Risikofaktoren bei PTSD – Erläuterung zu einer Graphik

März 2, 2012

von Sepp Graessner

Vorbemerkung

Dieser Aufsatz wird sich mit der Rolle und der katalogischen Erweiterung von  Risikofaktoren bei der Ausbildung von posttraumatischen Belastungsstörungen befassen. Unter der Annahme, dass es nicht nur eine Belastungsstörung post Trauma gibt, sondern eine farbige Vielfalt, der man ein Etikett anklebt, soll zudem eine Prüfung der Argumente, des dahinter stehenden Gedankengebäudes und der einfließenden Interessen vorgenommen werden. Es ist allgemein anerkannt, dass es zahlreiche Typen posttraumatischer Befindlichkeiten gibt, die posttraumatische Belastungsstörung (als klinische Diagnose) wäre folglich nur eine gravierende davon. Nur letztere darf sich definitionsgemäß im klinischen Kontext entfalten. Jedoch, es drängen sich, seit die Anerkennung dieser Störung eine Verbindung mit materieller Entschädigung eingegangen ist, die meisten posttraumatischen Störungsbilder unaufhaltsam ins öffentliche Bewusstsein, und sie wünschen, die Diagnose PTSD zugesprochen zu bekommen. Sie ist die Voraussetzung für materielle Entschädigungen. Dies liegt nun vermutlich neben kollektiven Gefühlen von Angst und Unsicherheit und neben diffusen Gerechtigkeitsempfindungen an der Ausweitung von Risikofaktoren, die jenseits von einem traumatischen Ereignis die Entwicklung und Ausprägung einer posttraumatischen Belastungsstörung befördern. Die Vermehrung von einflussreichen Faktoren, die PTSD begünstigen, scheint inzwischen das ursprünglich als ursächlich angenommene traumatische Erleben aus ihrem alleinigen Zuständigkeitsbereich zu verdrängen. Es mündet in die berechtigte Frage: Ist das traumatische Ereignis für die Entwicklung der posttraumatischen Symptomcluster allein verantwortlich oder spielen vortraumatische und/oder posttraumatische Risiken eine wesentliche Rolle? Und was ist hiermit eigentlich gewonnen?

Anregendes Argument wider den spezifischen Charakter

Februar 21, 2012

von PTSD-Symptomclustern

von Sepp Graessner

 Zahlreiche Lehrbücher, Studien, populärwissenschaftlichen Publikationen und vor allem Zeitungen legen Wert auf die spezifischen Symptomcluster einer posttraumatischen Belastungsstörung, die nur nach extremen Traumata gleichzeitig, wenn auch mit einer gewissen Latenz auftreten und daher im Umkehrschluss beweisend seien für ein vorausgegangenes Trauma. Die Spezifität möchte ich anzweifeln, indem ich auf einen Prozess verweise, der in allen Gemeinschaften universelle Praxis ist.

Beim Erlernen, Anwenden moralischer Grundsätze, der Bildung von Gewissen, und bei deren Verstößen und Brüchen findet man eben jene Symptomcluster, die angeblich spezifisch für posttraumatische Belastungsstörungen gelten: Intrusionen, d.h. erstens situatives Wiedererleben konflikthafter sozialer Situationen, in denen Moral gelernt und oftmals mit Zwang, Drohung, Strafen über längere Zeiträume eingeübt wurde, und zweitens unwillkürlich einschießende Bilder, die von Emotionen begleitet sind, die jenen ähneln, die sich mit der Prozedur der primären Lernsituation von moralischen Grundsätzen verbunden hatten. Solche Emotionen, z.B. Angst, Lustgewinn aus Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft, Erregbarkeit, Erniedrigungsgefühle oder Wut, müssen nicht als bewusst erzeugte in Erscheinung treten. Sie können sich aus verborgenen Winkeln, aus Kellergewölben melden. Der Horror des Struwwelpeter zieht an einem vorbei: Jedes Vergehen gegen elterliche Maxime endet in einer veritablen Katastrophe.

Kleine satirische Nachtmusik

Februar 21, 2012

von Sepp Graessner

 Der US-amerikanische Anthropologe Allan Young hat als einsamer Rufer schon 1980 auf die Beziehung von Stressdiskurs und der wissenschaftlichen Reproduktion von allgemeinem Erleben und Wissen hingewiesen. Er hat zugleich, wenn auch nicht in vollem Umfang, die Tendenz von Psychowissenschaften beschrieben, durch kategorische Normen in Alltagswissen Grenzzäune einzuziehen, die im Bereich mentaler und psychischer Befindlichkeiten normal definierte Zustände von pathologischen trennen. Young hat sich in die Reihe der Skeptiker des klinisch angesiedelten Stressdiskurses gestellt und sich damit als Bedenkenträger gegen die posttraumatische Belastungsstörung zu erkennen gegeben. Aus dem einsamen Rufer ist heute ein Kammerorchester geworden, das den seriösen britischen Autor und Psychologen Christopher Brewin dazu veranlasste, die Geltungsmacht posttraumatischer Symptomcluster sowohl bei Befürwortern des Konzepts als auch bei Skeptikern zu sehen. PTSD sei heute keine uneingeschränkt gültige Diagnose. Obwohl Brewin sich zu den Befürwortern (saviors) zählt, räumt er den Argumenten der Skeptiker einen angemessenen Platz ein. Zuvor hatte Young noch erlebt, wie die wissenschaftliche Gemeinde seine Argumente einfach schweigend überging. Saviors und Skeptics ringen nicht um die Anerkennung traumatischer Erlebnisse – die sind unstrittig -, sondern um die breite Klinifizierung der Folgephänomene.

Norm und Anpassung

Februar 10, 2012

Rasche Gedanken zu einem Aspekt von Traumapolitik von Sepp Graessner

Immer wieder strande ich bei Überlegungen zu den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung an den Begriffen der Norm und des Normalen. Ich ereifere mich über Normierungen bei Kindern (ADHS) und will mich nicht abfinden, dass es notwendig sein soll, willkürlich Normales zu bestimmen und Normen des „gesunden Verhaltens“ zu definieren und von pathologischem Verhalten abzugrenzen. Während Industrienormen Konstruktionen erleichtern, kann ich den Sinn im diagnostischen Bereich auf den ersten Blick nicht erkennen. Sobald man aber die drastische Zunahme von pathologisch definierten Abweichungen des Verhaltens in den letzten 15 Jahren betrachtet, kommt einem spontan in den Sinn, hier werden Arbeitsplätze geschaffen. Da Arbeitsplätze zugleich ein Gewinn für Politik darstellen, erfährt die Ausweitung der Diagnosen von dort Unterstützung. Aber reicht diese Erklärung aus? Geht es nicht vielmehr um biopolitische Standards, die latent politisch befürwortete Schuldgefühle in den Bürgern wachrufen sollen, weil diese Schuldgefühle angeblich kreative Motive darstellen? Braucht es nach der Überwindung von Klassenschranken nicht neue Trennschärfe, die nun der Psychiatrie überlassen wird? Und ist die Psychiatrie wirklich geeignet, Grenzlinien in das menschliche Verhalten, vor allem bei Kindern, einzuziehen? Sie kann ja Normen nicht repressiv durchsetzen.

Notizen zu Traumapolitik

Januar 28, 2012

von Sepp Graessner

Ein schlagendes Beispiel für politische Intervention im Traumafeld ereignete sich im Juli 1999 im US-amerikanischen Congress. Dort wurde einstimmig eine Resolution verabschiedet, die eine Brandmarkung und Verurteilung eines wissenschaftlich ausgewiesenen Artikels zum Thema hatte. Rund zwei Wochen später befand auch der US-Senat einstimmig den wissenschaftlichen Artikel für „severely flawed“. Richard J. McNally, Psychologe an der Harvard-Universität, machte uns 2003 mit den Fakten bekannt. Das Interesse McNallys war es, neben dezenter Empörung zu zeigen, wie kontrovers die damaligen (und heutigen) Erkenntnisse im Traumafeld rezipiert und gesellschaftlich diskutiert werden.

Was war vorausgegangen? Die Autoren Rind, Tromovitch und Bausermann hatten eine Metaanalyse in der Fachzeitschrift „Psychological Bulletin“ veröffentlicht, in der sie ihre Ergebnisse einer Untersuchung von 59 Studien vorstellten, die sich mit Langzeitfolgen nach sexuellem Missbrauch befassten. Danach waren sie zum Urteil gelangt, dass im Vergleich zu nicht missbrauchten Personen diejenigen, die sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlitten hatten, nahezu dieselbe Anpassung geleistet hatten. Weniger als 1% der Abweichungen von psychologischer Anpassung waren auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückführbar. Das hatte riesige Empörung bis in die Talkshows ausgelöst, sodass sich der Congress zum Handeln aufgefordert sah. Dabei wurde verurteilt und gebrandmarkt statt gefragt. Es hätten sich zahlreiche Fragen angeboten. Sie wurden nicht gestellt. Man hätte z.B. die untersuchten Studien und deren Fragestellungen und Hypothesen unter die Lupe nehmen können, man hätte fragen können, wie viele der für eine Metaanalyse herangezogenen Studien von Männern und wie viele von Frauen angefertigt worden waren und wie die untersuchten Kollektive beschaffen waren. Rind et al. hatten sexuellen Missbrauch explizit verurteilt.

Cluster Vermeidung

Januar 18, 2012

1.Teil: Vermeidung
von Sepp Graessner

Vorbemerkung

In nicht ganz verbissener Form denke ich über den Katalog der Symptome nach, die sich zur Diagnose: „posttraumatische Belastungsstörung“ verdichten können. Rechthaberei liegt mir fern. Als Rentner kann ich sie mir zwar leisten, mit Rücksicht auf die vielen Praktiker und Praktikerinnen trete ich das Privileg aber bereitwillig ab, nicht aus Bescheidenheit, denn diese führt heute zu nichts, sondern aus guten Gründen. Wer über individuelle Phänomene, die Menschen zu Krankheitssymptomen erklären, nachdenkt, landet eher im tiefen Zweifel als in weiß bekleideter Sicherheit. Wer über den posttraumatischen Symptomkatalog grübelt und nicht andere grübeln lässt und nur Konzeptanwender oder Leser von Beipackzetteln ist, der wird Mühe haben zu urteilen und Zweifel zulassen müssen. Zunächst möchte ich den Begriff Vermeidung, und was er bedeuten mag, durchkneten. Man wird sehen, ob der Teig aufgeht.

Traumapolitik durch Dunkelziffern

Dezember 20, 2011

Sepp Graessner

Traumapolitik durch Dunkelziffern

Ein Aufruf

Traumapolitik liegt immer dann vor, wenn in spekulativer Weise Prognostik sich mit „Dunkelziffern“ verbindet. Hierbei scheint es sich um eine Nähe zur Wahrsagerei, zur Astrologie und Alchimie zu handeln. Eine öffentlich geäußerte Dunkelziffer setzt eine Dynamik in Gang, bei der zwar jeder weiß, dass es sich um Schätzzahlen handelt, im Alltagsgebrauch nehmen Dunkelziffern jedoch eine schlampig erzeugte Faktizität ein. Dunkelziffern und Prognostik bieten eine Sicherheit, der unsicheren Zukunft selbstbewusst entgegentreten zu können. Sie sind dann Argument und nicht nur Tendenz. Es kommt nicht auf 1000 Personen mehr oder weniger an, wesentlich ist die Tendenz von Personen, die z.B. Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch betreiben oder eben von traumatisierten Personen in einem Kollektiv, das von traumatischen Ereignissen betroffen wurde. Geschätzte Zahlen traumatisierter Menschen werden von Experten gern herangezogen, um einen therapeutischen Bedarf zu begründen oder zu effektiven therapeutischen Strategien aufzurufen, die wegen der großen und dunklen Zahl von Betroffenen vor allem kurz und ökonomisch sein sollen. Da heute zahlreiche Selbstbehandlungen über das informelle Internet stattfinden, muss dieses elektronische Medium zu den Experten gerechnet werden. Experten sind eine Gattung in permanentem Wachstum. Man traut sich nicht, das Ende des Expertenwachstums zu prognostizieren.

Überlegungen zum Begriff „kollektives Trauma“ in Südkurdistan

Dezember 20, 2011

Sepp Graessner MD –Vortrag vor südkurdischen TherapeutInnen, Berlin 2011

Überlegungen zum Begriff „kollektives Trauma“ in Südkurdistan

Zunächst als einschränkende Vorbemerkung: Das kollektive Trauma verstehe ich nicht als spontane Reaktion auf massenhaft auftretende Gewaltherrschaft. Vielmehr bilden sich der Begriff und seine erkennbaren Äußerungsformen in postdiktatorischen gesellschaftlichen Situationen. Ein Traumakollektiv von Menschen unter lebensbedrohlicher Repression kann sich postdiktatorisch verwandeln in ein kollektives Trauma. Meine Überlegungen beziehen sich daher nicht auf einzelne oder multiple Ereignisse, sondern auf die kollektiven Folgephänomene nach traumatischen Erlebnissen, die zugleich Formen der Verarbeitung darstellen. Im Begriff des Kollektiven ist bereits die Coping-Strategie enthalten. Diese liegt wesentlich auf der Bühne des Sozialen, das mit Akteuren wie „kollektives Gedächtnis“ und „kollektive Trauer,“ nicht zuletzt mit „kollektiver Widerstand“ und „kollektive Ressourcen“ operiert. Wie man kollektives Trauma versteht, hängt davon ab, ob man das traumatische Ereignis oder die traumatischen Folgen fokussiert. Das Trauma als dauerhafte seelische Verletzung tritt nicht nach jedem traumatischen Ereignis ein. Gleichwohl kann man in den allermeisten Fällen von schockartigen Erschütterungen sprechen.

Internet-Therapie – Probleme und Mängel (2007)

Januar 14, 2011

 von Sepp Graessner

Nach den Überlegungen Derridas zur Autoimmunität des Menschen, der von den Produkten und der Technik, die er herstellt, am Ende aufgezehrt wird, ließe sich das Internet auf seine selbst zerstörerischen Impulse untersuchen. Internet-Therapie kann als Beispiel für die Zerstörung menschlicher Kommunikation durch „gute Absichten“, die Erleichterung herstellen sollen, gedeutet werden. Fast jede Technikinnovation verfolgt die Ziele der Lebenserleichterung für einige, wobei zwangsläufig Kollateralschäden durch Benachteiligung und Zugangsbeschränkungen vieler auftreten, was wiederum den Eindruck der Autoimmunität verstärkt, weil bereits die Idee der Technik von autoimmunen Impulsen durchdrungen ist. Die Zauberlehrlinge von heute halten keinen Besen; sie sitzen hinter einem Computer.

Traumatisierte Zeit ?

Dezember 27, 2010

von Sepp Graessner

Die folgenden Zeilen mögen als Anregung dienen, über das komplexe und komplizierte Thema „Trauma und Zeit“ nachzudenken. Praktikerinnen wissen, dass sie oftmals mit der „Zeit“ therapieren, zuweilen auch gegen die „Zeit.“ Dass es  jedoch  mit Bezug auf Zeit ein Schema in Menschen gibt, das nachhaltig durch extreme Traumata wie z.B. Folter beschädigt werden kann, ist eher selten Gegenstand von Überlegungen und Beobachtungen. Das Zeiterleben in einem Zeitschema wird stets als Konstante vorausgesetzt. Hier werden daher zur Diskussion einige Aspekte vorgestellt, die mir bei der Reflexion meiner eigenen Praxis begegnet sind. Meine Überlegungen verzichten auf Beispiele und Zitate, gleichwohl gehen zahlreiche Lektüren in diesen Beitrag ein.

 Die Zeit ist nichts, was den Menschen und ihrem psychischen Erleben äußerlich ist. Zeit ist als Prozess in allen sinnlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf Wahrnehmungen enthalten. Daher ist Zeit als Schema nur als Prozess zu verstehen und nicht nach dem isolierten Kausalitätsprinzip, wonach ein isoliertes, plötzlich einbrechendes (z.B. traumatisches) Ereignis für langfristige Folgephänomene verantwortlich zu machen ist, ohne dass weitere (frühere oder spätere) Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssten.