit (Menschen sind keine Versuchstiere), sondern können emotional aktiv bleiben, z.B. beim so genannten Stockholm-Syndrom.
In einer existenziellen Bedrohungssituation ist ferner für die Ausbildung von langfristigen Symptomen von Bedeutung, ob es sich um ein einmaliges oder wiederholte Ereignisse handelte. Mehrmalig auftretende Bedrohungen können eher die resultierende Würdeschädigung erklären, aus dem sich Scham, Schuld, Regression und Entwertung ableiten. Die nachhaltige Verletzung der menschlichen Würde ist nach meiner Überzeugung allein für die posttraumatischen Symptome verantwortlich. Die menschliche Würde ist das lebendige Substratnetz oder substanziell im Substratnetz enthalten, weshalb sie zwar nicht angeboren ist, jedoch in der Entwicklung von Menschen den Status von Natürlichkeit erlangt hat(z.B. in der US-amerikanischen oder der deutschen Verfassung).
In dieser schlichten Definition vom Psychotrauma ist eine Reihe von Einschränkungen enthalten, die zu allen Zeiten Probleme bereiteten. Da ist einmal die Isolierung aus Kontexten, die aus praktischen Gründen (notwendige Selektion?) gewählt wird, zugleich einer verkürzenden Verfälschung den Weg ebnen kann, wenn das Trauma von seinen historischen Dimensionen und Ursachen von Diagnostikern und Therapeuten, nicht aber von der betroffenen Person, abgekoppelt wird. Für eine traumatisierte Person handelt es sich um einen lebensgeschichtlichen Prozess, den sonst niemand in seiner Komplexität erfassen kann. Die Vorgeschichte eines traumatischen Ereignisses, vor allem die Motive der Gewalttäter, können nicht einfach ausgeblendet werden. Das Trauma beginnt nicht, wenn Gewalt auf einen Körper trifft, sondern kann bereits Jahre zuvor, durch Ausbildung und Konditionierung, angelegt und vorbereitet sein (nicht nur im Falle von Folter) . Traumatische Erlebnisse erzeugen Traumata in anderen Menschen, könnte man formelhaft sagen.
Dann ist da die Verwandlung äußerer Prozesse in innere Abläufe, die natürlich und „regelrecht“ verlaufen und/oder in Pathologie münden können. Was aber „regelrecht“ und was pathologisch bedeutet, legen heute Experten fest, und in gleicher Weise bestimmen sie, welche Handlungen toleriert werden müssen und welche so negativ bewertet werden, dass sie traumatische, d.h. Symptome genererierende Potenz aufweisen. Dabei handelt es sich um Artefakte, denn wenn sozial produzierte Denkfiguren wie Menschenwürde oder Gerechtigkeit als natürliche Attribute gehandelt werden, die dem Menschen zwar nicht angeboren sind, aber persönlichkeitskonstituierend sind, entbehrt dieses Vorgehen nicht einer gewissen Willkür, vor allem dann nicht, wenn diese Attribute als psychosoziale Korsettstangen aufgefasst werden, die, wie z.B. Würde und Menschenrechte, das innere Erleben und ein möglichst verlässliches Sicherheitsgefühl strukturieren. Die verletzten Entitäten oder Raster bezeugen psychische Prozesse, bei denen keine verlässliche Sicherheit bestehen kann und niemals bestanden hat. Der gesamte Prozess ist derart komplex, sodass eine Forderung nach Homogenität der Reaktionsmuster, wie sie in Manualen und Katalogen als Angebote formuliert sind, ins Leere läuft.
Wenn man die Entwicklung der Definitionen in den DSM-Katalogen betrachtet, vom DSM-II bis zum heutigen DSM-V, dann zeigt sich vor allem eine ausgeprägte Flexibilität, die zu Erweiterungen der Anwendungsbereiche führte. Zugleich erweist sich die Flecksche Beharrungstendenz, die scheinbar problemlos neue Anschauungen integriert und für nicht widersprüchlich dem Grundanliegen gegenüber erklärt. „Jede Epoche hat herrschende Auffassungen, Überreste vergangener und Anlagen zukünftiger, analog allen sozialen Gebilden. Eine der vornehmsten Aufgaben vergleichender Erkenntnistheorie wäre zu forschen, wie Auffassungen, unklare Ideen, von einem Denkstil zu anderen kreisen, wie sie als spontan entstandene Präideen auftauchen, wie sie sich, dank einer Harmonie der Täuschung als beharrende, starre Gebilde erhalten.“ (Fleck, 1935) Ein überzeugendes Beispiel lieferte ein britischer Psychologieprofessor, geadelt und mit Ehren überhäuft, der mit behaupteten, aber real nie durchgeführten oder gefakten Untersuchungen den „Nachweis“ erbrachte, dass Schwarze eine geringere Intelligenz aufweisen als Weiße. Die Präidee dazu entsprang einem Rassismus und einer kolonialen Attitüde, und sie musste bewiesen werden, auch mit Betrug. Das Urteil hielt sich sehr hartnäckig und ließ nur „Beweise“ zu, die die Ursprungsidee bestätigten. Dabei weiß man bis heute nicht sicher, was Intelligenz ist und ob man sie denen zusprechen soll, die so etwas vehement behauptet haben.
Als Zwischenergebnis lässt sich zusammenfassen, dass wir es mit einer Mischung aus sozialen Festlegungen, auf Expertenmeinungen gegründet, und naturwissenschaftlich zugänglichen Prozessen zu tun haben, wobei keiner der beiden beteiligten Einflusssysteme auf Erkenntnis ein Privileg beanspruchen kann. Daher befassen sich unterschiedliche Disziplinen mit der Erforschung der Phänomene „traumatische Ursachen“, „traumatisches Erleben“, „traumatisches Gedächtnis“ und „Traumafolgen“. Wenn man allein die Folgephänomene fokussiert, trennt man recht willkürlich die Ursachen von den Wirkungen, was zwangsläufig den Denkstil prägt und ihn in eine bestimmte Richtung lenkt. Man kann durchaus fragen, ob diese Trennung nicht bewusst am Anfang der Erfindung von Psychotraumata nach dem DSM-III stand, als die selbstverordnete Linderung von traumatischen Erlebnissen von nicht wenigen Veteranen in einem gewissen Widerstand gegen die verursachenden Mechanismen gesucht wurde (Hagopian, 2015). Nicht geringe Zahlen von US-Veteranen des Vietnamkrieges wurden offenbar von ihrem Widerstand gegen das Gemetzel als Selbstheilung abgelenkt, nachdem eine Diagnose in die Welt kam, die ihr Verhalten pathologisierte. Auch die Frauenbewegung der USA dämpfte ihren Widerstand gegen männliche Herrschaft, als sich Therapeuten ihrer massenhaft annahmen.
Ein Teilbereich des Traumas ist sozial konstruiert (Moral, Ethik, Gerechtigkeit usw.), der andere verläuft in physiologisch unterschiedlich ausgestalteten Bahnen. Wir stellen aber heute fest, dass der Begriff der Traumafolgen auf zahlreiche Ursachenkonstellationen angewendet wird, denen jeweils eine existenzielle Bedrohung auch bei einmaliger oder vermuteter Präsenz unterstellt wird. Nicht alle Geschehen, die mit Schrecken einhergehen, haben definitionsgemäß traumatischen Charakter. Wenn man sich aber von Definitionen leiten lässt, verliert man leicht die funktionellen Verschränkungen in Wahrnehmung und Physiologie aus dem Auge.
Extreme psychische Traumata als Folgen von Gewalt benötigen eine bewusste Wahrnehmung. Die Operation am geöffneten Bauch unter Narkose erfüllt diese Bedingung nicht. Erst die Antizipation von tödlichen Komplikationen vor einer Op. kann einen Menschen vulnerabel machen und wohl postoperativ zu Anpassungs- und Identitätsstörungen führen, genau wie die postoperative Reflexion, die mit Erschrecken viele denkbare Katastrophen vor Augen führen kann, darunter die Vorstellung, dass mehrere Personen ihre Hände, wennauch mit Handschuhen, im eigenen Leib hatten. Dass ein Mensch einem Desaster entronnen ist, macht ihn nicht automatisch psychisch gesund.
Das Trauma durch nukleare Bedrohung oder die Drohung einer Klimakatastrophe müssen bewusst wahrgenommen werden, damit man sie Trauma nennen darf, ja muss. Aber, wie Fleck geschrieben hat, was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen oder es wird verschwiegen und verdrängt, auch wenn es bekannt ist. Dabei kann man davon ausgehen, dass solche traumatischen Großkonstellationen die Basis für Symptombildungen oder zu deren Tendenz legen.
Soziales Trauma
Seit Jahrhunderten akzeptieren wir die Trennung seelischer und körperlicher Prozesse, als handele es sich um unterschiedliche Entitäten. Wo bleibt der Anteil des Sozialen, der genauso verletzt wird wie das Innere oder Äußere eines Individuums? Wohin wird die Verletzung der Sozialität (als Resignation oder Brutalisierung) abgeschoben, in die Politik, in Institutionen?
Jeder massiven körperlichen Verletzung durch äußere Gewalteinwirkung oder durch „scheinbar“ unsichtbare wie Viren und multiresistente Bakterien führt einen betroffenen Menschen oftmals in eine reale oder antizipierte Lebensbedrohung. Dabei gibt es psychische Begleitreaktionen. Diese Vorstellungsfähigkeit ist von Erfahrungen abhängig. Antizipation und Vorstellungskraft sind nach landläufiger Ansicht Indizien einer funktionierenden Psyche. Körperverletzungen sind oft eng mit psychischen Verletzungen verbunden; beide Ausdrucksformen benötigen einen Körper, wohingegen die soziale Verletzung, die vor allem Menschen des näheren Umfeldes einer traumatisierten Person betrifft, viele Körper braucht, um „sozial“ genannt zu werden.
Natürlich mag man einwenden, dass hier eine unzulässige Ausweitung von „Verletzung“ vorliegt. Dagegen meine ich, dass bei sozialen Wesen, d.h. zu Beziehungen fähigen Menschen, die psychische oder körperliche Verletzung eines Individuums immer auch Andere affiziert und in eine hilflose Position bringen kann. Ein schwaches Echo findet sich im DSM. Es betrifft Verluste von nahen Personen und Leistungseinbußen im Arbeitsalltag. Das mag deutlich werden, wenn man Bilder von Attentaten und seinen verstümmelten Opfern sieht. Ein Betrachter wird durch Bilder angesprungen und reagiert mit Empörung, Wut, Resignation. Daher gehören alle drei Ebenen, die psychische, die körperliche und die soziale Verletzung, zusammen. Die Isolierungen von einzelnen Aspekten machen keinen Sinn, wenn man das gesamte Spektrum der Wirkung von Gewalt erfassen will. Der heutige Traumabegriff, wie er sich im Westen festgesetzt hat, hat ein Individuum zur Voraussetzung. Er ist einengend und beschränkt. Damit ist er kontraproduktiv zur einzigen überlebenswichtigen Bestimmung des Menschen, nämlich seine kooperative Sozialität zu entwickeln. Wir wissen, dass dies oft misslingt und wir wissen, dass es sich hier um idealistische Betrachtungen handelt. Es erscheint mir aber die individuelle Betrachtung von Traumafolgestörungen unzureichend, wenn man Traumaprophylaxe und Traumalinderung betreiben will. Es scheint sich aber gerade daran nur ein geringes Interesse zu zeigen. Offenbar besteht auch in der Politik die Auffassung, dass psychische und körperliche Gewalt zum Menschen gehören wie Herz und Lunge. Von Hirn zu sprechen wäre bei der aktuellen Politik ein Euphemismus. Wenn es nicht um die Entwicklung der Sozialität ginge, wozu bräuchte man dann überhaupt Politik? Entwicklung von Sozialität und Bereitstellung von Rahmenbedingungen für eine sich entwickelnde Sozialität sind und bleiben die zentralen Forderungen, die im Bereich der Prävention gestellt werden müssen. Und gerade die Sozialität erleidet Schaden, wenn sie, auch über die Medien, zum Dauerzeugen von Gewalt und Brutalisierung wird, die den Betrachter affiziert. Sie kommt nicht einmal schleppend voran, wenn es nicht Interessenten am Fortbestehen von Gewalt gäbe. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich gegen Gewalt aussprechen, sie aber täglich praktizieren. Vermutlich meinen sie Ablehnung von Gewalt, die sie und ihre Angehörigen treffen könnte.
Das letzte Wort geben wir heute der Vernachlässigung. Jeder weiß, dass Vernachlässigung in menschlichen Bezügen ein beschädigtes Opfer hervorzubringen vermag. Zwar ist diese Form, die ich Trauma nenne, nicht im klinischen Katalog enthalten, sie nimmt aber gerade die Schädigung von Sozialität in Kauf, kann in extremen Fällen strafbar sein, weil die Entwicklung von Sozialität be- oder verhindert und Antisozialität produziert wird.