(Warum weinen kleine Kinder, wenn sie andere Kinder weinen hören und sehen?)

 

In meinem Beitrag über „Empathie in komplexen Systemen“ habe ich vermutlich einen Akzent unberücksichtigt gelassen, der nicht nur im Alltagsleben sondern auch in der Psychotherapie eine besondere Rolle spielt: Empathie als Erkenntnismedium, als Sonde, als unspezifische Orientierung mit zuweilen spezifischen Komponenten.

Unter der Voraussetzung der Theorie von den Spiegelneuronen war stets die Frage nach den Inhalten oder Produkten dessen, was gespiegelt wird, für mich unaufgeklärt. Ist also gespiegelt, was ein Mensch erlebt, wenn er mit seinen Sinnesorganen auf andere Lebewesen gerichtet ist – das wäre phänomenologisch – oder ist in der Spiegelung bereits die individuelle Antwort auf Erlebnisse enthalten? Ist also die Spiegelung ein passiver Vorgang? Gleichsam als spontaner Empfangs- und Bewältigungsschritt, so dass man sagen kann, die Richtung der Erkenntnis führt einmal in die Umwelt, die Welt der Erlebnisse und der Kommunikation, und zum anderen in die eigene Wahrnehmung und ihre individuell bereitgestellten „Hirnmodule“. Empathie benötigt nicht die enge Verbindung zum Gerechtigkeitsgefühl, das gesellschaftlich formuliert wird. Empathie ist auf Leiden fokussiert, die durchaus aus Verletzungen des Gerechtigkeitsgefühl entstanden sein können.

Offenbar kann mensch wahrnehmen, ohne die Spiegelneuronen zu aktivieren oder ihre Funktion abschalten. Ferner kann mensch Empathie empfinden, ohne sie erkennbar zu machen (Empathieparalyse) . Das bedeutet, dass es Hirninstanzen gibt, die Empathie ein- und ausschalten. Vor einer Daueremotionalisierung schützt sich ein Mensch, indem er empathische Regungen blockiert. Die Tätigkeit der Spiegelneuronen und die damit verbundenen Empfindungen unterliegen Zwecken, die individuell motiviert sind oder auf höhere Zwecke wie dem Überleben der Gruppe gerichtet sind. Sie können wahr oder Vorwand sein. Unter herrschaftlicher Bedrohung kann mensch einer großen Bevölkerungsgruppe jegliche Empathie versagen und sie in den Tod schicken, wenn die Entwertung von kollektiven Sündenböcken über Jahre propagiert wurde.

Dieser Mechanismus erhält seine Treibkraft aus dem Sozialen, so wie die gesamte Entwicklung von empathischen Regungen den sozialen Eigenschaften des Menschen entspringt. Das Soziale geht folglich der Empathie voraus und wird von ihr bekräftigt. Das Soziale ist allerdings keine unverrückbare Konstante, sondern modellierungsfähig. Die Reichweite der Empathie hängt somit von dem jeweilig erzeugten und vorherrschenden Sozialsystem ab. Individualisierung und Atomisierung, die mit der neoliberalen Orientierung bei uns eingezogen sind, haben eine sehr geringe Reichweite, möchten eine Spiegelung auf die Selbstverbesserung des Individuums richten, wollen den gespiegelten Narzissmus nicht verlassen und beziehen sich bevorzugt auf selbst entworfene , vor allem nützliche Kontaktpersonen.

Wo also steckt der Aspekt einer Sonde, einer Erkenntnismethode? Er steckt in der Bedeutung, die dem Sozialen beigemessen wird. Sind frühe Beziehungen unbefriedigend, entwickelt sich der Bezug zum Sozialcharakter ungenügend. Jede Form von Leistung und Wettbewerb befeuert die Konkurrenz der möglichen Sozialpartner, die eher eine Bedrohung im Kampf um den eigenen Marktwert darstellen. Der Wert eines Menschen zerfällt auf dem Markt der Optimierer. Das ist die neue Variante des Sozialdarwinismus.

Empathie bildet sich offenbar parallel zu moralischen Maßstäben und wird von ihnen durchdrungen. Daher enthalten empathische Regungen stets einen moralischen Kompass, der einer sozialen Orientierung in gleicher Weise dienen soll wie Kommunikation und Kooperation. Hierarchische Urteile werden seltener gefällt. Empathie weist auf das Offene einer zugelassenen Rationalität. Mensch sollte sich in seinem Urteil nie ganz auf empathische Regungen verlassen. In der empathischen Spiegelung ist bereits eine moralische Wertung enthalten. Erst dadurch gelingt der Empathie die Vermeidung der Zwickmühle des Urteils über „Gut“ und „Schlecht“ als Kommentar zu einer Erzählung. Empathie ist ein Kommentar. Es ist die spontane Unmittelbarkeit, die Empathie auf eine Erzählung oder Wahrnehmung hin auslöst, wenn die individuelle Empathie sich neuronaler Prägung mit ihren Netzwerken überlässt.

Es ist ein Charakteristikum unserer Gesellschaft, dass Empathie so ungleich verteilt ist wie Eigentum. Zahlreiche „Erfolge“ werden anerkannt, obwohl sie auf dem Verzicht von Empathie beruhen. Dadurch zerstören solche Erfolge die sozialen Anteile von vielen Menschen wie z. B. den Gleichheits - und Gerechtigkeitsgedanken. Dennoch werden empathische Menschen oft als „Gutmenschen“ diffamiert, weil aus ihren Gefühlen kein reaktives Handeln nach Nützlichkeitserwägungen erfolgt, vielmehr darüber hinausweist. Allerdings bedeutet Handeln im sozialen Raum immer auch Beschränkung der Empathie. Handeln kann, sollte aber nicht zu einem vielleicht nur geringen Verzicht auf Empathie im sozialen Raum führen. Das schert im kapitalistischen Anthropozän leider die Wenigsten.

Diskussionswürdig erscheint, was mensch in Zeiten einer Pandemie beobachtet: Das ist der vorsätzliche Verlust von Empathie von Querfühlern, sei es aus diffuser Angst oder aus Staatsverdrossenheit. Eine Brutalisierung und Rücksichtslosigkeit greifen um sich und erzeugen Angst vor einer Barbarei, die Slavoj Zizek* nicht in einer Regression in die offene Barbarei erkennt (obschon diese stets möglich erscheint), sondern eher in einer Barbarei mit menschlichem Gesicht, die sich dadurch auszeichnet, dass sie durch Expertenmeinungen Bedauern, sogar Sympathie mit Alten und Schwachen äußert, in Wirklichkeit aber die basalen Voraussetzungen unserer Sozialethik aufkündigt, nämlich deren aktiven Schutz und die Vermeidung einer Triage. Experten überhäufen uns bedrohlich mit Todeszahlen und Infektiösenzahlen, sorgen unbeabsichtigt für Spaltszenarien des Sozialen und sind nicht in der Lage, Vertrauen und gelassene Umsicht als Verzicht zu verbreiten. Die Politik schaut dabei zu, wie Experten Politik machen, ohne legitimiert zu sein.

 

* Slavoj Zizek (2020) Is Barbarism With Human Face our Fate? Critical Inquiry. Vol 47, No. 52: University of Chicago Press.