Einundzwanzigster Einwurf

August 5, 2018

 

 

„PTSD continues to serve a political purpose.“      (  Blog Fred C. Alford zu Trauma und PTSD, Januar 2017)

 

Zur posttraumatischen Belastungsstörung, zur somatischen Symptom-Störung (SSD) oder heute: somatische Belastungsstörung sowie weiteren seitenfüllenden Diagnosen im DSM-5, die mit Definitionen als Entdeckungen auftauchen, aber in dialektischer Weise wohl eher die Entdecker definieren, sollen hier einige Überlegungen ausgebreitet werden, die mich ins Grübeln versetzt haben. Besonders die SSD nimmt eine Stellung im DSM ein, die methodisch und von der Zuordnung etliche Fragen aufwirft. Es geht bei etlichen Diagnosen im DSM-5 um Sachverhalte, die scheinbar auf der Hand liegen und daher keinen Zweifel zulassen. Und was auf der Hand liegt, kann nicht nur von Zauberern zum Verschwinden gebracht werden. Manchmal reicht genaues Beobachten und das Befragen von Begriffen.

Beginnen wir mit einem Ausschnitt aus einem Abstract von 9 Autor*innen: It… (somatic symptom disorder, S.G.) „defines the disorder on the basis of persistent somatic symptoms associated with disproportionate thoughts, feelings, and behaviors related to these symptoms.“ Folgende Autor*innen, von denen ein Großteil aus dem biostatistischen Hause stammt, übernehmen die Verantwortung:

Dimsdale JE, Creed F, Escobar J, Sharpe M, Wulsin L, Barsky A, Lee S, Irwin MR, Levenson J. schreiben dies in ihrem 2013 veröffentlichten Artikel „Somatic symptom disorder: an important change in DSM“. (Journal of Psychosomatic Research, 75 (3) S. 223-228.)   

      Hier wird ziemlich wörtlich übernommen, was Robert L. Spitzer 38 Jahre zuvor im American Journal of Psychiatry 1975 132:11, 1187-1192 in einem Aufsatz:„Clinical criteria for psychiatric diagnosis and DSM-III“ formuliert hatte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang und wohl auch zu einem anderen Zweck. Er meinte u.a. auch PTSD, der er eine somatische Grundlage/Folge unterstellte. Er schrieb:

Zweiundzwanzigster Einwurf

August 4, 2018

 

 

Im folgenden Einwurf sollen nochmals die Entwicklung und phänomenale Ausbreitung des Traumadiskurses und der beteiligten Akteure anhand von Stichwörtern wie Rhizom, Netzwerke und Theoriebildung skizziert und in seinen diagnostischen und politisch-moralischen Implikationen lediglich kursorisch behandelt werden und vielleicht als Anregung dienen.

Die Theoriebildung wurde bei der Veröffentlichung des DSM-III bewusst vernachlässigt, als sich der moderne Traumadiskurs, der über rund 10 Jahre  eine Verbindung von Vietnamkrieg und dem Leiden der Veteranen herzustellen bemüht war, als „Wahrheit“ sich durchgesetzt hatte und neue Betrachtungen auf Opfer, Gewalt und vor allem auf die Folgen von willkürlich verursachten psychischen Verletzungen ermöglichen sollte und dies auch erreichte. Indem Symptome der Veteranen phänomenologisch beschrieben wurden, die sich dann zu einer Diagnose etikettierend verdichteten, konnte zwangsläufig auf eine Theorie verzichtet werden. Die innere und logisch wirkende Beziehung schien auf der Hand zu liegen: Die überfordernde Wahrnehmung von Gewalt und Lebensbedrohung bewirkte bei nahezu jedem Betroffenen akute oder chronische Symptome.

Zwanzigster Einwurf

Juni 21, 2018

  

Die sozialen Bewegungen der reaktionären Rechten saugen nicht nur die Ausdrucksformen der linken Protestbewegungen auf – vor fünfundzwanzig Jahren hielten sie sich noch schamhaft in Sälen auf, heute machen sie Sit-ins, organisieren Begehren als „Volksbegehren“, provozieren in grober wahrheitswidriger Weise und gehen gegen die Eliten auf die Straßen – sie stilisieren sich ergänzend auch als Opfer, die von einer bestimmten politischen Kaste und den „Fremden“ produziert werden, die, so hört man aus reaktionären Kreisen, über kein Bewusstsein der Bedeutung von Rasse, Reinheit und Rausschmiss verfügen.

Neunzehnter Einwurf

Juni 10, 2018

 

 

                                  Sepp Graessner

 

Rufen wir uns noch einmal ein Statement aus der Frankfurter Rundschau vom 23.11.1993 in Erinnerung. Da hieß es klug und weitsichtig vor 25 Jahren:

 

„Für jeden Menschen gilt, was Folterüberlebende im Exil in besonderem Maße betrifft: Entwurzelung und Orientierungsmangel, Sinnkrise und Zerfall der vormals organischen, natürlichen Gemeinschaften, erzwungene Mündigkeit angesichts von allzu vielen verschwommenen Optionen, all dies sind geschichtliche Kräfte, die der einzelne auch als persönliches Problem erfährt, deren Ursachen jedoch nicht primär in seiner individuellen Biographie liegen, sondern dieser vielmehr in umgekehrter Weise den Rahmen vorzeichnen.“

       

Bei Überlegungen zum Kern von Traumata sollten wir uns auf die im Zitat angesprochenen „geschichtlichen Kräfte“ einlassen, da von diesen geschichtlichen Kräften Motive und Handlungen ausgehen und begründet werden, die Wenige in Behaglichkeit, sehr viele aber in traumatisches Leiden führen. Diese geschichtlichen Kräfte liegen bis auf sehr geringe Ausnahmen nicht in der individuellen Biographie, sondern sie bilden den mit repressiven Maßnahmen ausgestatteten (staatlichen) Rahmen, in dem alltägliche und besondere Erlebnisse ausgehalten und bearbeitet werden müssen, und zwar ohne Einwilligung des Einzelnen und ohne seine unmittelbare Verantwortung. In diesem Rahmen, den wir leichtfertig Freiheit nennen, kommt es im Laufe der individuellen Entwicklung zur Begegnung mit Ressourcen der Bewältigung von alltäglichen und speziellen Stressoren; d.h. die Summe der Ressourcen ist nicht nur eingeengt, sondern auch unterschiedlich verteilt, weil es große und kleine, eiserne, goldene und hölzerne oder papierene Rahmen gibt, die den Spiel- und Leidensraum begrenzen.

Achtzehnter Einwurf

Mai 30, 2018

 

                                  vonSepp Graessner

 

Ich muss wohl noch einmal von vorne beginnen bei meinen Überlegungen zum Thema Trauma und einige Bemerkungen in Frage stellen. Immer wieder habe ich versucht, eine Definition von Trauma vorzulegen, was heute eher als unzureichend, ja unlogisch gelten muss. Die klinische Diagnose PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) habe ich in ihrer Brauchbarkeit, wie ich glaube, hinsichtlich des wissenschaftlich verwendeten Begriffs PTBS (oder komplexe PTBS) zu Recht heftig kritisiert. Was wohl falsch war, waren meine Bemühungen, mit sprachlichen Mitteln eine Definition von inneren Prozessen nach traumatisierenden Erlebnissen zu formulieren. Man kann einfach nicht einerseits behaupten, dass Traumata, d.h. posttraumatische (besser: poststressige) Verläufe extrem unterschiedlich verlaufen und an- und  abschwellen und andererseits eine Definition von Trauma aufstellen, welche die Differenzen nivelliert. Trauma ist Leiden, und Menschen können auf vielfältige Weise leiden. Man kann natürlich aus Erfahrung auslösende Konstellationen für innere traumatische Prozesse beschreiben, man wird aber nicht darum herumkommen, den Auslöser von den Folgen zu trennen, und nur die Folgen bestimmter Erlebnisse soll man Trauma nennen. Der oder die Auslöser heißen Stress, und es ist durch willkürliche Expertenmeinungen festgelegt, dass sich traumatischer Stress von gewöhnlichem Stress unterscheidet. Sprachliche Definitionen von psychischen Befunden und Verläufen sind zudem anmaßend, weil sie eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Sprachlosigkeit der Leidenden und der Sprachmacht nichtbetroffener Therapeuten unterstellen.

Siebzehnter Einwurf

Mai 22, 2018

 

Immer wieder frage ich, was das psychische Trauma in unserer Zeit zu einem Schlüsselbegriff des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses gemacht hat und was der Kern ist, der sich so großer Akzeptanz und Popularität in Diagnostik, Therapie und Kultur erfreut. Alle Elemente des Lebens werden in der Moderne psychologisiert: Politik, Ökonomie, Kunst, Sport, und vieles mehr, mit einem Wort: die Existenz des Menschen, seine Hindernisse und Verletzungen. Durch die Erfindung des Psychotraumas hat die Psychologie eine Aufladung oder Erhöhung erfahren, ohne transparente Eindeutigkeit zu gewährleisten; darin ähnlich intransparent wie die Religionen. Eindeutigkeit zu erlangen, ist mit Sprache sowieso nicht möglich. Wer immer in Regionen der Psychologie Antworten auf Probleme unserer Zeit sucht, lenkt sich von der Analyse ökonomisch-kapitalistischer Strukturen und der im Verborgenen agierenden Macht ab.

Vierzehnter bis sechszehnter Einwurf

Mai 16, 2018

 

     Vierzehnter Einwurf

 

          Sepp Graessner

 

Im Thieme-Verlagsmagazin (Archiv 2016) findet sich eine Besprechung der Forschungsergebnisse einer Forschergruppe um Frau Professor Anke Ehlers in Oxford/UK. Die Forschungen bezogen sich auf Risikofaktoren, die eine Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression begünstigen können und voraussagen lassen. Konkret richtete sich das Interesse auf so genannte Denkmuster. Diese Muster beziehen sich folglich in meinem Verständnis auf die Betrachtung der Stellung einer traumatisierten Person in der Welt (Realität) und darauf, welchen Stellenwert ein traumatisches Erlebnis und seine unmittelbaren reaktiven Affekte einnehmen. Beim Auftauchen von posttraumatischen Symptomen treten die Denkmuster einer traumatisierten Person mit denen Nichttraumatisierter in Beziehung und in Konflikte.

In verstärktem Maße beziehen sich Forschungen auf Risikofaktoren, deren Beherrschung durch präventive Maßnahmen eine länger währende posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Depression zu vermeiden oder abzumildern in der Lage sei. Aus dieser Tendenz lässt sich auch ein besonderes Interesse des militärischen Komplexes ableiten, der zunehmend Ausfälle für Kampfeinsätze durch posttraumatische Störungen registriert und sich um die nachfolgenden Invaliditätsrenten sorgt.

Zwölfter Einwurf und dreizehnter Einwurf

April 2, 2018

Zwölfter Einwurf

 

Angst ist Ursache und Folge von psychosozialen Verletzungen aus allen denkbaren Beziehungen zu anderen Menschen, die durch Abhängigkeit und Machtentäußerungen charakterisiert sind. Angst verteilt sich aber ungleich: Während Angst vor Machtverlust Gewaltspiralen in Gang setzt, ist Angst als Folge von Gewalterfahrungen auf der Seite der Machtarmen oder Ohnmächtigen gebündelt, die durch die Empfindung von Ängsten  in einem Konditionierungsprozess konstant an ihre Ohnmacht erinnert werden und zumeist ein opportunistisches Verhältnis zur Ohnmacht herstellen, indem sie sich an der Angstproduktion gegenüber Anderen oder Fremden beteiligen. Macht und Widerstand gegen Ohnmacht wären damit gleichzusetzen mit der Fähigkeit, Angst zu verursachen. Angst sucht sich Projektionswände, hinter denen sie sich verbergen lässt, wenn sie im aggressiven Gewande auftritt oder aufzutreten sich gedrängt sieht.

Siebter bis elfter Einwurf

Februar 18, 2018

 

 

Sepp Graessner

 

Die Mystifikation der/s Vergangenen und der Vergangenheit kann vielfältige Züge annehmen. Während in anderen Kulturen als der westlichen eine gewisse Sicherheit darüber herrscht, dass Ahnen, die verwandten Verstorbenen, die aktuellen Befindlichkeiten und Handlungen direkt beeinflussen, können es im westlichen Verständnis die traumatischen Verluste von Vorfahren sein, die als symptomatische Wirkungen im Inneren der Überlebenden andauern können. Beiden Auffassungen gemeinsam ist die Vorstellung, dass sich, was Menschen heute ausmacht, ihre Betrachtungen auf die Welt und die Dinge, die sie benutzen, auf Menschen, ihr Wissen, ihr Handwerk und ihre Intuition stützen, die vergangen sind. Die Vorfahren sind folglich immer präsent, als direkte oder moralnormative Eingebung oder als entfernter Schmerz oder einfach durch den Gebrauch von Gegenständen. Rituelle Kommunikation mit den Ahnen oder geliebten Menschen und Therapie des Schmerzes über den Verlust von nahen Menschen haben ihre Schnittpunkte im Glauben an die Wirkungen des Unsichtbaren und die Narrative über das Unsichtbare wie alle Religionen und die Psychotraumatologie. Man muss sich vorbereiten und sensibilisieren lassen, um das Unsichtbare zu sehen oder anderweitig wahrzunehmen. Jede/r wird   durch soziale Akte für das genealogische Kontinuum der eigenen Art sensibilisiert, selbst wenn man sich später durch rationale Entscheidungen von den Wirkkräften des/r Vergangenen abwendet. Es erscheint klar, dass ein rationaler Umgang mit Realität nie zu einem vollständigen Urteil werden kann, wenn nicht emotionale Einflüsse, die nicht vollständig sichtbar sind, berücksichtigt werden. An bedeutender Stelle wird dies durch Bezüge zum Vergangenen und zu den Vergangenen deutlich.

Sechster Einwurf

Januar 2, 2018

 

     Sepp Graessner

 

Einwürfe sollen einen Ball wieder ins Spiel bringen, der zuvor die definierte Spielfläche seitlich verlassen hat. Einwürfe als Texte und Gedanken wollen gleichfalls ins Spiel einbezogen werden, nachdem sie ins Aus gefallen sind. Wer zuletzt den Ball, den Gedanken oder die Reflexion absichtsvoll oder versehentlich nur berührte, sieht sich einem Einwurf gegenüber.

Unter den politischen Rahmenbedingungen für die Erfindung der Kategorie Psychotrauma und der psychiatrischen Diagnose PTBS mit detailliertem Symptomkatalog durch die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) sollte nicht übersehen werden, dass die Vorarbeiten und die forcierte Aufnahme der Diagnose in das diagnostische und statistische Manual mentaler Störungen (DSM) nicht nur mit der Endphase des Vietnamkrieges zusammenfielen und massive Auswirkungen auf die Betrachtung psychosozialer Probleme von Veteranen hatten.

Auch in der Konfrontationsphase des  „Kalten Krieges“ traten unterschiedliche Grundansichten über das Wesen des Menschen zu Tage, über moralische Haltungen und die Einflüsse der Politik auf psychische Prozesse. Wir meinen eine Periode, die hinsichtlich der Verhältnisse der Psychiatrie in der Sowjetunion einen Widerwillen, Empörung, ja Ekel bei westlichen Psychiatern erzeugten, die sich überwiegend auf Gerüchte, selten auf exaktes Wissen stützten. Propaganda und Gegenpropaganda sollten den jeweiligen Gegner als inhuman zeigen. In der Sowjetunion hatte die Psychiatrie – vor allem in Kliniken – die Aufgabe, abweichendes Verhalten medikamentös oder durch Wegsperren zu korrigieren oder zu verunmöglichen. Indem auch abweichende Meinungen und Äußerungen gegen die offizielle Linie in psychiatrische Kategorien gefasst wurden, entstand ein Schrecken erzeugendes Strafsystem. Zu den Details erreichten den Westen immer mehr Informationen, sodass sich Initiativen bildeten, die den Missbrauch der Psychiatrie durch den Sowjetstaat anklagend in die Öffentlichkeit trugen. Selbst wenn nicht explizit eine Praxis in Abgrenzung zur sowjetischen Psychiatrie entwickelt werden sollte, so bildeten die Ereignisse, die von Dissidenten berichtet wurden, eine hintergründige Konstellation, die als Motive für die Einführung von PTBS gedeutet werden können. Systemkonkurrenz war dem amerikanischen Kapitalismus ja nicht fremd. „Kommunisten“ waren überall und offiziell präsent, 15 Jahre nach McCarthys Verschwörungstheorien. Real aber waren die Sorgen, die durch die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979 ausgelöst wurden.