Fragen an den Prozess der Integration und Universalität traumatischer Erlebnisse
Februar 17, 2013von Sepp Graessner
Es besteht eine wechselseitige Verschränkung von Integration und Abwehr. Der traumatisierte Mensch kann sowohl integrieren als auch abwehren, Erlebnisse hereinlassen oder sein Inneres schützen und bewahren. Dieser Mensch verfügt also über beide Potenzen. Welche Option er im Angesicht von Bedrohung und Gewalt wählt, hängt nicht von seinem Bewusstsein ab. Er kann wohl auch Anteile des Bedrohungserlebnisses zugleich integrieren als auch abwehren. Beides sind aktive Beschäftigungen mit dem Reiz. Welche Form der Reaktion ergriffen wird, welche Sofortmaßnahmen in Gang gesetzt werden, das entscheidet der ganze Körper, nicht nur das Hirn.
Integration traumatischer Inhalte gilt allgemein als Ziel einer spontanen oder therapeutisch gestützten Bearbeitung. Ist ein Trauma integriert, d.h. von Bewusstsein durchdrungen, verliert es im optimalen Falle seine quälende Wirkung. Integration bedeutet nicht Vergessen oder Verdrängen. Mit der eindeutigen (selten!) Integration traumatischer Erlebnisse kann auch die Abwehr als abgeschlossen betrachtet werden. In welches Bild, in welchen stofflichen Rahmen wird das Erlebnis integriert? Was ist schon als gegeben vorausgesetzt, damit es zur Integration von „Überwältigendem“ fähig ist? Weltbild, Überzeugungen, Persönlichkeit, Identität? Alles zusammen? Hier sind noch viele Fragen ohne überzeugende Antwort, wenn man die unterschiedlichen Phänomene posttraumatischer Befindlichkeiten zugrunde legt. Es sind ja die unterschiedlichen Verläufe von Abwehr und Integration, die zu Fragen Anlass geben. Darunter die Frage, wie viel Bewusstsein eine Integration traumatischer Erlebnisse braucht. Das Geheimnis der vielschichtigen Verläufe posttraumatischer Symptomatiken wird in unterschiedlichen Präformationen gesehen. Es gibt also Menschen, die auf dieselben bedrohlichen äußeren Ereignisse mit differenzierender Integration und Abwehr antworten. Bei einigen Betroffenen scheint das Mischungsverhältnis von Integration und Abwehr eine Ausbildung posttraumatischer Symptome zu vermeiden oder abzuschwächen, während andere von der Wucht der Erlebnisse (als mechanisches Bild) umgeworfen und zur multiplen Symptombildung gedrängt werden. Die Vielfalt der symptomatischen Verläufe scheint einer Homogenisierung in Systematiken zu widersprechen.