Einige Essentials zu interkultureller Psychotherapie

Oktober 28, 2016

 

                               von Sepp Graessner

 

 

„Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man. Besonders deutlich wird dies in Gesellschaften ohne Schrift, in denen ererbtes Wissen nur in einverleibtem Zustand lebendig bleiben kann.“ (Pierre Bourdieu, 1999[i])

 

 

Nichts erscheint so schwierig wie die Psychotherapie mit Menschen aus anderen Kulturen, deren Grundmuster für soziale Organisation, Krankheitsbegriffe oder Heilverläufe, von der Sprache ganz abgesehen, unbekannt sind und in den meisten Fällen bleiben. Zugleich kann es ein Person stärken, wenn sie mit Phantasien, Assoziationen und Transformationen eine unbekannte Kultur zu erfassen versucht.

Wenn man als Therapeut Zwänge vermeiden will, steht man zu Beginn ziemlich nackt da. Klassifikationen, Diagnosen, Methodiken und routinierte Settings setzen sich leicht dem Verdacht aus, Unterordnung zu fordern und Zwang[ii] auszuüben, hinter denen positive Impulse der Hilfestellung und wohlmeinender Absichten verblassen können.

Im Folgenden werden aus praktischer Tätigkeit, Erfahrung und Reflexion einige Essentials destilliert, die zu beachten sich im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen und Asylbegehrenden bewährt haben. Sie sind sehr allgemein formuliert und bilden eher einen Rahmen für Begegnung als konkrete Therapiehinweise. Wer Rezepte in diesem unbekannten und undurchsichtigen Terrain wünscht, der wird wohl enttäuscht sein. Ich betrachte den kurzen Text als Anregung für eigene Beobachtungen.

Probleme einer expandierenden Diagnose oder schlicht condicio humana?

Januar 18, 2016

                

                                      von Sepp Graessner

 

 

PTSD seems a tailor-made diagnosis for an

age of disenchantment and disillusionment.

(D. Summerfield, 2001)[i]

If mental disorders were listed on the New York exchange,

PTSD would be a growth stock to watch. (P.R. Lees-Haley 1986)[ii]

 

Einführung:

 

    Manche Denker sagen, die Wissenschaft entdecke eine Welt, die bereits vorhanden ist. Andere wiederum meinen, dass die Wissenschaft in Wirklichkeit gar keine bereits vorhandene Welt entdecke, sondern eine solche Welt (mehr oder weniger) erfinde, besonders wenn es um beobachtete Interdependenzen von und fabrizierte Gesetze für sehr komplexe Phänomene geht.

     Das psychische Trauma hat es ja immer schon gegeben, es hieß zumeist Katastrophe, Drama, Unglück, Heimsuchung, Krieg, Willkür und konnte in eine postdramatische Störung münden. Erst seit 35 Jahren existiert mit der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, PTSD) eine Diagnose, zu der sich die „Erfindergenerationen“ im 19. Jahrhundert noch nicht durchringen konnten, vielleicht weil sie der Meinung waren, dass die posttraumatische Symptomatik keine sicher von anderen psychischen Störungen abgrenzbare Entität sei oder sie andere Traumaaspekte in den Vordergrund rückten oder die traumatische Neurose den Sachverhalt am besten ausdrücke. Sie waren noch der Beschreibung individueller Leidensgeschichten verhaftet, kannten wohl noch nicht die Tücken der Statistik, konnten sich noch auf ihre Beobachtungen verlassen, nahmen ihre Wirkungen bei sich und ihren Patienten ernst und hüteten sich vor allzu schnellen Verallgemeinerungen. Vor allem aber wussten diese Generationen, dass jede neue Begriffsbildung in der Diagnostik ein abstraktes Gebilde ist, das seine Existenz den Teilen verdankt, die ohne explizite Bedeutung oder unbewusst bleiben, so dass man sagen kann, die bewusste „Erfindung“ und der bewusste Gebrauch eines neuen Begriffs macht vieles unbewusst, was in Abgleichungsprozessen unberücksichtigt oder marginal geblieben ist. Daher ist der Begriff PTBS, wenn er denn in der heutigen Form erhalten bleibt, ein stets neu zu belebender Prozess und kein Absolutes oder Wahres. Diese Vorläufigkeit widerspricht zudem dem Universalitätsanspruch der Diagnose, außer man nimmt überall im menschlichen Universum dieselbe Abstraktionsfähigkeit und Bedeutungsaufladung an.

Und obwohl es um diagnostizierbare Veränderungen im menschlichen Organismus, d.h. biologische Prozesse, geht, denen Universalität zugesprochen wird, und nicht allein um abstrakte Begriffe, wird jeder einräumen, dass es ohne Begriffe keine realen Tatsachen gibt, über die und von denen man sprechen kann, d.h. im globalen Maßstab haben diagnostische Begriffe eine je eigene Bedeutung, die vieles ausschließt (was im Lateinischen eine der Bedeutungen von abstrahere ist). Die Etablierung der Diagnose PTBS macht zunehmend Schwierigkeiten, nicht so sehr für PraktikerInnen, die nicht primär die ursprüngliche Konzeption anfechten, sondern einfach anwenden. Forschungsergebnisse weisen jedoch oft in diametral entgegengesetzte Richtungen, so dass die Idee, Lebenswirklichkeit kreiere psychische Leidensphasen, die psychiatrisch erklärbar seien, zunehmend in soziale und enigmatische Kategorien entweicht und zur Ideologie werden kann, weil der wissenschaftliche und der populäre Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung nur scheinbar klar und präzise sind. Vielmehr glauben etliche Forscher, der Begriff sei widersprüchlich, transportiere auch viel Nichtpsychologisches, werde trotz oder wegen der Expansion hohler. Nur hohle Begriffe können ideologisch aufgeladen werden.

Dass negativ definierte menschliche Erlebnisse psychische Schmerzen und äquivalente Empfindungen und Antworten auslösen können, ist evident und unbestreitbar. Je intensiver und verwurzelter diese jedoch in normativen Bahnen verlaufen (sollen), desto so hellhöriger muss eine kritische Öffentlichkeit die Grundlagen der Konzeption in Frage stellen.

Einkreisung eines Phänomens

Februar 24, 2015

von Sepp Graessner

 

Viele Jahrzehnte erforscht die Wissenschaft das Phänomen Trauma, indem sie Ursachen und Folgewirkungen in unterschiedlichen Feldern untersucht, was befremdlich erscheint, weil der Fähigkeit zur Gewalt ebenso wie den Wirkungen von Gewalt ein psychischer Prozess zugrunde liegt. Die unbekannte Komplexität aller Faktoren, die Gewalt bedingen und Gewalt hervorbringen und andererseits die terra hemidemisemicognita der Gewaltwirkungen im Menschen, scheint diese Segmentierung nötig zu machen. Hammer und Amboss wird man jedoch weiterhin in einem Feld, in der Schmiede, suchen. Wenn man durch politische Praxis die Gewalt nicht bändigen kann, vertraut man gern auf den psychomedizinischen Komplex, weil er sich auf den Entsorgungsaspekt schrecklicher Ereignisse spezialisiert hat.

Seine Reputation bezieht der Traumabegriff vorrangig aus seiner Funktion als „Gleichmacher“ ersten Ranges, darin sehr ähnlich dem Begriff: Stress, zu dem es natürliche Beziehungen gibt. Vorsätzliches Trauma umfasst Täter und Opfer, Arme und Reiche, Kluge und Dumme, Herren und Knechte, weil alle, indem sie (durch Gewalthandlungen) Qualitäten ihrer Menschlichkeit einbüßen, im psychologischen Sinne Schädigungen aufweisen. Wenn also allein die Verluste und deren psychophysische Folgen fokussiert werden, ist es schwer, die Ursachen nach moralischen Kriterien zu differenzieren. Erst die umschriebenen Folgen von Gewaltakten mobilisieren Fürsorge, Empathie und therapeutische Korrektur, allerdings mit selektivem Blick: hierarchisch gegliedert bringen wir diese Eigenschaften zum Ausdruck und verströmen sie auf z.B. misshandelte Kinder, Geiseln, Soldaten, Bettler, Flüchtlinge (in dieser Reihenfolge). In gewisser Weise ist der Traumabegriff ein Gleichmacher im Unsichtbaren, der besonders auffällig mit der ökonomischen Ungleichheit, d.h. im sichtbaren Bereich, kontrastiert. Den Zugang zu unsichtbaren Prozessen hat die Psychiatrie/Psychologie von religiösen Ritualen übernommen.

Folter und Gedächtnis – Erinnerungsmedizin gegen den Missbrauch des Gedächtnisses (1999)

Juni 18, 2014

 

 

Folter und Gedächtnis – Erinnerungsmedizin gegen den Missbrauch des Gedächtnisses (1999)

von Sepp Graessner

 

 

Kognitive Fähigkeiten  (sind) untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozeß des Gehens erst entsteht. Daraus folgt, daß meine Auffassung der Kognition nicht darin besteht, daß diese mithilfe von Repräsentationen Probleme löst, sondern daß sie vielmehr in kreativer Weise eine Welt hervorbringt, für die die einzige geforderte Bedingung die ist, daß sie erfolgreiche Handlungen ermöglicht: sie gewährleistet die Fortsetzung der Existenz des betroffenen Systems mit seiner spezifischen Identität.

(F.J. Varela, Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik, S. 110)

 

Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastrationen), die grausamen Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.

( F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II,3)

Folter, Misshandlung und zur Funktion von Regression

Juni 10, 2014

 

        Folter, Misshandlung und zur Funktion von Regression

 

                                      von Sepp Graessner (2005)

 

Vor rund 10 Jahren habe ich den folgenden Beitrag geschrieben. Er hat deshalb nicht an Aktualität eingebüßt, weil die neuen Techniken zur so genannten Bekämpfung innenpolitischer Auflehnungen und Revolten Politiker in vielen Ländern zur Klärung der Frage, was Folter, was Misshandlung und was legitime Gewalt des staatlichen Monopols sei, veranlasst hat. Zu den neuen Techniken zählen solche, die mit Schall- und Mikrowellen oder mit Elektroschockern und Klebstoffen operieren. Ihre Untersuchung in Laboren und eine Freilanderprobung sind weit vorangeschritten und werden von einer Öffentlichkeit kaum beachtet. Terrorattacken weiten sich aus, und der „Krieg gegen den Terror“ wird angeblich reaktiv immer weiter ausgedehnt. Eine Rüstungsspirale ist längst in Gang gekommen, die widerständiges Verhalten einkreist. Die Debatte um Folterungen in Irak und an anderen Orten und die damit verbundene Aufweichung der Kriterien, die Folterhandlungen zu relativieren versuchen, macht eine Neuaufnahme der Diskussion notwendig, die sich nicht allein unter juristischen Experten abspielen darf. Denn es gibt nach meiner Auffassung keine Unterscheidung zwischen Misshandlung und Folter, sieht man einmal vom Status der Täter ab, was für die Folgen bei den betroffenen Opfern kaum Relevanz erzeugt.

Gesichter des Traumas

März 4, 2014

         

-Skeptische Überlegungen-

 

       von Sepp Graessner

 

 

Trauma und hier vornehmlich das Psychotrauma sollen auf seine Bedeutung, Anwendung, Expansion und Definitionen befragt werden, weil, wie mir scheint, eine ungenaue oder schwammige Beschreibung Raum für unterschiedliche Interessengruppen lässt. Darunter sind sowohl Experten der Erinnerungskultur als auch Psychopharmakologen und Berufsverbände zu verstehen, die als intensiv operierende Lobbyisten das Ohr der Politik verkleistern. (An anderer Stelle habe ich mich zu der Frage geäußert, welcher wissenschaftlichen Disziplin das Psychotrauma „gehöre“ und wer Zugriff fordere: Der Hirnforscher ebenso wie die Kulturwissenschaftler, die Psychiatrie, die Rechtsprechung mit forensischen Gutachten und die Psychologie mit ihren zahlreichen therapeutischen Schulen.) Die Folgen traumatischer Erlebnisse werden hier nicht bestritten. Sie sind so real wie die Tatsache, dass kein Tag dem nächsten gleicht, weder in der allgemeinen Großkonstellation noch in der individuellen Wahrnehmung. Trauma wurde und wird zu einem Gebiet und einer forscherischen Fragestellung, in denen das subjektive Erleben objektiven Kriterien unterworfen wird. Ich habe mich immer gefragt, ob dies überhaupt ohne Willkür möglich ist und ob damit nicht im universalen Maßstab eine Homogenisierung des Subjektiven angestrebt wird, die Vielfalt auszulöschen geneigt ist. Meine Skepsis richtet sich gegen diese Tendenzen, die sich mit einer Unzahl an Büchern und Publikationen zu Wort melden.

Traumatische Erlebnisse bei Soldat(inn)en der Bundeswehr und ihre Integration nach Auslandseinsätzen

Februar 16, 2014

 

Einige Anmerkungen zu einer Querschnitts- und Längsschnittstudie über die psychosoziale Lage bei Bundeswehr-Soldaten nach Auslandseinsätzen

 

                                                           von Sepp Graessner

 

Zahlreiche Studien zur Epidemiologie, Inzidenz und Prävalenz von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) bei umschriebenen Gruppen und Risiken scheinen für sich zu sprechen. Ob dies so gerechtfertigt ist und ob Erkenntnisgewinne aus solchen Studien resultieren, ist nicht so eindeutig, weil eine Reihe pathogener Faktoren und Einflüsse, die eine Beziehung zwischen Erlebnissen und diesen Erlebnissen zugeschriebener Folgesymptomatik herstellen könnten,  aus ihren Kontexten genommen und für irrelevant (mit oder ohne manipulative Intention) gehalten werden. Dazu zählen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr neben persönlichen Motiven und Intentionen der politischen Führung auch individuelle biographische Prägungen, das Verhältnis zu Autoritäten, Drängen von Bündnispartnern, fehlende UN-Beglaubigungen und präzise Aufgabenbeschreibungen, Wandel der Ziele, Unklarheit über die Dauer des Einsatzes (der Afghanistan-Einsatz ist inzwischen doppelt so lang wie II. Weltkrieg) usw. Wenn es um Verstehen von Realität geht, kann man solche Großkontexte nicht beiseite lassen. Auch solche Großkontexte bilden sich im psychischen Erleben und Verarbeiten von Soldaten ab, ja sie bilden oftmals die Leitplanken des Handelns. Vielfach gewinnt man den Eindruck, dass lediglich der enge Kontext personaler Beziehungen prägende Wirkung entfalten kann und nur dieser Kontext Gewissheiten und Motive repräsentiert, die traumatisiert werden können.

 

Als Grundlage dieser Anmerkungen dienen ein Artikel im Deutschen Ärzteblatt (Heft 35-36, Sept. 2012) und die ausführliche Version einer Presseinformation vom 26.11.2013 zur Längsschnittuntersuchung, die als Folgestudie zur vorausgegangenen Querschnittsstudie betrachtet wird. Ferner tritt exemplarisch als Reaktion der Presse die Berliner Zeitung vom 27.11.2013 hinzu. An diese Publikationen richten wir unsere Fragen und Bedenken.

Beiläufige Überlegungen zu Traumata, Psychoindustrie und posttraumatischen Störungen

Dezember 7, 2013

                                           von Sepp Graessner

 

 „Das Bewusstsein, das der Kranke von seiner Krankheit hat, ist absolut original. Sicher ist nichts so falsch wie der Mythus von der Krankheit, die nichts von selbst weiß; der Abstand zwischen dem Bewusstsein des Arztes und dem des Kranken ermisst sich nicht am Abstand zwischen Kenntnis und Unkenntnis der Krankheit. Es ist nicht so, als stünde der Arzt auf der Seite der Gesundheit, die alles Wissen über die Krankheit besitzt, und der Kranke auf der Seite der Krankheit, die nichts von sich selbst weiß, nicht einmal ihre Existenz. Der Kranke erkennt seine Anomalie und gibt ihr zumindest diese Bedeutung, dass er durch einen unaufhebbaren Unterschied vom Bewusstsein und von der Welt der anderen getrennt ist.“ ( Michel Foucault (1968) Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt/M. S. 74ff)

 

Zur Klärung: Posttraumatische Störungen sind keine „Geisteskrankheiten“, obwohl sie von Psychiatern, ihren diagnostischen Manualen und Lehrbüchern eingemeindet wurden. Ich sage aus Überzeugung dagegen, dass sich reale posttraumatische Störungen in das psychiatrische und psychologische Denken verirrt haben und zwar in derselben Weise wie heute Sexualität und manche ihrer normabweichenden Spielarten, die hinsichtlich ihrer Erforschung der Soziologie zugeordnet werden sollten. Normen sind keine Naturgesetze, werden leider oft in dieser Weise benutzt. Wo immer Normen im Spiel sind, sollten Entstehungsgeschichte, Gebrauchsverlauf, Zwecke und Interessen sowie die hinter ihnen stehende Philosophie berücksichtigt und befragt werden. Davon kann bei schablonenhafter Anwendung eines Konzepts, das Fast-Food-Psychologie repräsentiert, nicht die Rede sein.