Kategorie: News
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Nachruf auf einen lieben Kollegen und meinen Mentor Dr. med. Sepp Graessner (1943 – 2022)
Juni 9, 2022
Nachruf zum Tod von Dr. med. Sepp Graessner, Gründungsmitglied des
Behandlungszentrums für Folteropfer e.V.
Von Dipl.-Psych. Ralf Weber
Nach langer Krankheit ist am 15. Februar 2022 im Alter von 78 Jahren Dr. med. Sepp Graessner
verstorben. Sein frühes Augenmerk auf die Leistungsmedizin während des Nationalsozialismus
und den Umgang mit Holocaustüberlebenden in der Nachkriegsära hatten ihn 1990
zum Engagement beim Behandlungszentrums für Folteropfer e.V. (BZFO) geführt. Als Gründungsmitglied
und Mitarbeiter wurde er eine der prägenden Säulen der Einrichtung, die sich
Jahre später in Zentrum Überleben gGmbH umwidmete. Seine klinische Tätigkeit begann
Sepp Graessner (geb. 1943) im BZFO als niedergelassener Arzt, Notfallmediziner, Tropenmediziner
und Hygieniker. Jedoch verstand er sich in seinem beruflichen Handeln auch als
Sozialmediziner, Psychologe, Therapeut, Dozent, Ethiker, Ausbilder und Menschenfreund.
Seine berufliche Tätigkeit war dabei stets getragen von einem gesellschaftspolitischen Impetus:
Es ging ihm um die Verbesserung der Lebensbedingungen von traumatisierten Menschen,
auf wissenschaftlicher Basis und weniger um Rechthaberei oder Ruhm. Ich habe Sepp Graessner
bei meinem beruflichen Einstieg 1994 in das BZFO kennen gelernt und habe ihm persönlich
viel zu verdanken. Sein Engagement und seine Courage, seine Authentizität, seine
Leidenschaft und Hartnäckigkeit, mit der er die Anliegen der ihm anvertrauten Patient*innen
vertrat, bleiben mir stets in vorbildlicher Erinnerung.
Zur so genannten Überlebensschuld
Januar 28, 2022In der Behandlung von extrem Traumatisierten kann man mit Äußerungen von Patienten konfrontiert werden, sie fühlten sich schuldig, weil sie dauerhafte Lebensbedrohung, Entwürdigung und Misshandlung überlebt hätten, während andere in derselben Situation der Ohnmacht durch Gewalthandlungen und Machtmissbrauch gestorben seien. Solche Äußerungen werden z.B. von Überlebenden des Holocaust, Überlebenden von Bergwerksunglücken, Überlebenden von Amok, Massentötungen oder Erdbeben autobiographisch, literarisch oder Zeugnis ablegend gemacht. Ich habe sie nicht von außereuropäischen Patienten gehört. Ich habe sie auch nicht von gefolterten politischen Gefangenen gehört, obgleich sie tief erschüttert waren (und blieben), wenn in ihrer Zelle andere Gefangene an Misshandlungen starben oder bei bewaffneten Überfällen des Wachpersonals auf Zellentrakte ermordet wurden. Statt eines Schuldgefühls wurde eher die Verpflichtung formuliert, die Anliegen der Verstorbenen fortzuführen.
Objektives traumatisches Ereignis?
Januar 8, 2022
Die Forderung steht im Raum: die Forderung von DSM-5 und ICD11 nach einem objektiven traumatischen Ereignis, das die Folgewirkungen für PTBS spezifisch hervorruft. In einer Welt, die kausale Erklärungen für Ursache-Wirkungs-Relationen bevorzugt, kann es durchaus dazu kommen, dass ein ungenügendes Verhältnis von dem verursachenden Ereignis zu den Folgephänomenen hergestellt wird. Menschliche Körper offenbaren kausale Erklärungen, wenn es um den Stich mit einem Messer (Stichwunde) oder dem Schlag mit einem Hammer (Quetschwunde) geht. Bei psychischen oder psychosozialen Verletzungen ist genauso wie bei physischen die Beschaffenheit der vulnerablen Textur von Bedeutung. Das bedeutet, beim Psychotrauma kommen stets zwei Ursachen in Betracht: die Gewalt und die individuelle Verletzungsbiographie und Resilienz als Resonanzkörper , in dem ein traumatisches Echo, das traumatische Gedächtnis, nachwirkt. Dies ist eine Binsenwahrheit, die für die unterschiedlichen Verläufe nach Gewalteinwirkung verantwortlich ist. Unterschiedliche Verläufe beziehen Teilenergien auch aus Verdrängungspotenzen und nach Meinung von Expert*innen aus der Dissoziation.
Ergänzung Empathie
Dezember 31, 2021
(Warum weinen kleine Kinder, wenn sie andere Kinder weinen hören und sehen?)
In meinem Beitrag über „Empathie in komplexen Systemen“ habe ich vermutlich einen Akzent unberücksichtigt gelassen, der nicht nur im Alltagsleben sondern auch in der Psychotherapie eine besondere Rolle spielt: Empathie als Erkenntnismedium, als Sonde, als unspezifische Orientierung mit zuweilen spezifischen Komponenten.
Unter der Voraussetzung der Theorie von den Spiegelneuronen war stets die Frage nach den Inhalten oder Produkten dessen, was gespiegelt wird, für mich unaufgeklärt. Ist also gespiegelt, was ein Mensch erlebt, wenn er mit seinen Sinnesorganen auf andere Lebewesen gerichtet ist – das wäre phänomenologisch – oder ist in der Spiegelung bereits die individuelle Antwort auf Erlebnisse enthalten? Ist also die Spiegelung ein passiver Vorgang? Gleichsam als spontaner Empfangs- und Bewältigungsschritt, so dass man sagen kann, die Richtung der Erkenntnis führt einmal in die Umwelt, die Welt der Erlebnisse und der Kommunikation, und zum anderen in die eigene Wahrnehmung und ihre individuell bereitgestellten „Hirnmodule“. Empathie benötigt nicht die enge Verbindung zum Gerechtigkeitsgefühl, das gesellschaftlich formuliert wird. Empathie ist auf Leiden fokussiert, die durchaus aus Verletzungen des Gerechtigkeitsgefühl entstanden sein können.
Vorhang auf!
Dezember 23, 2021
Schimpfen als Alltagsbewältigung und Zeitvertreib
Die mit zahllosen Ängsten verbundene aktuelle Pandemie hat einen großen Vorhang vor die reale Wirklichkeit gezogen, wie es bei vielen Ängsten der Fall ist. Niemand mag die hinter dem Vorhang liegenden Realitäten ansehen, die sich zu den Pandemieängsten addieren würden. Wenn man den Vorhang öffnet, kommen unerwartete und erschreckende Bilder zum Vorschein.
Eins dieser Bilder ist die zerrüttete Verfassung des Staates und ihrer parteipolitischen Helfer. Die Politik hat im Rahmen des Neoliberalismus auf Sparmaßnahmen im Sozialsektor gesetzt (Austerität) und seine kreativen Gestaltungspotenzen in der Besenkammer verrotten lassen. Wenn heute noch etwas kreativ gilt, dann wird es weitgehend von einer und für eine Oligarchie und ihre Denkfabriken gemacht. Der Vorsorgestaat hat ausgedient.
Grundlegende Überlegungen zum Traumadiskurs
Oktober 20, 2021Eine kurze Zusammenfassung (2010- 2020) Zunächst finde ich ein Lob für die Wiederentdeckung des Psychotraumas, mit dem psychotherapeutische Behandlung begründet und ein innenpolitischer Effekt durch eine Verschiebung von Macht/Gewaltfolgen in den psychiatrischen Korpus erzielt wurde: Psychotrauma wurde zu einer Krankheit und…
Über den Genuss am Bösen
September 15, 2021„Der Ursprung des Bösen war immer ein Abgrund, den niemand ergründen konnte.“ (Voltaire, 1764)
Mit jedem menschlichen Handeln sind emotionale Qualitäten verbunden. Solche Begleitempfindungen können bei Verstößen, wenn sie ein moralisches Gerüst zur Grundlage haben, zu Schuldgefühlen führen. Sie können sich freilich, aktiv böses Handeln unterstellt, zu einem Vernichtungsgedanken und Vernichtungshandeln ausformen, die im Wiederholungsfalle Genuss versprechen, wenn Böses durch Geld, Karriereaussichten und öffentliche Anerkennung belohnt wird. Schuldfragen verbergen sich gern hinter Feinddenken und polemischen Ideologien, damit sie nicht quälen. Böses im öffentlichen Raum wird oft erfolgreich unsichtbar gemacht.
Mehrfach getroffene Soldatinnen der Bundeswehr
August 24, 2021
Bis in die Radionachrichten dringen Meldungen vor, die von einem vermehrten Behandlungsbedarf künden, der Veteranen des Afghanistan-Krieges betrifft, nachdem sie die chaotischen Szenen am Kabuler Flughafen gesehen haben. Die Bilder hätten „Retraumatisierungen“ ausgelöst. Diese Bezeichnung verweist auf einen falschen Gebrauch des Begriffs Retraumatisierung. Man könnte allenfalls von einer Aktualisierung von Angst sprechen. Aber auch diese essen Seele auf.